Lage der Juden im Exil
Walter Benjamin stellt in einem Brief an Stephan Lackner am 4. Juni 1939 folgende Überlegungen zur Situation im Exil und über die Selbstmorde von Juden in Wien an:
Lieber Herr Morgenroth,
Sie werden den ersten Umblick um die Stadt, wenn nicht den Kontinent, nun haben schweifen lassen. Es wäre nicht uneben, wenn mir von dem und jenem, was Ihnen so vor Augen kam, Kunde würde. Oder käme es Sie schwer an, einen solchen Wunsch zu erfüllen? hätte der Strudel des amerikanischen Tempos Sie schon ergriffen? Sogar in diesem Fall kann ich mir nicht denken, daß Sie lange darinnen würden umgetrieben werden, ohne auf gemeinsame Freunde zu stoßen. Das sollte Sie zu einigen Zeilen aufmuntern.
Sind Sie Gumpert bereits begegnet? Ich nehme es an. Wiesengrund? Ist Ihnen mein Freund Wissing in Boston vorgekommen? - Und haben Sie nun, nach dem russischen Bündnis (das uns die nächsten Tage ja wohl bringen werden) einen Termin Ihrer Rückkunft bereits vorgesehen? Die Kriegsgefahr dürfte mit diesem Bündnis ja wohl etwas gemindert zu erachten sein.
Ich kann, was mich betrifft, wenig Neues berichten; noch minder sehr zuversichtlich Gestimmtes. „Auch ohne“, beginnt Horkheimers letzter Brief an mich, „daß ich seit Ihrem letzten Brief von Ihnen gehört hätte, kann ich mir denken, daß Sie wegen der Zukunft begreiflicherweise beunruhigt sind.“ Dieser Satz gibt, wie Sie sehen, die Aussicht auf die düstersten Prospekte frei. Im übrigen enthält der Brief für mich keinerlei substantielle Neuigkeiten.
Mit gleicher Post habe ich Ihrem Vater geschrieben. Ich glaube, es wäre daran gelegen, wenn er die Begegnung mit Horkheimer herbeiführen wollte, falls das indessen nicht schon geschehen sein sollte. Ich würde in seiner Person doch figürlich acte de presence machen, und nichts wäre für mich verhängnisvoller als gerade jetzt durch Abwesenheit zu glänzen.
Ihrem Vater habe ich ein kleines französisches Manuskript, den Abriß eines Kapitels zum Baudelaire beigelegt. In der Tat habe ich es mit dem Französischen einmal bei einer Materie, die ich aus dem Grunde beherrsche, versuchen wollen. Wenn das Ergebnis nicht allzu entmutigend ausgefallen sein sollte, so würde das darauf hindeuten, daß beim Schreiben in einer fremden Sprache die Reserven an Stoff und Gedanken so groß sein müssen, daß sie die sprachlichen in der von Kindheit auf eignen - in der Muttersprache aufwiegen.
Die nächste Nummer von „Maß und Wert“ bringt einen Aufsatz über die Dramaturgie von Brecht, den ich vor nicht so langer Zeit geschrieben habe. Im übrigen beschäftigt mich der Baudelaire ausschließend. Das fläneur-Kapitel hat eine von Grund auf neue Armatur bekommen. Ich denke, daß Sie Interessantes darin ausfindig machen werden. Vor wenigen Tagen ist Josef Roth gestorben. Ich weiß nicht, ob die Todesart, die er gewählt hat - die konsequente Vergiftung durch Alkohol - weniger schrecklich ist als die, zu welcher sich Toller entschlossen hat. Man weiß hier übrigens nichts über die Umstände, die dem Selbstmord von Toller zugrunde liegen. Sind sie drüben bekannt?
Eine Historie, die ihren wahren Chronisten in Karl Kraus besessen hätte, kommt aus Wien: Man hat dort den jüdischen Haushaltungen, zumindest vorübergehend, das Gas gesperrt. Es wurde für die Gasgesellschaft zu teuer, jüdische Abonnenten zu beliefern. Sie verbrauchten zu große Mengen. Und da dies zum Zweck des Selbstmords geschah, so blieb die Gasrechnung nachher in vielen Fällen unbeglichen. -
Ich habe in den letzten Wochen viel Joubert gelesen. Das ist der letzte der großen französischen Moralisten; er hat zur Zeit von Chateaubriand gelebt. In ihm habe ich nicht nur einen der größten Meister des Stils, sondern auch einen der größten Theoretiker des schriftstellerischen Ausdrucks gefunden.
Was treiben Sie? beschäftigt Sie der Roman? der Kunsthandel? Wahrscheinlich beides und vieles andere mehr. Haben Sie einen Blick auf den Markt für Klee geworfen? Wenn Sie mir zum terme des 15 Juli eine kleine Beihilfe senden könnten, so wäre das hilfreich. Ich wollte hinzufügen: und freundschaftlich. Aber das könnten Sie so verstehen, als ob solche Stütze der Freundschaft zugute käme. Und das soll nicht gelten. (Ich mag und ich kann mich an Ihren Vater, wie ich Ihnen schon sagte, nicht wenden, solange er in so viel bedeutsamerer Weise um mich bemüht ist.)
Erika hat nichts von sich vernehmen lassen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen und heitern Sommer.
Bien ä vous 4 Juni 1939 Paris XV 10 rue Dombasle Ihr
Walter Benjamin
PS „Der preußische Friedrich“, auf den ich eben stoße, ist ein Gedicht, das mir sehr gefallen hat.