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Chronik und Quellen
1938
Dezember 1938

Haft in Sachsenhausen

Siegfried Neumann aus Berlin berichtet 1940 im Rahmen eines Preisausschreibens der Harvard-Universitiy rückblickend über seine Haft im KZ Sachsenhausen Ende 1938

Im Laufe des Sonntags kamen noch Juden aus den kleineren Orten des Kreises, die mit unserem Transport zusammen fortgebracht werden sollten. Die Polizei veranlasste noch, dass wir trotz Sonntagsruhe unsere Ausrüstung an Kleidung und Wäsche vervollständigen konnten, indem sie Geschäftsleute telephonisch zur Wache bestellte. Aber unser Transport ging erst am Montag ab. Im Laufe des Tages kamen immer noch mehr Juden aus der Umgebung dazu. Der Hauptmann Hess uns noch auf Lagerfähigkeit untersuchen. Ich wurde frisch verbunden. Die obere Hälfte meines Gesichtes war noch immer bepflastert. Einer blieb wegen Zuckerkrankheit zurück. In den Abendstunden wurde zum Abmarsch angetreten. Die begleitenden Polizeibeamten luden in unserer Gegenwart scharf. Einer der älteren Beamten hatte Tränen in den Augen, als er sich von uns verabschiedete. Drei von uns, darunter auch ich, - alle drei Frontkämpfer - fuhren auf ausdrückliche Weisung des Hauptmanns in dessen Personenwagen mit ihm zusammen, die anderen in grossen Omnibussen. Als wir auf die Straße traten, um die Wagen zu besteigen, stand dort ein Menschenhaufen, der antisemitische Schimpfworte und Drohungen ausstiess, offenbar bestellte Arbeit. Denn man hörte dasselbe nachher auch aus anderen Orten erzählen. Im Wagen begann sich der Hauptmann zu unterhalten: „Jetzt hat auch England vor uns nachgegeben. (München!) Jetzt lösen wir die Judenfrage, wie wir wollen. Das kommt in der ganzen Welt. Der Codreanu kommt in Rumänien auch noch heran. Die Araber lassen sich das in Palästina auch nicht gefallen. Die Engländer werden mit ihnen nie fertig werden. Ich kenne das Land vom Kriege her.“ In unserer Lage konnten wir nicht gut widersprechen. „Irgendwie wird natürlich das Judenproblem gelöst werden müssen. Vielleicht ist in China noch Raum.“ Als wir den Osten Berlins durchfuhren, staunte er, dass man hier keine Zeichen von Zerstörung sah. An einer Stelle hatte man wohl den Weg nach Oranienburg verfehlt. Ich musste aussteigen, um nach den Tafeln zu sehen. Die Versuchung war gross, auf irgendeine vorbeifahrende Strassenbahn zu springen und in Berlin unterzutauchen. Die Nacht war regnerisch dunkel. Aber schon die Rücksicht auf die Kameraden verbot das. Es ging weiter. Die Häuser hörten auf, und die Landstrasse begann wieder. Bald sahen wir Scheinwerfer kreisen und hielten vor einem Schlagbaum. Er ging hoch. Noch ein kurzes Stück Chaussee, dann mit einer Linkskurve durch ein hohes Tor, das die Aufschrift trug „Schulungslager“. Die Wagen hielten vor einem zweiten Tor. Wir stiegen aus. Unser Hauptmann hatte uns zugesagt, für uns ein gutes Wort einzulegen, da wir uns in Polizeihaft gut geführt hatten. Kaum waren wir im Begriff, das zweite Tor zu durchschreiten, da wurden den Vordersten schon von SS-Leuten die Hüte heruntergeschlagen. „Werdet Ihr wohl laufen, Ihr Schweine!“ Nun hiess es, mit dem Koffer in der Hand Laufschritt machen, was den Älteren nicht leichtfiel. Manche kamen auch in dem Schmutz zu Fall. Vor einer langen, noch erleuchteten Baracke mussten wir antreten. Andere Transporte hat man 24 Stunden so stehen lassen, wobei schon einige zusammenbrachen. Offenbar war es die Fürsprache unseres Hauptmanns, dass man uns gleich abfertigte. SS-Leute, die hier grau-grüne Uniform trugen, pflanzten vor uns Tafeln auf, die gehässige Inschriften trugen. Auf einer stand ironisch: „Wir Juden sind das auserwählte Volk.“ Auf anderen stand, was die Juden angeblich alles verbrochen haben. Wir mussten diese Inschriften teils einzeln, teils im Chor vorlesen. Plötzlich fragte uns ein SS-Mann: „Wo ist denn Euer Rabbiner, das Schwein?“ Zu seinem Glück war dieser schon früher nach Polen ausgewiesen worden. Neben den SS-Leuten standen noch andere Gestalten vor der Front, deren Bedeutung wir noch nicht kannten. Diese rieten uns, nur ja unsere Frontkämpferabzeichen wegzustecken. Dann ging es etappenweise in die Baracke, die Schreibstube hinein. Die Arbeit wurde von Häftlingen erledigt. Aber SS-Leute gingen hin und her und trieben zur Eile. Wir mussten unsere Taschen vollkommen leeren, die Wertsachen, wie Uhr und Füllfederhalter, gesondert von den anderen Sachen abgeben, ebenso das Geld abliefern. Alles das und unsere Personalien wurden genau aufgenommen. Dann untersuchte ein Arzt - offenbar ein jüdischer Häftling - kurz, nach der Art seiner Untersuchung anscheinend nur auf Läuse. Sodann ging es in den Baderaum. Die Kleidung wurde abgegeben, wofür man eine Nummer erhielt. Alsdann wurde geduscht, vorher noch kahlgeschoren. Bevor man nun in einer anderen Ecke dieses grossen Raumes die Häftlingskleidung empfing, musste man an einem SS-Offizier vorbei. So etwas von einer Mephisto-Visage hatte ich in Wirklichkeit noch nicht gesehen. Er sass da in schwarzer SS-Uniform mit der Mütze auf dem Kopf, wippte mit seiner Reitgerte auf die Stiefel. Ein bleiches, von sinnlichen Ausschweifungen zeugendes Gesicht, pechschwarzes Haar, ein kleines Schnurrbärtchen, hervorstehende Backenknochen, dazu ein Monokel eingeklemmt. Neben ihm stand ein anderer SS, blond und gedrungen, wie Breitensträter. Der Schwarze winkte mich heran. Ich stand stramm, so gut man das ohne jede Kleidung kann. „Wo hast Du denn das her?