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Chronik und Quellen
1939
April 1939

Entwicklung der Emigration

Die Reichsstelle für das Auswanderungswesen berichtet am 25. April 1939 über die Entwicklung der Emigration in der zweiten Jahreshälfte 1938:

Betrifft: Auswanderung im zweiten Kalenderhalbjahr 1938.

Berichterstatter: Ministerialrat Dr. Müller.
Mitberichterstatter: Regierungsrat Flemke.

Die Inanspruchnahme der 12 größeren öffentlichen Auswandererberatungsstellen, die bereits im 1. Halbjahr 1938 einen bis dahin noch niemals gezeigten Umfang erreicht hatte, weist im 2. Kalenderhalbjahr 1938 nochmals eine Verdoppelung auf. Diese gewaltige Arbeitsmehrung ist ausschließlich auf den gestiegenen Auswanderungsdrang der Juden aus Deutschland zurückzuführen, die neben der Einholung von Auskünften über ihre zukünftigen Zielländer sich bei den öffentlichen Auswandererberatungsstellen auch eine Bescheinigung zur Erlangung eines Reisepasses mit Gültigkeit für das Ausland zum Zwecke der Auswanderung oder ihrer Vorbereitung erwirken mußten. Bei dem neuerlichen Judenansturm auf die öffentlichen Auswandererberatungsstellen hat es sich in zahlreichen Fällen gezeigt, daß die Auskunftsuchenden sich bis dahin überhaupt noch nicht mit dem Gedanken der Auswanderung befaßt hatten.

Im 2. Kalenderhalbjahr 1938 sind über 50 000 Bescheinigungen an Juden zum Zwecke der Erlangung eines Passes ausgestellt worden. Tausende von Anträgen mußten, da auswanderungsreife Pläne von den Juden nicht nachgewiesen werden konnten, abgelehnt oder zurückgestellt werden. Die Gesamtzahl der Ratsuchenden ist von 57749 im 1. Kalenderhalbjahr 1938 auf 112513 im 2. Kalenderhalbjahr 1938 = um über 94 v. H. gestiegen. Die Auswandererberatungsstellen hatten zahlreiche Gutachten für die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern, die Deutsche Golddiskontbank und die Kontrollstellen der Banken zur Freigabe von jüdischen Effekten für die Auswanderung abzugeben.

Die Zahl der beratenen Arier (rund 23 000 im 2. Kalenderhalbjahr 1938) ist gegenüber dem 1. Kalenderhalbjahr 1938 um etwa 11 v. H. weiter zurückgegangen. Die Zusammensetzung der arischen Anfrager war die gleiche wie im 1. Kalenderhalbjahr 1938. Es handelte sich wieder vielfach um jüngere Leute wie z.B. Kaufleute und Ingenieure, die Erfahrungen in ihrem Fache in ausländischen Betrieben sammeln und Fremdsprachen lernen wollten. Die weiblichen Anfrager strebten hierbei nach einem Unterkommen in Haushalten als Hausgehilfinnen, Haustöchter, Hauslehrerinnen oder als Krankenpflegerinnen. Zu den Ratsuchenden gehörten hin und wieder auch junge Mädchen, die auf Grund ihrer bestehenden Verbindungen sich ins Ausland in der Regel an Deutsche verheiraten wollten. Vereinzelt erkundigten sich auch einzelne Handwerker oder kleine Landwirte, die nicht mehr Erbhofbauern werden konnten, nach den Aussichten und Möglichkeiten, sich draußen zur Selbständigkeit emporarbeiten zu können. Die Hauptzahl der Fragesteller entfiel auf die deutsche Jugend, die immer wieder neben ihrem Ausbildungsdrang sich nach einem Unterkommen in den deutschen Kolonien erkundigte, um sich dort mit am Aufbau betätigen zu können. Nur in vereinzelten Fällen wurden gesundheitliche Gründe für das Streben nach dem Auslande angegeben. Vereinzelt erkundigten sich Rückwanderer aus überseeischen Gebieten, denen ein dauerndes Einleben in die deutsche Volkswirtschaft bisher nicht recht geglückt war, nach Unterkommensmöglichkeiten in ihren früheren Zielländern. Sie wurden ebenso wie Handwerker, Landwirte und Hausgehilfinnen auf ihre nationale Pflicht hingewiesen, ihre Kräfte im Inlande in den Dienst der Heimat zu stellen. Die arischen Anfrager zogen, insoweit es sich um überseeische Länder handelte, in erster Linie Erkundigungen über die Fortkommensmöglichkeiten in den Vereinigten Staaten von Amerika, Argentinien, Brasilien und Paraguay ein. Manche von ihnen waren von ihren dortigen Bekannten oder Verwandten gerufen worden. In Einzelfällen strebten die Arier auch nach Chile, Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland. Die Nachfragen nach den deutschen Kolonien sind im 2. Kalenderhalbjahr 1938 gegenüber dem 1. Halbjahr bedeutend zurückgegangen. Deutsch-Südwestafrika wies 630 (gegenüber 1211), Deutsch-Ostafrika 568 (108a), Kamerun 85 (246) und Togo 20 (90) Anfragen auf.

