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Chronik und Quellen
1938
Dezember 1938

Bericht über Pogrom und Emigration

Rudolf Bing schildert 1940 im Rahmen eines Preisausschreibens der Harvard-Universitiy seine Erlebnisse während des Novemberpogroms in Nürnberg und seine Emigration Ende des Jahres 1938:

Nun komme ich zu dem Höhepunkt Hitlerscher Judenpolitik, nämlich zu den Ereignissen des 9. November und der folgenden Tage, als der Legationssekretär vom Rath der deutschen Botschaft in Paris seinen Verletzungen durch den polnischen jüdischen Staatsangehörigen Grünspan erlegen war. Nicht als ob dieser Vorfall die Bevölkerung in Wirklichkeit irgendwie erregt hätte. Das Strassenbild zeigte beim Bekanntwerden der Nachricht auch nicht die geringste Veränderung. Aber in Nürnberg erhielt die gesamte SA den Befehl, um Mitternacht auf dem grossen Marktplatz in voller Uniform anzutreten. Es wurden dann ihre einzelnen Abteilungen auf die ganze Stadt verteilt. Alles, die Zuteilung jedes einzelnen Strassenzugs, war vorgesehen, jede Schar hatte von vornherein ihren ganz bestimmten Bezirk unter ihrem bestimmten Führer zugewiesen erhalten. Keine nichtuniformierte Zivilperson war beteiligt, als die Abteilungen in ihre Bezirke abmarschierten. Wir wohnten im ersten Stock eines grossen Gebäudes, im Eigentum meiner Familie stehend, das einen sehr grossen unbebauten Hof mit Hintergebäuden und Lagerhäusern hat.

Gegen drei Uhr morgens fuhren wir, meine Frau und ich, aus dem Schlafe auf. Vor der Haustüre hörten wir entsetzliches Gebrüll, im Dunklen sah ich einen Haufen Menschen vor dem Hause stehen, an allen Klingeln wurde geläutet, und Stimmen schrieen: „Aufmachen, sofort aufmachen.“ Ich rief sofort das Polizeipräsidium an und sagte nach Nennung meines Namens: „Ein Pöbelhaufen versucht, in mein Haus einzudringen.“ „Sind Sie arisch?“ fragte eine weibliche Stimme. „Nein“, antwortete ich. Die Verbindung wurde hierauf von ihr ohne weitere Bemerkung abgebrochen.

Inzwischen hatten die Leute vor dem Hause die Türfüllungen durchbrochen. Sie hatten die notwendigen Instrumente wie Aexte und dergleichen bei sich. Sie stürmten die Treppen hinauf zunächst in die oberen Stockwerke. Wir waren allein in der Wohnung, da wir uns wegen der bekannten Dienstbotenschwierigkeiten für Juden schon lange ohne Hilfe zurechtfinden mussten. Worte vermögen es nicht ausdrücken, was ich in diesen kritischen Minuten der Geistesgegenwart und Klarheit meiner lieben Lebensgefährtin zu verdanken habe, die, obwohl leidend, auch nicht eine Minute den Kopf verlor.

Wir hörten jammervolle Schreie auf der Treppe, offenbar wurde ein jüdischer Nachbar - wir erkannten seine Stimme - misshandelt. „Wir wollen um keinen Preis in ihre Hände fallen.“ Meine Frau war es, die diesen Entschluss zuerst fasste. Mehr spielerisch hatten wir uns vorher manchmal überlegt, wie man wohl aus unserer Wohnung bei etwaiger drohender Verhaftung entkommen könne. Danach handelten wir jetzt. Wir verriegelten die Wohnungstür, dann die Türe zu unserem Schlafzimmer mit anschliessender Garderobe, banden die Leinentücher zusammen und befestigten sie am Fensterkreuz. Ich äusserte Bedenken, ob dieses unsere Last aushalten würde. Schon hörten wir, wie auch die Wohnungstür eingeschlagen wurde. Das Fenster der Garderobe geht auf eine schmale Gasse, gegenüber einem Hopfenlager. Vor ihm, gegenüber dem Fenster, war ein Vordach, etwas niedriger, so dass zwischen ihm und dem Fenster die Gasse noch etwa zweieinhalb Meter frei bleibt. Rasch entschlossen warf ich eine Matratze auf das Vordach, wagte den Weitsprung hinüber, warf die Matratze auf die Erde hinab und sprang hinunter. Oben drangen die Leute in die Wohnung. Meine Frau glaubte, sich nicht auf das Halten des Fensterkreuzes und die Leintücher verlassen zu können. Plötzlich hing sie mit den Fingern angeklammert am Fenstergesims, liess los und stürzte glücklicherweise in meine Arme, der ich unmittelbar unter ihr auf der hinabgeworfenen Matratze stand.