“ Er deutete auf meine Verbände. „Ich bin hingefallen.“ „So, wann bist Du denn hingefallen?“ „In der Nacht vom 9. zum 10. November.“ Er schmunzelte verständnisvoll zu seinem Kameraden. Dann fragte er weiter! „Du bist wohl die Treppe heruntergefallen.“ Ich bejahte. „Es ist wohl sehr dunkel gewesen.“ „Jawohl.“ „Da hast Du wohl nicht gut aufgepasst.“ „Nein.“ „Gut.“ Er winkte abtreten. In einer anderen Ecke empfingen wir nun unsere Sachen, bestehend aus dünner Unterwäsche, Strümpfen, Rock und Hose. Manche erhielten gestreiftes Flanellzeug, andere, darunter auch ich, eine ehemalige feldgraue Uniform. So trug man sie, die einst im Weltkriege ein Ehrenkleid war, jetzt als Häftlingsanzug. Von unseren warmen Sachen, die wir uns noch besorgt hatten, sahen wir nichts. Mütze und Mantel empfingen wir nicht. Draussen wurde angetreten und zu der uns zugeteilten Baracke abmarschiert. S.S. war jetzt nicht mehr dabei. Die Belegschaft einer Baracke - 150 bis 300 Mann - wird Block genannt und untersteht dem Blockältesten, einem langjährigen Häftling. Ihm ist zur Unterstützung der Stubendienst, ebenfalls aus älteren Häftlingen bestehend, zugeteilt: darunter ein Schreiber, einer sorgt für die Sauberkeit in der Baracke, einer für die Schlafgelegenheiten, einer für die Verpflegung. Etwa fünf bis sechs Blocks unterstehen einem SS-Führer, dem „Blockführer“ Bettstellen waren in unserer Baracke noch nicht vorhanden. Es wurde Stroh auf den Boden des Schlafraums ausgebreitet. Wir erhielten jeder zwei Wolldecken. Die Zeit des Morgenappells war so gelegt, dass bei Ende des etwa halbstündigen Appells die Morgendämmerung einsetzte, da man die Arbeitskommandos nicht im Dunkeln ausrücken lassen konnte. Damals war etwa um 6 Uhr Morgen-Appell. In der Baracke gab es einen Waschraum mit fliessendem Wasser, ferner Becken zum Füssewaschen und ein Becken zum Geschirrspülen. Zum Morgenfrühstück gab es eine gesüsste Sagosuppe und Kaffee, am Sonntag Marmelade. Wir marschierten und standen nun in dem Novemberregen mit kahlgeschorenem Kopf ohne Kopfbedeckung und Mantel beim Appell auf dem grossen Platz, der die gesamte Belegschaft, normal 6000 Mann, jetzt etwa das Doppelte, fasste. Es war noch dunkel. Nur die erleuchtete Uhr über dem inneren Torbau schwebte körperlos im Dunkel. Hier kam es darauf an, militärische Haltung zu bewahren. Bogenlampen an hohen Masten verbreiteten etwas Licht. Zuweilen hoben die herumwandernden Scheinwerfer eine Gruppe heraus. SS-Leute gingen zwischen den angetretenen Blocks herum. Wenn einer auffiel, etwa indem er die Hände auf den Bauch legte oder sprach, setzte es von der SS einen Fusstritt oder Backpfeifen. Später konnte es auch passieren, dass der ganze Block bestraft wurde, indem er, wenn alles nach dem Abendappell in die Baracken abrückte, am Tor stehen musste und dann ohne Abendessen zur Nachtruhe abrückte. Nach dem Morgenappell rückten wir zu unserer Baracke ab. Es wurden Leute herausgesucht, die als Soldaten Vorgesetzte gewesen waren. So machten wir Juden denn Fussdienst unter jüdischem Kommando. Bei dem Herummarschieren zwischen den Baracken traf man allerorts Bekannte und Verwandte, da man die Juden von überall zusammengeholt und nicht allzu viele ausgelassen hatte, sogar aus Sudetendeutschland waren sie dabei trotz der Abmachungen des Münchener Vertrages. So traf ich eines Tages auch meinen Bruder. Mittags war wieder Appell, und dann wurde in den Baracken die Mittagsmahlzeit eingenommen. Die warme Mittagskost war schmackhaft zubereitet. Von dem Fleisch sagte man, es sei Walfischfleisch. Es schmeckte jedenfalls nicht schlecht. In der ersten Zeit schafften wir unsere Portionen nicht. Nach dem Essen wieder exerzieren. Das ging bis zum Abendappell, etwa um 6 Uhr. Die Zeit wechselte mit der Tageslänge. Er begann mit eintretender Dämmerung, wenn die Arbeitskommandos zurückkamen. Beim Abendappell wurden die Namen der zur Entlassung Kommenden verlesen, das heisst, es wurde aufgerufen, wer sich am nächsten Morgen an der Schreibstube zu melden hatte. Dann rückte alles in die Baracken ab. Zum Abendbrot gab es Kaffee und abwechselnd Margarine oder Leberwurst, Käse, zuweilen auch Hering. Die Nahrungsmittel waren von guter Beschaffenheit. Das Brot entsprach dem Kommissbrot, wie wir es vom Militär her kannten. Die Brotrationen wurden später gekürzt, weil wir zuviel übrigliessen. Um acht Uhr wurde das Licht gelöscht. Die Blockführer kontrollierten, dass um diese Zeit alles zur Nachtruhe gegangen war.

