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Chronik und Quellen
1939
Januar 1939

Ausreise aus Deutschland

Oscar Schloss aus Berlin schildert 1940 im Rahmen eines Preisausschreibens der Harvard-University seine Ausreise aus Deutschland am 26. Januar 1939:

Wir brachen am 26. Januar auf. Wir kamen durch Heidelberg, und ich werde meine Geburtsstadt wohl nie Wiedersehen, nie wieder die Stätten aufsuchen können, an denen meine Eltern und mein Bruder begraben liegen!

Wir trafen den Doktor in Karlsruhe. Als wir durch Baden-Baden kamen, stiegen meiner Frau Tränen der Trauer in die Augen bei der Erinnerung an die schönen dort verbrachten Stunden. Nach kurzer Fahrt erreichten wir Kehl, wo unsere Papiere und unser Gepäck inspiziert werden sollten. Unser Zug sollte etwa eine Stunde Aufenthalt haben, bevor die Reise nach Straßburg weitergehen würde. Dort sollten der Bruder des Doktors und seine Frau, eine Cousine meiner Frau, auf uns warten. Da für Frankreich keine Visa vergeben wurden und es sich bei unserem Zug nicht um einen Fernschnellzug handelte, waren wir die einzigen Passagiere, die inspiziert wurden.

Zunächst mussten wir etwa eine Stunde warten, bis die Zollbeamten freundlicherweise bereit waren, uns zu empfangen. Uns störte diese Verzögerung nicht, da wir glaubten, dass die verbleibende Zeit nicht mehr für eine gründliche Durchsuchung unseres Gepäcks reichen würde. Obwohl wir im Besitz der amtlichen Genehmigung zur Ausfuhr des Gepäcks waren und auch darüber hinaus nichts bei uns hatten, ist doch im Allgemeinen jeder mehr oder weniger aufgeregt beim Überqueren einer Grenze, und in diesem Fall handelte es sich um eine ganz besondere Grenzüberschreitung.

Obwohl wir wussten, dass an allen deutschen Grenzen die jüdischen Auswanderer ganz besonderen Kontrollen unterlagen, sprengte das, was wir in Kehl erleben mussten, jeden Rahmen! Der Abschied von Deutschland fiel uns sehr leicht, gerade weil er uns so schwer gemacht wurde!

Vier Beamte beschäftigten sich ausschließlich mit uns. Da wir natürlich viele Genehmigungen brauchten, hatten wir für unsere ganzen Unterlagen, darunter Empfehlungsschreiben und wertvolle Briefe, eine große Aktenmappe. Vor allem diese Aktenmappe übte einen besonderen Reiz auf die Zollbeamten aus. Zwei der Beamten beschäftigten sich damit, guckten und lasen jedes einzelne Blatt, jeden Brief durch und entnahmen einzelne Papiere, deren Inhalt ihrer Meinung nach verdächtig wirkte. Es wäre fraglos töricht gewesen, irgendwelche Papiere mitzunehmen, die auch nur die geringsten Probleme hätten verursachen können, doch die Beamten schienen Anweisungen zu haben, an so vielen Dingen wie möglich etwas auszusetzen. Die Kontrolle unserer Papiere hatte bis jetzt mehr als eine halbe Stunde in Anspruch genommen, der dritte Beamte sowie eine Beamtin, die die weiblichen Passagiere inspizieren sollte, saßen ebenso untätig herum wie der Doktor und meine Frau, weder eine Tasche noch ein Koffer waren bislang [auch nur] angerührt worden. Unser Zug war bereits abgefahren, und als wir uns erlaubten, die Beamten darauf hinzuweisen, teilte man uns verächtlich mit, dass im Laufe des Abends und der Nacht noch weitere Züge nach Straßburg gehen würden.

Schließlich war die Überprüfung meiner Aktenmappe abgeschlossen, und die Papiere des Doktors kamen an die Reihe. Während man - abgesehen von ein paar beschlagnahmten harmlosen Briefen - nichts unter meinen Papieren gefunden hatte, riefen die Unterlagen des Doktors derart große Aufregung unter den Herren hervor, dass sie einen SS-Mann zur Hilfe riefen. Dieser Halbwüchsige nahm den Doktor mit zur Gestapo, die in einem anderen Raum des Bahnhofs untergebracht war. Eine einfache Kopie seines Führerscheins, den er, wie alle Juden, vor einiger Zeit gezwungen gewesen war abzugeben, erregte die Gemüter dieser Halunken, die unterstellten, dass es sich dabei um eine Fälschung handelte! Es dauerte eine ganze Weile, bis der Doktor leichenblass zurückkehrte. Der SS-Mann warf die Papiere zu Boden und verschwand, nicht ohne zuvor ein paar unverschämte Bemerkungen zu machen.

In der Zwischenzeit hatte man mich in eine Zelle gebracht, in der ich mich vollständig entkleiden musste. Der Beamte durchsuchte meine Taschen, den Saum meiner Kleidung, meine Schuhe und alles, wo man womöglich irgendetwas hätte verstecken können. Danach untersuchte er mein spärliches Haar, bohrte zwischen meinen Zehen (vermutlich nach Juwelen!) und ließ keine Stelle meines Körpers unerforscht. Ich musste mich zusammenreißen, um diesen Bengel nicht zusammenzuschlagen.

Meine Frau, die von der Beamtin in einer anderen Zelle durchsucht wurde, wurde vernünftiger behandelt, offenbar besaß diese Beamtin noch ein Minimum an Menschlichkeit und Anstand. Sie erklärte meiner Frau, dass sie ihre Taschen und Koffer gründlich in der Gegenwart der Beamten durchsuchen müsse, aber dabei nichts beschädigen werde.

Als ich aus der Zelle zurückkehrte, machte sich der Doktor gerade mit seinem Gepäck fertig und verschwand im französischen Zollhaus, das sich direkt nebenan befand. Kurz darauf folgte meine Frau, während mein Gepäck weiterhin äußerst gründlich durchsucht und der Inhalt herumgeworfen wurde. Folglich dauerte es eine ganze Weile, bis ich soweit war. Als ich noch einen Fuß auf der deutschen Seite des Zolls hatte, konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen: „Finis coronat opusl“ Offenbar glaubte der leitende Beamte, ich hätte ihn gegrüßt, und antwortete: „Heil Hitler!“ Das war das Letzte, was ich in Deutschland hörte!

Hätten wir noch einen letzten Rest des Bedauerns verspürt, Deutschland verlassen zu müssen, so wäre er uns angesichts dieser unwürdigen Behandlung abhanden gekommen. Aber nichts dergleichen ging in unseren Köpfen vor, und als der französische Zollbeamte mich freundlich fragte: „Est-ce que vous avez quelque chose a declarerF war die einzige Erklärung, die abzugeben ich in der Lage war, dass ich der Vorsehung danke, die es mir erlaubt hatte, dieses elende Land zu verlassen. Der französische Zollbeamte öffnete nicht ein einziges meiner Gepäckstücke, er traute meinen Wort mehr, als dies meine früheren Landsleute getan hatten, und entließ mich mit einem charmanten: „Bon voyage!“

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