Ich fiel natürlich mit meiner Last hin, aber die Matratze schwächte den Fall ab. Wir waren gerettet. Die Höhe, aus der sich meine Frau fallen liess, ist die normale eines ersten Stockes. Ich schätze sie auf etwa zehn Meter. Alles spielte sich in wenigen Sekunden ab. Wir waren natürlich nur notdürftig bekleidet. Die Nacht war glücklicherweise mild. Während oben in unserer Wohnung und in allen anderen jüdischen Wohnungen des Anwesens ein fürchterliches Krachen von fallenden Möbelstücken und beständiges Klirren von Glas und dergleichen gehört wurde, liefen wir über den grossen Hof im Schatten der Lagergebäude, hinter das Hinterhaus, in dem einige ärmere Leute wohnen, brachen Latten aus einem Zaun, schlüpften hindurch, bis wir in einem offenen Schuppen landeten, wo Weihnachtsbäume lagerten, unter denen wir uns frierend bargen. Das Toben und Krachen im Vorderhaus hielt noch Stunden an. Als der Morgen dämmerte, klopfte ich im Hintergebäude bei einer dort wohnenden christlichen Familie, auf deren Treue wir uns verlassen konnten, an. Wir erfuhren, dass die Meute unsere Wohnung verlassen hatte, und wir kehrten in unser Heim [zurück). Es bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. Wir wateten in den Zimmern förmlich durch Trümmer und Scherben. Spiegel und sämtliches Geschirr waren zerschlagen. Die sämtlichen Schränke waren umgestürzt und mit Stuhlbeinen und Aexten zertrümmert worden, meine Bilder, auf die ich stolz war, darunter wert-volle Oelgemälde, waren zerschnitten. Die Füllung der aufgerissenen Polstermöbel flog in der ganzen Wohnung umher. Kein Stuhl, kein Tisch mehr ganz. Auf dem Radioapparat war man offenbar mit Stiefeln herumgetreten. Meine Frau hatte sich bereits für unsere Auswanderung ausgestattet. Ihr hatte man sechzehn Kleider, fast durchweg neu, zerschnitten. Einige Schmuckstücke, die sie im Schlafzimmer zurückgelassen hatte, fanden sich aber unter den Trümmern. Gestohlen hatte man nicht.

Ich konnte im Verlauf des folgenden Tages feststellen, dass in gleicher Weise in meiner Kanzlei gehaust worden war, alle Schreibmaschinen waren gänzlich zerschlagen, wie auch das sonstige Mobiliar. Die Akten waren in allen Räumen zerstreut oder gänzlich zerrissen.

In der ganzen Stadt boten die meisten jüdischen Wohnungen den gleichen Anblick. Namentlich waren aber alle Läden vollständig demoliert. Bald hörte man aber noch viel traurigere Botschaften. Am Nachmittag des Vortages hatte meine Frau drei Jugendfreundinnen bei sich gesehen, mit denen sie sich regelmässig einmal im Monat traf. Der Ehemann der einen war in dieser Nacht vor den Augen seiner Frau erschlagen worden, sie selbst lag mit schweren Verletzungen im Gesichte im Krankenhaus. Der Ehemann der zweiten war im Gesicht und am Kopf verletzt worden, schwebte Monate lang zwischen Leben und Tod und behielt als dauernde Folge eine Lähmung des einen Armes und erhebliche Sprachstörungen, der Ehemann der dritten aber war aus seiner Wohnung geholt worden und befand sich auf dem Transport nach Dachau ins Konzentrationslager.

Wenn ich nur die Schicksale dieser Nacht in meinem näheren Bekanntenkreis schildern wollte, müsste ich ein eigenes Werk schreiben. Eine Freundin von uns war mit ihrem dreijährigen Töchterlein allein. Die Barbaren drangen auch in das Kinderzimmer und zerbrachen vor dem weinenden Kinde mit höhnischen Worten seine Puppen und Spielsachen. Dann sagten sie zu der Mutter: „Deinen Balg kannst Du im Jordan ersäufen.“ Eine andere Dame ihres Freundeskreises war allein in ihrer Wohnung. Nachdem die Bande dort ihr Werk vollendet hatte, trat der Anführer auf sie zu, schlug ihr ins Gesicht mit den Worten: „Da hast Du die Rache für Paris.“ Ein anderer Bekannter lag nach tags zuvor erfolgter, an sich ungefährlicher Bruchoperation noch unter den Folgen der Narkose und verbunden im jüdischen Krankenhaus in Fürth. Polizeibeamte kamen, ihn zwecks Abtransportes nach Dachau zu holen. Sie befahlen ihm aufzustehen. Er musste gehorchen und brach nach einigen Minuten, vom Herzschlag gerührt, tot zusammen.