Die Schneider waren herausgesucht. Man war dabei, jedem seine Häftlingsnummer und den gelben Davidsstern, das Abzeichen der Judenblocks, aufzunähen. Solange die Nummern nicht aufgenäht waren, konnten wir nicht zur Arbeit ausserhalb des Lagers eingeteilt werden. Es ist bemerkenswert, mit wie wenigen SS-Leuten diese grosse Masse von Häftlingen in Schach gehalten wird. Der grosse Appellplatz liegt so, dass ihn auf der einen Seite der innere Torbau abgrenzt, auf dem sich ein Maschinengewehr befindet. An der Umfassungsmauer läuft mit Starkstrom geladener Draht entlang. Davor befindet sich noch ein Rasenstreifen. Vor diesem stehen Tafeln mit einem Totenkopf. Das bedeutet: Jenseits der Grenze dieser Tafeln ist die SS berechtigt zu schiessen. An verschiedenen Punkten der Umfassungsmauer befinden sich Maschinengewehrtürme, so dass jede Lagergasse von einem Maschinengewehr beherrscht wird. Mit Ausnahme des Küchenbaues und des Torgebäudes, in dem sich die Büros des Lagerkommandanten befinden, sind alle Bauten aus Brettern hergestellt und würden gegen die Kugeln der Maschinengewehre keine Deckung bieten. Unsere Baracke war an dem betreffenden Ende des Lagers die letzte. Wir wurden gleich am ersten Abend von unserem Blockältesten instruiert, dass wir nicht über das Barackenende hinausgehen dürften, da sonst geschossen werden kann. Schon in den ersten Tagen kam es vor, dass jemand gegen den Draht lief, um Schluss zu machen. Unser Blockältester teilte uns das als Abschreckung vor Nachahmung mit. „Denkt an Eure Familien, die auf Euch warten. Wir sind schon 5 Jahre hier, haben auch Frau und Kinder zu Hause und halten auch die Ohren steif.“ Es war überhaupt erstaunlich, welche moralischen und seelischen Kräfte diese einfachen Männer aus dem Volke hatten, mit denen sie uns oft in schwachen Stunden aufzurichten verstanden, wie sie bei gleichzeitig kameradschaftlichem Verhalten die nötige Disziplin, für die sie ja der SS verantwortlich waren, aufrechtzuerhalten wussten. Auch nahmen sie sich der älteren und weniger gewandten Kameraden an, damit sie nicht vor den SS-Leuten auffielen, indem sie diese zum Stubendienst verwendeten oder mit irgend welchen leichten Sonderarbeiten beauftragten. Zu unserem Glück gehörte der Blockführer, dem unser Block unterstand, zu den anständigen Vorgesetzten. Er schien aus besseren Verhältnissen zu stammen. Trat er in die Baracke und wir waren beim Essen, so liess er [uns] sofort weitermachen. Beim Exerzieren meinte er einmal: „Wenn ihr so weitermacht, macht ihr es bald so gut wie die beste Ehrenkompanie.“ Aber dieser Blockführer war offenbar eine Ausnahme. Bei jedem Appell sahen wir, wie die SS-Leute um die angetretenen Blocks herumgingen, plötzlich jemand mit dem Stiefel ins Gesäss oder in den Leib traten oder Ohrfeigen austeilten, wenn er nicht geradeaus sah oder die Hände an der Hosennaht hielt. Als wir einmal mit Abladen von Proviant für die Küche beschäftigt waren, sah ich, wie ein höchstens i7jäh-riger SS-Mann einen Häftling derartig in den Leib trat, dass er vom Platze getragen werden musste.

Als Häftlingsnummer und der rotgelbe Davidsstern aufgenäht waren, wurden auch wir zur Aussenarbeit eingeteilt. Ich gehörte zuerst zu einer Kolonne, die an einer Stadtrandsiedlung bei Oranienburg arbeitete. Wir arbeiteten unter Aufsicht von Häftlingen als Vorarbeitern. Auch Juden waren darunter. Im äusseren Umkreise stand eine Postenkette von SS-Leuten. Kam man irgendwo über diese Postenkette, so hatte der Posten das Recht zu schiessen. Die Posten gaben zugleich acht, dass genügend gearbeitet wurde. Hier wurden Ziegelsteine von einem Ende zum ändern befördert, indem wir eine Kette bildeten und uns die Steine zuwarfen, was man bald heraushatte. Oder wir mussten Steine tragen. Später habe ich dort am Bau einer Strasse gearbeitet, mit dem Hammer Ziegelabfälle zu Schotter zerschlagen und aus grossen Steinen, die aus den Hausabbrüchen von Berlin angefahren wurden, Strassenfundament gelegt, das reinste Mosaikspiel. In der ersten Zeit wurde zum Mittagessen in das Lager marschiert. Später gab es nur eine halbe Stunde Mittagsappell. Während dieser Zeit konnte man sein mitgebrachtes Essen, meistens trocken Brot, solange wir noch kein Geld für die Kantine hatten, verzehren, [wir] durften auch rauchen. Das warme Essen gab es dann abends nach dem Schlussappell. Von dieser Arbeitsstelle aus konnte man die Häuser von Oranienburg sehen. Besonders die grossen Scheiben eines Cafés blinkten verlockend herüber. So nah und doch unerreichbar weit: das bürgerliche Leben und die Freiheit. Schlimm war es, wenn es regnete und wir ohne Mütze und Mantel den ganzen Tag im Freien ausharren mussten. Es war ein Segen Gottes, dass dieser Winter so milde war, sonst wären wohl noch viel mehr von uns an Krankenheiten zugrunde gegangen. Einen Sonntag kannte man im Lager nicht. Nur einmal - ich glaube, es war der Totensonntag - gab es keinen Dienst. Wir sollten unser Zeug in Ordnung bringen und durften nach Hause schreiben. Die alten Häftlinge sagten, ein freier Sonntag, das sei in den ganzen 5 Jahren noch nicht vorgekommen. Der Lagerkommandant kam dann auch bald fort. Man sagte, weil er zu milde gewesen sei. Den Unterschied merkten wir bald. Sonntags ging die Arbeit genau so über den ganzen Tag wie in der Woche. Auch wer nicht zur Arbeit eingeteilt war und im Lager blieb, durfte während des Tages nicht die Baracke betreten und musste während des Appells als Mittagbrot verzehren, was er sich in die Tasche gesteckt hatte. Die Baracken, die man schon begonnen hatte zu heizen, durften nicht mehr geheizt werden.