Die jüdischen Auswanderungswilligen erkundigten sich nach Ländern, wo ihrer Einwanderung die geringsten Widerstände entgegengesetzt wurden, und nach Palästina, wo der Vermögenstransfer für sie noch am günstigsten war. Von den 12 größeren Auswandererberatungsstellen wurden im 2. Kalenderhalbjahr 1938 (= II/38) Auskünfte (fast ausschließlich an Juden) erteilt über die Vereinigten Staaten von Amerika abgerundet 28000 (gegenüber 15000 in I/38), Groß-Britannien mit Irland 10300 (2900), die Niederlande 9300 (3000), Palästina 8300 (6000), China 4300 (100), Frankreich 3300 (1300), Neuseeland und Ozeanien 3200 (100), die Schweiz 2300 (1100), Belgien 1700 (700), Italien 1500 (2400), Schweden 1100 (400) und die Tschechoslowakei 1000 (1200). Es fiel auch in diesem Kalenderhalbjahr stark auf, daß, obgleich die Zahl der auswanderungswilligen Juden, die eine fremde Staatsangehörigkeit hatten oder staatenlos waren, sehr groß war (fast 25 v.H. der Gesamtzahl), fast keinerlei Auswanderungsneigung von Juden sich für die bolschewistische Sowjetunion zeigte. Insgesamt wurde 20 mal nach ihr gefragt.

Über die Zielländer, für die Devisengutachten ausgestellt worden sind, ist die nachfolgende Zusammenstellung der Berliner Auswandererberatungsstelle typisch. Im 2. Kalenderhalbjahr 1938 wurden von ihr 923 Devisengutachten ausgestellt und über 11,2 Millionen Reichsmark Werte zur Ausfuhr begutachtet und zwar für die hauptsächlichsten Länder, wie folgt:

Länder                                 Zahl der                       Befürwortete Beträge
                                            Devisengutachten       in 1000 RM
                                               (Ziffern in ( ) sind die Ergebnisse von I/38.)

1. Palästina                           564   (571)                     8469   (9559)
2. Paraguay                       103     (-)                             275     (-)
3. Vereinigte Staaten         52   (64)                         303   (280)
4. Tschechoslowakei           33   (22)                         775   (327)

Davon reisten

                                            über Bremen   über Hamburg     Zusammen

im Juli 1938                                 209                       1537                   1746
im August 1938                         302                       1576                   1878
im September 1938                369                     1529                   1898
im Oktober 1938                       446                       2367                   2813
im November 1938                   277                       2126                   2403
im Dezember 1938                     289                       2556                   2845
Juli bis Dezember 1938           1892                  11691                 13583

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