Allein in der Strasse, wo der oben erwähnte Todesfall des Mannes einer Freundin meiner Frau sich ereignet hatte, waren drei Männer erschlagen worden. Ueberall hörte man von Selbstmorden, begangen in der Verzweifelung. Zwei Witwen, die diesen Ausweg wählten, sind mir dem Namen nach bekannt; den Selbstmord der beiden Geheimräte Frankenburger habe ich schon früher erwähnt.

In der gleichen Nacht waren mehr als dreihundert jüdische Männer verhaftet worden, ferner fast die gleiche Zahl in Fürth. Alle von ihnen, die unter 58 Jahren waren, kamen nach Dachau, die anderen, darunter der 78jährige Vorstand der Kultusgemeinde, blieben etwa eine Woche im Nürnberger Vollstreckungs-Gefängnis. Das Schicksal der in Dachau Befindlichen, wo sie mit Leidensgenossen aus ganz Süddeutschland zusammentrafen, war das zu erwartende. Grosse Baracken und Sträflingskleider mit dem Davidstern versehen, waren für sie vorbereitet, ein Beweis, dass man mit dieser Aktion lang vorher gerechnet hatte und dass auch ohne die Ermordung des Herrn vom Rath es soweit gekommen wäre.

Nach Monaten erst kamen die in Dachau Internierten zurück.

Als am Morgen dieser Unheilsnacht die nicht als Polizei oder SA-Mannschaff beteiligte Bevölkerung erwachte und das Zerstörungswerk erblickte, trat eine Folge ein, die die Urheber nicht erwartet hatten. Unverkennbar bemächtigte sich ein tiefes Gefühl der Depression und der Beschämung des Publikums. Zum ersten Male wagten sich Kreise der übrigen Bevölkerung heraus, um uns ihr Mitgefühl zu zeigen. „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein“, bekam man zu hören. Ich weiss von einem Lehrer einer höheren staatlichen Lehranstalt, der unter dem Eindruck von zerstörten Wohnungen in seinem Hause sich bei seinen Vorgesetzten krank meldete und unverzüglich sein Pensionsgesuch einreichte, da er einem solchen Staate nicht mehr dienen wolle.

Namentlich war aber die Arbeiterbevölkerung entrüstet. Was tat die Partei und SA? In den Arbeitervorstädten schickte sie überall ihre Spitzel in die Wirtschaften, die mit den Gästen Gespräche über die Ereignisse anknüpffen, um unvorsichtige Aeusserungen zu provozieren und anzuzeigen. Ein alter Arbeiter hat mir dies in absolut zuverlässiger Weise erzählt. Herr Streicher hielt am Tage nach der Schreckensnacht eine Art Siegesfeier auf dem Hauptmarkt.

Doch will ich meine persönlichen Erlebnisse weiter berichten. In der der „Kristall-Nacht“ folgenden wohnten wir bei meinem Schwager, der gegenüber dem Streicher’schen Palais wohnte und dessen Wohnung verschont blieb. Wir wollten auch in der folgenden Nacht dort bleiben, jedoch erschien am Nachmittag eine grosse Anzahl von Gestapo-Leuten, die meinem Schwager erklärten, er habe sofort seine Wohnung zu räumen und Nürnberg zu verlassen, da in unmittelbarer Nachbarschaft Streichers Juden nicht geduldet würden. Diese Gestapo-Leute blieben in der Wohnung. Ein Möbelwagen und Packer wurden geholt, und unter beständigem Drängen der Gestapo wurde die Wohnung innerhalb einiger Stunden geräumt. Mein Schwager war ein schwer herzkranker Mann, dessen sich jedoch - als einziger - der Möbeltransporteur annahm. Mit seinem Personenauto brachte er ihn nach Erlangen, wo er die Nacht in einem Hotel verbrachte. Jedoch starb mein Schwager nach einigen Wochen an einem erneuten Herzschlag.