Zum Stubendienst durften nur ganz wenige Leute eingeteilt werden, so dass auch die älteren Leute mindestens am Exerzieren teilnehmen und den ganzen Tag im Freien bleiben mussten. Kranke durften nur in der Baracke bleiben, wenn sie krankgeschrieben waren. Sonst wurden sie streng bestraft. Wer sich krank meldete, musste vom Schluss des Frühappells, etwa halb acht Uhr bis Mittags halb zwei, am Torgebäude stehen, um dann erst zum Revier geführt zu werden. Wirklich Kranke waren gar nicht imstande, so lange in dem nasskalten Wetter herumzustehen, denn das war schlimmer als exerzieren. Nur wer auf dem Platz umfiel, was jeden Tag vorkam, wurde fortgetragen. Särge sahen wir jeden Mittag herausschaffen. Die ganze persönliche Gemeinheit des neuen Lagerkommandanten bewies er eines Tages, als ihm das Exerzieren auf dem grossen Platz nicht gefiel. Er verbot zu exerzieren. Wir mussten in dem nasskalten Wetter die ganzen Stunden bis zum Appell stehen. In manchen Judenblocks waren Menschen bis zu 80 Jahren, die von ihren Kameraden vom und zum Appell geführt werden mussten. Manchmal hiess es: alle, die mehr als eine Million haben, vortreten, dann, die mehr als 500000, mehr als 100 000 Mark haben. Einmal sollten auch alle Ärzte vortreten. Wir nahmen an, dass sie für den Stürmer photographiert wurden. Jede Woche, meistens am Freitag, war nach dem Abendappell Baden. Es waren Duschbäder, die sehr angenehm waren. Auch gab es jede Woche frische Wäsche.

Ich war sehr erfreut, als eines Abends schon in der ersten Zeit auch mein Name beim Appell aufgerufen wurde. Aber als ich dann hoffnungsfreudig am nächsten Morgen vor der Schreibstube stand, gehörte ich nicht zu denen, die zur Entlassung kamen. Ich musste mich beim Lagerkommandanten melden. Ich sollte aussagen, wo ich mich in der Nacht vom 9. November versteckt gehalten hatte. Ich sagte wahrheitsgemäss, dass ich in der Küche der Kellerwohnung gewesen sei. „Du lügst! Du warst beim Oberstleutnant und beim Hauswirt.“ Ich erklärte, ich könne nicht die Unwahrheit sagen. „Du lügst, der Keller ist abgesucht worden.“ Ich sagte, die Küchentüre sei aber nicht geöffnet worden. „Du warst beim Oberstleutnant.“ Ich verneinte, da ich nichts Unwahres sagen könne. „Du willst wohl 50 auf den Arsch haben oder an den Pfahl gebunden werden!“ Ich blieb dabei, dass ich nicht die Unwahrheit sagen kann. „An den Pfahl mit ihm!“ Der Lageradjutant führte mich ab. An dem Treppenabsatz überholte mich der Lagerkommandant, blitzte mich von der Seite an und sagte: „Nicht wahr, du warst beim Oberstleutnant.“ Er wollte mir anscheinend um den Preis einer falschen Aussage noch den Pfahl ersparen. Ich verneinte. Der Adjutant führte mich zu dem Eingang einer inneren Mauer, die hinter unserer Baracke entlanglief und von der ich immer gedacht hatte, das sei schon eine Aussenmauer. Die Türe öffnete ein SS-Mann und verschloss sie hinter uns wieder. In dem niedrigen ebenerdigen Gebäude befanden sich die Arrestzellen. Dahinter war ein kleiner Hof. Dort standen drei Pfähle, zwei waren bereits besetzt. Das Anbinden war eine der Lagerstrafen. Ich musste auf eine Fussbank steigen. Dann wurden meine Handgelenke über dem Kopf am Pfahl festgebunden und die Fussbank fortgezogen. Die Fuss-spitzen berührten noch grade den Erdboden, aber nicht so, dass sie irgendwie das Körpergewicht tragen helfen konnten. Bald verspürte ich starke Schmerzen in den Schultergelenken. Ich betete um Kraft zum Aushalten, damit ich nicht andere durch eine falsche Aussage schädige. Darauf der SS-Mann, der dort die Aufsicht führte, in sächselndem Dialekt: „Dein Jesus hilft Dir doch nicht.“ Nach einiger Zeit dachte ich mir, man würde mich doch so lange hängen lassen, bis ich klein beigeben muss, und die Aussage aus dem KZ würde doch keinen grossen Beweiswert haben. Mir fiel auch ein, dass die Hausangestellten des Wirts und des Oberstleutnants ohnehin das Gegenteil der von mir verlangten falschen Aussage bekunden mussten. Ich sagte, ich würde nun alles erzählen. Man Hess mich noch ein Weilchen hängen, dann kam ein anderer SS-Mann, band mich los und legte mir von hinten einen Strick um den Hals: „Jetzt wirst Du aufgehängt.“ Dann nahm er den Strick wieder herunter und führte mich in das Arrestgebäude. Unterwegs sagte er: „Jetzt wirst du erschossen. Du glaubst es wohl nicht.“ Im Vernehmungszimmer sass der Lageradjutant. „Wir bekommen alles heraus. Wir haben Fälle aufgeklärt, mit denen sich die Polizei jahrelang beschäftigt hat. Dass X.“ - er nannte den Namen des Hauswirts - „tot ist, wissen Sie.“ Wie gewünscht, sagte ich nun, dass ich in jener Nacht bei dem Hauswirt und dem Oberstleutnant gewesen sei. „Nun aber die Einzelheiten, sagen Sie alles ganz genau.“ Es war ein Katz- und Maus-Spiel. Ich wartete auf Suggestivfragen von ihm. Er aber suchte selbst jetzt den Schein zu wahren, als ob die Angaben frei von mir kämen, und vermied möglichst Suggestivfragen. Er legte Wert darauf, dass mich die Betreffenden selbst in die Wohnung aufgenommen hätten. „Und nun die Bewirtung!“ Zum Schluss meinte er: „Sie hätten sich das Anbinden ersparen können. Meinen Sie, mir macht das Spass?“ Er fragte nach Familienverhältnissen. „Ihre Frau wird sicher für die Auswanderung Sorge tragen. Dann werden Sie entlassen und können mit Ihrer Familie auswandern. Ich werde Ihnen Papier geben lassen. Schreiben Sie alles genau auf. Als Anwalt wissen Sie ja, worauf es ankommt. Wenn es zu einer Verhandlung kommt, müssen Sie als Zeuge vorgeführt werden.“ Ich wurde einem SS-Mann übergeben. Er wies mir eine Zelle an. Dann führte er mich in eine andere, wo Tisch und Stuhl standen. Als ich nicht gleich begriff, dass ich einen Tisch und Stuhl herausnehmen sollte, erhielt ich einen Stoss ins Kreuz. Nun sass ich mit Tisch und Stuhl, versehen mit Papier und Bleistift, eingeschlossen in Einzelhaft. Ich empfand es als Ironie, dass die Gefangenenzellen mit Zentralheizung gut geheizt waren, während wir in den Baracken frieren mussten. Warum hatte der Adjutant nicht gleich ein richtiges Protokoll von mir aufgenommen? Warum schloss man mich hier erst noch ein? Wollte man nur eine schriftliche Erklärung von mir haben, um mich dann abzutun, damit ich nicht widerrufen kann? Diese Gedanken verfolgten mich. Ich schrieb die Vorgänge der Nacht nieder mit den gewünschten Unwahrheiten, unterschrieb aber nicht. Nach einer Weile erschien nicht der Adjutant, sondern 2 jüngere SS-Offiziere. „Sind Sie fertig?“ „Ja.“ Sie sahen sich das Schriftstück an. „Unterschreiben Sie!“ „Unterschreiben möchte ich erst, wenn ich aus dem Arrest heraus bin.“ „Los! Los! Unterschreiben Sie! Der Herr Adjutant wartet.“ „Ich fürchte, wenn ich erst unterschrieben habe, komme ich hier nicht mehr lebend heraus. Darum will ich erst draussen unterschreiben.“ Man wollte auf mich eindringen. Ich ergab mich in mein Schicksal. Ich unterschrieb, ich war ja doch in ihrer Hand. Sie entfernten sich mit dem Schriftstück. Ich war wieder allein in meiner Zelle. Ich beobachtete das Guckloch in der Türe. Würde man einfach durchschiessen? Dass der Adjutant nicht selbst gekommen war, um ein richtiges Protokoll aufzunehmen, schien meine Befürchtungen zu bestätigen. Schliesslich öffnete sich die Zellentüre, und ich wurde wieder in das Vernehmungszimmer geführt. Darin sass der Adjutant mit einem SS an der Schreibmaschine. Er hatte mein Schriftstück in der Hand und diktierte entsprechend das Protokoll, indem er die ganzen Vorgänge auf meinem Grundstück und das Hinschleifen zur Synagoge fortliess. Vor dem Unterschreiben fragte er plötzlich, ob ich schon polizeilich vernommen sei. Er wusste also ganz genau, dass meine ersten Angaben wahr gewesen waren, nicht die jetzt protokollierten. Ich verneinte. Dann liess er unterschreiben und gab Befehl, mich zu entlassen. Er entfernte sich. Derselbe SS, der mir vorher den Strick um den Hals gelegt hatte, gab mir nun meine Schuhe zurück, die ich dort mit Holzpantoffeln hatte vertauschen müssen. Dann liess er mich aus dem Arresthaus heraus, machte aber keine Miene, das Tor in der Mauer aufzuschliessen. „Jetzt wirst Du doch erschossen.“ Ich dachte an Tosca. Bestand ein anderer Befehl? War die in meiner Gegenwart gegebene Anweisung, mich zu entlassen, nicht ernst gemeint? Ich lief zur Mauerpforte und ruettelte daran. „Herkommen!“ Ich kam wieder zurück. „Stell Dich an die Mauer.“ Er fasste an seine Pistole. Dann öffnete er endlich die Pforte in der Mauer: „Auf Schreibstube melden, dass Sie entlassen sind.“ Ich atmete auf. Es war inzwischen Nachmittag geworden. Ich lief über den grossen Platz zur Schreibstube, um mich zu melden. Kaum war ich drin, erhielt ich von einem SS eine Ohrfeige und war gleich wieder herausgeworfen, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. Ich kehrte nun in meine Baracke zurück. Die Kameraden waren schon in grösser Sorge gewesen, da ich seit dem frühen Morgen fort war. Dass ich verstört aussah, war zu verstehen. Ich hütete mich natürlich, irgendeine Andeutung zu machen. Denn die Folgen konnte ich mir ausmalen. Der Blockälteste war im Bilde, wahrscheinlich von der Schreibstube her. Er band mir auf die Seele, nur ja den Mund zu halten. Es war rührend, wie die alten Häftlinge in unserem Block sich jetzt um mich kümmerten. Sie sahen nur meine Handgelenke an, wo ja die Striemen noch zu sehen waren, und sagten weiter nichts. Sie wussten Bescheid. Nächsten Tag teilten sie mich zum Stubendienst ein, damit ich nicht aus der Baracke heraus brauchte. Solche Methoden schienen also häufiger vorzukommen. Ich lebte jetzt in ständiger Sorge, ich könnte noch vor meiner Entlassung, die ja nach der Bemerkung des Adjutanten von der Auswanderung abhing, zu einer gerichtlichen Vernehmung überführt werden. Ich hätte diese Aussage doch nie beschwören können. Ich schrieb, dass möglichst schnelle Auswanderung in meinem Falle besonders dringend sei.