Angesichts dieser Vorkommnisse verliessen wir Nürnberg und eilten aufs Geratewohl zum Bahnhof, fuhren nach Stuttgart und verbrachten die Nacht im Reichsbahnhotel. Gerade während dieser Stunden der Nacht wurden in Stuttgarter Hotels viele Juden verhaftet. Uns blieb dieses Schicksal - wohl durch Zufall - erspart, und wir fuhren weiter nach Baden-Baden, bis die Verhältnisse in Nürnberg sich einigermassen beruhigten. Man benützte die Situation, um mit jüdischem Eigentum, besonders mit Grundbesitz, aufzuräumen. Es gab vier sogenannte Gauwirtschaftsberater, die mit dieser Aufgabe betraut waren und die ihre Stellung vor allem zum eigenen Vorteil ausnutzten. Gültigkeit all’ dieser Transaktionen sollte von besonderen Regierungsgenehmigungen abhängig gemacht werden. Die Gauleitung bekam Wind, dass diese Bestimmung an einem gewissen Tag in Kraft treten sollte und alle Grundstücksgeschäfte erfassen sollte, die an diesem Tage noch im Grundbuch eingetragen wären. Der betreffende Tag war ein Montag. Am vorhergehenden Sonntag wurden die Beamten des Grundbuchamtes Nürnberg, Richter und Sekretäre aus den Betten geholt, Funktionäre der Partei, die Gauberater mit den erzwungenen Vollmachten der jüdischen Eigentümer arbeiteten fieberhaft bei den Notariaten. Dies alles, um die Eintragungen im Grundbuch noch am Sonntag als dem letzten Termin ins Reine zu bringen. Unabhängige Richter und Notare mussten sich zu diesem Treiben hergeben.

Aber nach einigen Tagen erschien eine Kommission der Gestapo aus Berlin. Nicht nur die Gaufachberater, ungezählte andere, die an den Zwangsarisierungen beteiligt gewesen waren, wurden verhaftet. Zahlreiche Juden wurden vernommen, und einige Optimisten sahen schon eine Morgenröte des Rechtes. Aber dann trat plötzlich wieder Ruhe ein, die Verhafteten wurden wieder entlassen, und die entrechteten Juden bekamen nicht einmal den zehnten Teil des Wertes ihrer Grundstücke und Hypotheken, den man ihnen bewilligt hatte, ausbezahlt. So war wenigstens die Lage, als ich Mitte Mai 1939 Nürnberg verliess.

Die Nachlese der Nacht des 9. Novembers, die Herr Goebbels und seine Propaganda dem Auslande als eine spontane Volksbewegung darzustellen wagte, hielten die Regierungsorgane.

Herr Göring legte zur Füllung seiner Kassen der jüdischen Gesamtheit die bekannte Kontribution von einer Milliarde auf. Die Juden mussten innerhalb eines halben Jahres in vier Raten zunächst den fünften Teil ihres Vermögens abliefern. Zugrunde gelegt wurde dabei die Aufstellung ihrer Vermögen, die sie ein Jahr zuvor hatten abgeben müssen. Die durch die erzwungenen Grundstücksabtretungen nach dem 9. November erfolgten Verminderungen wurden nicht berücksichtigt. Ich selbst zum Beispiel war an einem derartigen Grundstück meiner Familie, seit fünfzig Jahren in deren Besitz, mit einem Anteil im Werte von cirka 40 000 Mark beteiligt. Ich hatte also 8000 Mark hierfür zu zahlen, obwohl mir als Gegenwert nur eine Forderung an die Nationalsozialistische Partei von 4000 Mark verblieb, die ich niemals erhielt noch wohl jemals erhalten werde.

Dazu kam, dass ich als Reichsfluchtsteuer den vierten Teil nicht etwa nur meines damaligen Vermögens zu entrichten hatte, sondern auch noch den vierten Teil dessen, was ich meinen Töchtern im Jahre 1933 und 1934 zur Ermöglichung ihrer Auswanderung nach Palästina gegeben hatte.

Dann musste der gesamte Schmuck und alles Silbergerät dem städtischen Leihhaus abgeliefert werden, immer je zwei silberne Löffel, Messer und Gabeln wurden meiner Frau und mir zur Mitnahme belassen. Die Auszahlung des Schätzungswertes von einigen tausend Mark, den ich dafür zu beanspruchen gehabt hätte, habe ich auch nicht mehr abwarten können. Meine gesamte bewegliche Habe war zerschlagen. Ich hatte Beträchtliches für Neuanschaffung und Wiederinstandsetzung für die Auswanderung auszugeben. Wäre ich gegen Tumult- und Aufruhrschäden versichert gewesen, so hätte es mir auch nichts genützt, da die Reichsregierung auch die angefallenen Versicherungssummen für das Reich ohne irgendwelche Anrechnung einzog.

Damit nicht genug, hatte ich aber für unser Auswanderergut im Schätzungswert von etwa 4000 Mark, aus dem Notwendigen bestehend, eine Abfindung von fast 10000 Mark zu bezahlen.