Da die Entlassungen vorwärts gingen, zuweilen 150 bis 200 Mann pro Tag, mussten jetzt auch die älteren Jahrgänge zur Aussenarbeit in das Industriewerk. An sich zog ich die Arbeit dem Exerzieren vor, da man wenigstens warm wurde. Angst hatte ich aber vor dem Schleppen von zentnerschweren Zementsäcken. Dem fühlte ich mich nicht gewachsen. Die Kameraden rieten mir, mich gleich beim Aufruf zur Kolonne Nr. soundso zu stellen, die mit Sandschippen beschäftigt war. Wir marschierten in der Morgendämmerung nach dem Appell in langer Kolonne ab, auf beiden Seiten von SS-Posten mit Gewehr begleitet. Der Marsch geht durch wunderbaren Wald. Aber hier ist kein Raum für Naturgenuss. Die Rufe der SS-Posten: „Tritt! Aufbleiben! Vordermann! Richtung“ brechen nicht ab. Will man nicht Ohrfeigen oder Fusstritte ernten, heisst es aufpassen. Denn marschieren können nur die Vordersten. Wir ändern müssen immer wieder Laufschritt machen, da die Kolonne sich stets auseinanderzieht. So geht es eine halbe Stunde lang, bis das Industriewerk erreicht ist. Als endlich die ganze lange Kolonne steht, werden wir abgezählt. Dann treten die verschiedenen Arbeitsgruppen an. Einige SS-Posten, besonders als wir österreichische SS da hatten, benutzen das zu Schikanen. Alsdann werden Spaten geholt und im Laufschritt durch den tiefen Sand zu den weit auseinanderliegenden Arbeitsstellen abgerückt. Ich bin bei der Gruppe, die in einer Kette schaufelt und auf diese Weise den Sand von einer Seite zur anderen schafft, wo planiert wird. Einer der Vorarbeiter hat Humor genug zu kommandieren: „Vorwärts! Vorwärts! Die märkische Erde will bewegt werden.“ Hier staune ich, wie viele Handarbeiter es doch unter den Juden gibt. Wenn man gerade einen Tiefbauarbeiter neben sich hat, kann man das Tempo nicht mithalten. Wehe dem, vor dem sich grade ein Sandhaufen türmte, wenn ein SS kontrollieren kam. Eine andere Kolonne nannte man das Karussell. Wir waren noch halbwegs modern, indem wir uns eines Spatens bedienten, im Karussell zog man sich den Rock aus und zog ihn verkehrt wieder an, so dass hinten die obersten Knöpfe zugeknöpft werden konnten. Dann hielt man den unteren Teil wie eine Schürze, liess sich Sand hinein schippen und marschierte im Gänsemarsch zum anderen Ende der Fläche, wo man den Sand wieder fallen liess. Da sich alles im Kreise bewegte - daher der Name: Karussell -, kam man wieder am ersten Punkte an, erhielt man seine Schaufel Sand in den Rockschoss, und das Spiel ging so weiter. War SS in der Nähe, musste alles im Laufschritt gemacht werden. Für die Zeiteinteilung aller Kolonnen waren die grossen Loren massgebend, die von einer anderen Arbeitsgruppe auf Gleisen gezogen und geschoben wurden. Hatten sie sieben Loren heraufgezogen, so war die Zeit zum Mittagsappell da, inclusive hin- und herlaufen, abzählen, das mitgebrachte Mittagbrot verzehren eine halbe Stunde. Einmal hatte ich das Pech, dass gerade noch am Nachmittag ein Kahn mit Zement ankam. Auch unsere Gruppe wurde zum Abladen kommandiert. Unten am Kanal lag der Kahn. Von der höheren Uferböschung führten zwei Bretterstege herunter zu den beiden Aufladestellen. Der Zement befand sich in Papiersäcken. Es kam viel darauf an, dass einem der Sack richtig aufgepackt wurde. Ich öffnete wie alle vorn die obersten Rockknöpfe. Dann war auch an mir die Reihe, mich hinzusetzen und mir meinen Zentnersack aufpacken zu lassen. Ich war schon stolz, mich ohne Hilfe damit erheben zu können. Aber zuerst war es, als ob es einem das Kreuz umbrechen würde. Mit gutem Schwung ging es das Laufbrett zum Ufer herauf. Jetzt musste man durch tiefen losen Sand. Nun ergab sich eine andere Schwierigkeit. Wenn man den Kopf tief herunter nahm, da der Sack mehr auf dem Nacken ruhte, so war das Gewicht am besten ausbalanciert. Aber dann sah man nur einige Schritte vor sich den Boden und konnte den Weg nicht sehen, wo der Zement hinzubringen war. Ich richtete mich nach den Beinen meines Vordermannes. Hob man den Kopf, um selbst seinen Weg zu sehen, so kam der Sack ins Rutschen. Mit den Händen konnte man diese prall gefüllten Papiersäcke nicht fassen, um sie zu halten. Zum Glück war die Abenddämmerung nicht mehr weit und wir für dieses Mal bald erlöst. Einer ist eines Tages in den Kanal gesprungen, wurde aber wieder herausgeholt. Ich hörte nun von Kameraden, dass man von den grossen Loren nie zum Zementtragen fortgeholt wurde. Daher trat ich beim nächsten Mal gleich bei dieser Arbeitskolonne ein, bei der ich dann bis zum Schluss blieb. Wir hatten zunächst die Loren mit Sand voll zu schippen, wobei es galt, hoch im Bogen zu werfen, dass sich der Sand, ohne zu streuen von oben in die hochwandige Lore senkte. Einmal erschienen bei dieser Arbeit zwei SS-Offiziere, stellten sich oben auf die Sandhaufen und streuten uns mit den Händen Sand auf den Kopf, was ihnen kolossalen Spass zu bereiten schien. War die Lore voll, dann wurde sie auf dem Gleis, auf dem sie stand, nach dem entgegengesetzten Ende des Terrains gezogen. 12 Mann an zwei Langtauen mit je drei Knüppeln zogen vorn wie die Wolgaschlepper, andere schoben hinten und an den Seiten. In den Kurven ging es besonders schwer. War man am Ende des Gleises angelangt und die Lore dort ausgekippt, so entstand immer eine angenehme Pause, bis die anderen Loren nach-gekommen und ebenfalls gekippt waren. Die Strecke lief am äussersten Ende des Platzes entlang. Er fiel dort in einer Böschung zum Rande eines Kiefernwäldchens ab. An dessen Rande stand die Postenkette der SS. Einmal sahen wir, wie ein SS einen Häftling herunter rief. Dieser war dumm oder ängstlich genug, herunter zu laufen. Der SS liess ihn hinlegen, sich im Sande rollen etc. Unser Blockältester hatte uns instruiert, dass wir Weisungen der Posten, unsere Arbeit zu verlassen, nicht zu befolgen brauchten und auch die Posten ihren Platz nicht verlassen durften. Es sei vorgekommen, dass die Posten einen Häftling so lange sich im Sande rollen Hessen, bis er dabei über die Postenlinie herauskam und ihn dann abschossen. Daher hatte der Dienst bei diesem Industriewerk auch den Namen „Kommando Schiessplatz.“ Selbst habe ich derartiges nicht erlebt.

Eines Nachmittags erschienen zwei SS-Führer in unserer Baracke.

Das Strammstehen und Aufspringen bei dem Ruf „Achtung“ war ihnen wohl nicht schnell genug gegangen. Es waren nur der Stubendienst, also ältere Leute, ausser mir, so um 60 Jahre alt, anwesend. Sie kommandierten: „Hinlegen! Achtung! Hinlegen! Achtung!“ Dann: „Marsch in den Schlafraum!“ Unser Blockältester rief uns noch zu: „Brillen weg!“ Im Schlafraum lag das Stroh für die Nacht auf einem grossen Haufen. Da mussten wir uns hineinwühlen. „Volle Fliegerdeckung! Tiefer! Wir wollen Euch gar nicht sehen.“ Sie konnten sich darüber totlachen. Das waren so ihre Vergnügungen, um sich die Langeweile zu vertreiben.

Ein anderes Mal ertönte nachts die Feuersirene. Die alten Häftlinge hatten uns gesagt, dass bei dem Brand einer Baracke niemand lebend herauskäme. Die Maschinengewehre würden auf jeden schiessen, der die Baracke zu verlassen wünschte. Heller Feuerschein stand am Himmel. Zum Glück war der Brand nicht im Lager, sondern auf der anderen Seite der Chaussee in den Baracken des dort stationierten SS-Regiments.

Eines Tages war wieder mal eine Besichtigung angesagt, darunter von höheren Reichswehroffizieren. Schon am Vormittag durfte kein W.C. mehr benutzt werden. Das Verbot, die Baracken während des Tages zu betreten, wurde besonders scharf kontrolliert. Wir marschierten, besonders viel ältere Leute, Stunden und Stunden auf dem grossen Appellplatz herum. Da zuweilen die Natur stärker ist als Angst und Wille, Hessen ältere Leute einfach im Marschieren oder beim „rührt Euch“ ihr Wasser, wo sie sich grade befanden. Es war ein Segen, dass es regnete und der Platz ohnehin feucht war. Kein Mensch sagte etwas. Auch Disziplin hat anscheinend ihre Grenzen. Bei dieser Besichtigung fuhr ein Reichswehroffizier einen Blockältesten an, warum nicht geheizt sei. Es wurde jetzt Erlaubnis gegeben, die Baracken zu heizen. Besichtigungen waren überhaupt häufig, einmal auch von Pressevertretern. Die Nähe Berlins war wohl überhaupt ein Glück für uns.

An einem anderen Tage erhielt ich mit einigen anderen Kameraden aus meinem Heimatort Befehl, uns nach dem Abendappell an der Schreibstube zu melden. Während unser Block zum Baden abrückte, mussten wir zu unserem Leidwesen noch Stunden und Stunden herumstehen, ohne zu wissen, was mit uns los sei. Schliesslich hörten wir, der Notar sei noch nicht da. Wir waren alle Grundstückbesitzer. Es war ziemlich kalt und wir vom frühen Morgen an ohne wesentliche Nahrung auf den Beinen, im Freien ohne Mütze, ohne Mantel. An diesem Abend wäre ich auch bald gekippt, zumal man stundenlang auf einem Fleck stehen musste. Wir wurden schliesslich einzeln hereingerufen. Die Polizei verlangte den Verkauf unserer Grundstücke. Ich sollte meiner Frau eine notarielle Vollmacht erteilen. Ich wollte etwas über den Kaufpreis in die Verkaufsvollmacht hereinnehmen. Der Notar erklärte: „Ich muss es ablehnen, über den Preis irgendetwas aufzunehmen. Den Preis bestimmt die Regierung.“ Wir unterschrieben natürlich alle. Was hätten wir in unserer Lage tun sollen? Da der Völkische Beobachter und der Angriff in den Blocks gehalten wurde, hatten wir ja die Gesetze gelesen. Aber Gesetze gaben ja nur den Ton an. Wesentlich war, was das volle Orchester des Parteiapparates daraus machte. Und das konnten wir im KZ nicht wissen. Ein oder zwei Tage später war einer der Kameraden, die zu meinem Tisch gehörten, schon beim Morgenappell so krank, dass er nicht mehr ohne Hilfe stehen konnte. Da ich Tischältester war, beauftragte mich der Blockälteste, mich um ihn zu kümmern. Ich führte ihn zu der Kolonne der Revierkranken. Als wir hörten, dass wir uns bis halb zwei am Tor anstellen müssten, sagte ich ihm, das würden wir beide nicht aushalten, dann wollten wir lieber sehen, uns noch irgendeiner Arbeitskolonne anzuschliessen. Hier ist noch ein Vorgang nachzutragen, der sich bei der obenerwähnten Besichtigung abspielte. Einer von meinen Kameraden von unserem Tisch war schwer zuckerkrank. Seitdem er in der Baracke bewusstlos geworden war, erhielt er laufend seine Insulinspritzen. Am Tage der Besichtigung war der Sanitäter (alles Häftlinge) grade beim Spritzen, da erschien der SS-Arzt und warf unseren Kameraden mit einem Fusstritt heraus, dass die Kanüle abbrach. Er hat uns das sofort erzählt. Kehren wir zu der Schilderung vom Eingang dieses Absatzes zurück. Alle Arbeitskolonnen waren schon abgerückt, bis auf die ältesten Leute, die zum Holzplatz geführt wurden. Wir traten dort ein. Der Holzplatz lag zwischen der inneren und äusseren Mauer des Lagers. Hier wurde Reisig von einem Haufen zum anderen hin- und hergetragen. Mein Kamerad musste sich häufig übergeben und ich ihm den Kopf halten. Man kümmerte sich nicht weiter um uns, da man ja sah, dass er wirklich krank war. Zum Glück kam auch noch die Sonne heraus und verbreitete etwas Wärme. (Dezember). Wir kamen aber noch in eine kritische Lage, da ausgerechnet eine Alterskontrolle an diesem Tage stattfand und wir ja für dieses Kommando viel zu jung waren. Es gelang uns glücklicherweise, uns um die Kontrolle zu drücken. Mein Kamerad meinte gegen Abend zu mir: „Du bist so ein guter Mensch, ich habe so ein Gefühl, Du wirst heute entlassen.“ Als wir abends zum Appellplatz zurückkamen und bei unserem Block eintreten wollten, blinzelte mir unser Blockältester zu. Ich trat näher. „Wirst morgen entlassen. Gratuliere.“ Das Gefühl des Aufatmens und der Freude beschreiben zu wollen, ist mit Worten nicht möglich. Am nächsten Morgen standen wir, etwa 200 Mann, „frisch rasiert“, wie es der Befehl vorschreibt, wenn es zur Entlassung geht, vor der Schreibstube. Warten. Warten. Dann wird nach Namen aufgerufen. Wieder warten. Jetzt werden Gruppen gebildet, offenbar entsprechend der Fassungskraft des Badesaales. Ich gehöre zu einer der letzten Gruppen. Wir sehen auf Handwagen unsere Gepäckbündel anfahren. Schon steht die erste Gruppe bereits in Zivil am inneren Tor. Wir stehen nun vor dem Eingang der Badebaracke. Wer eine weite Reise hatte, konnte sich melden. Der bekommt ein sauber verschnürtes Paket mit geschmierten Stullen. Wir hätten uns alle gemeldet, hätten wir geahnt, wie lange sich die Entlassung hinziehen würde. Endlich kommen wir zum Baden heran. Zum Ankleiden finden wir unsere Zivilsachen als zusammengeschnürtes Bündel vor. In diesem Zustande waren sie desinfiziert worden. Danach sahen sie auch aus. Jetzt begriffen wir, warum die Entlassenen, die wir häufig von der Arbeitsstätte in der Siedlung beobachtet hatten, immer den Hut in der Hand trugen. Die Hüte waren sämtlich zu klein geworden. Als wir angezogen waren, hiess es alle Taschen nach aussen umstülpen. Wir wussten, dass wir keinerlei Mitteilungen, nicht einmal die empfangene Post mitnehmen durften. Nur amtliche Schriftstücke durften wir behalten. SS-Leute kontrollierten. Dann traten wir auf Namensaufruf an einen Tisch heran, wo ein anderer SS die Brieftaschen und die Wertsachen wie Uhr, Füllhalter und dergleichen zurückgab. Manchmal machte er seine Bemerkungen, so auf das Bild der Frau: „Das ist also die Sara.“ Bei einem war der Pelzmantel nicht zu finden gewesen. Er wurde in allen Lagerräumen herumgeführt, bis er schliesslich seinen Pelz fand. Nun konnten wir diesen Raum verlassen. Jetzt standen wir wieder da, wo wir schon am Morgen gestanden hatten, aber jetzt in unserer Zivilkleidung mit warmer Unterwäsche und im Mantel. Die Blocks waren schon zum Mittagsappell angetreten. Nach einer Weile marschierten wir zum Torhaus herüber und traten auf der Innenseite an, Front zum Appellplatz. Der Lagerkommandant erschien: „Ihr werdet entlassen, damit ihr schnellstens aus Deutschland verschwindet. Lasst euch hier nicht zum zweiten Male blicken. Wenn jemand eine Beschwerde hat, dann trete er vor.“ Es meldete sich keiner. Nun konnten wir das innere Tor passieren. Jetzt standen wir vor den Büros angetreten, die sich innerhalb der äusseren Umfassungsmauer befinden. Es war bereits Nachmittag geworden. Die, welche eine weite Reise hatten, packten die empfangenen Stullenpakete aus. Aber sie gaben kameradschaftlich ab. Wir wurden namentlich aufgerufen, um ein Formular zu unterschreiben, dass wir keinerlei gesundheitliche Schäden erlitten und keine Ansprüche gegen die Lagerverwaltung hätten. In einem anderen Büro wurde uns genaue Abrechnung über das abgelieferte Geld - wir hatten Wochenraten von 15 Mark für die Kantine bekommen - vorgelegt und der Rest ausgezahlt. Geldtelegramme, die noch eingelaufen waren, wurden noch berücksichtigt. Nun waren wir eigentlich fertig. Aber wir standen und standen. Alle Augenblick kamen SS-Leute vorbei, was zum Strammstehen nötigte. Einer befahl uns, kehrtzumachen, damit unser Anblick sein edles Arierauge nicht beleidigte. Es wurde dunkel. Wir standen immer noch. Wir sollten mit unserem Transport noch einige mitnehmen, die anscheinend noch auf telegraphische Weisung zur Entlassung kamen. Endlich in der Abendstunde erschien ein SS im Stahlhelm. Links um! Und unsere Kolonne marschierte aus dem äusseren Tor. Er führte uns bis zu dem Schlagbaum dicht vor Oranienburg, dann gab er uns frei. Frei! Jetzt lösten wir uns in Gruppen von Freunden und Bekannten auf. Manche kauften gleich in den Läden der Stadt Kuchen oder Zigaretten. Wir hatten ja seit dem Morgen nichts zu essen gehabt. Ich eilte, zum Bahnhof zu kommen, um möglichst schnell Berlin zu erreichen. Endlich um sieben fuhr der Vorortzug ab. Als ich im Bahnhof Friedrichstrasse die Rolltreppe zum anderen Bahnsteig hochfahren wollte, flüsterte es hinter mir: „Sie kommen von Oranienburg?“ Schon die Gestapo? erschrak ich. Da sprach er schon weiter: „Vom jüdischen Hilfsverein. Brauchen Sie etwas?“ Ich dankte. Manche hatten nicht einmal das Fahrgeld zum Nachhausefahren. Ich fuhr zunächst zu meinem Bruder, der schon früher entlassen war. Meine Frau hatte gerade an diesem Tage Berlin verlassen. Ich meldete mich telephonisch.

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