Dazu kamen Steuernachholungen nach einer eingehenden Buchprüfung durch das Finanzamt, dadurch hervorgerufen, dass die Auflösung meiner Anwaltspraxis natürlich Eingänge erzeugt hatte, die sich sonst auf einige Jahre verteilt hätten.

Ich führe dies alles nur deswegen an, weil es eben typische Erscheinungen sind, die wohl bei allen jüdischen Auswanderern sich gezeigt haben und die die deutschen Behörden auch anstrebten, denn der Jude sollte ja seiner Habe beraubt werden!

Wie mir ging es allen! Wir hatten endlich nach vielen eigenen Bemühungen und denen unserer Kinder in Palästina das so schwer zu erlangende Eltern-Zertifikat erhalten. Die Zeit drängte, das Visum des englischen Konsuls war befristet, die Schiffskarten waren zu einem bestimmten Termin gekauft, die Wohnung war gekündigt. Kriegsgefahr lag in der Luft!

Ein wohlwollender Steuerbeamter riet mir, abzuwarten, bis das Unrecht des Häuserraubes wiedergutgemacht sei. „Recht müsse doch Recht bleiben“, meinte der Gute, dem sieben Jahre Hitlerregime den altmodischen Idealismus nicht geraubt hatten. Ich verzichtete aber auf Zuwarten. Mit fieberhafter, unermüdlicher Umsicht erledigte namentlich meine Frau die Reisevorbereitungen.

Drei Tage lang weilte vor unserer Abreise ein jugendlicher Zollbeamter mit höchst arroganten Manieren in unserer Wohnung und durchstöberte unser Hab und Gut nach versteckten Devisen und nicht abgelieferten Schmuckstücken. Wehe uns, wenn er auch das Geringste hätte finden können. Ich weiss aber von anderen Fällen hauptsächlich anderer Städte, wo Zollbeamte recht erhebliche Bestechungen nahmen.

Nach diesen Ausführungen wird man mir glauben, dass zum Schlüsse mein Vermögen, das nahezu 125 000 Mark betragen hatte, nicht nur völlig aufgezehrt wurde, sondern ich mir noch einen Rest von nahen Verwandten geben lassen musste, um alle noch erforderlichen Ausgaben zu bestreiten.

Man scheint in anderen Städten Deutschlands noch zusätzliche Methoden zur Schröpfung der Auswanderer zu kennen. Im Bezirk Halle verlangt die Gestapo, dass der Auswanderer auf seine Kosten von einem ihrer Beamten an die Grenze begleitet werde. Er muss für diesen Beamten Fahrkarte dritter Klasse, hin und zurück, entsprechende Diäten und Schlafwagenkosten im voraus bezahlen. In einem mir bekannten Fall erklärte der betreffende Beamte dem Auswanderer, er solle sich nicht weiter um ihn kümmern. Dieser konnte dann seine Anwesenheit nur noch in der nächsten Schnellzugsstation feststellen. Er glaubte, dass der Beamte überhaupt nicht weiter mitfuhr.

Am Tage vor meiner Abreise aus Nürnberg wollte ich dortselbst bei der Deutschen Bank, mit der ich über dreissig Jahre arbeitete, einen grösseren Betrag zur Bezahlung meines Spediteurs und von Fahrkarten erheben. Ich wurde hingehalten. Plötzlich sauste ein junger Angestellter der Bank, mit dem ich noch nie zu tun gehabt hatte, geschmückt nicht nur mit dem Parteiabzeichen, sondern auch der grün-weiss-roten Plakette des italienischen Fascios, auf mich zu und schnauzte mich an, wie ich dazu komme, als Jude einen derartig hohen Betrag abzuheben. Ich versuchte ihn aufzuklären. Er aber hielt es für notwendig, die Devisenstelle des für mich zuständigen Steueramtes und die Zollfahndungsstelle anzurufen, in der Hoffnung, womöglich einen ohne Erlaubnis Reichsflüchtigen ans Messer zu liefern. Die mir bekannten älteren Beamten standen betroffen daneben und wagten keine Bemerkung.

Wenige Tage hiernach überschritten wir am Brenner die Reichsgrenze, jeder mit zehn Reichsmark in der Tasche, dem ganzen Ueberrest unseres Vermögens.

Und dennoch befreiten Herzens!

Jetzt verleben wir unsere alten Tage bei unseren Kindern auf dem Lande, die uns Obdach und Brot gewähren. Nach äusserlich sorgenlosen, innerlich leeren Jahren, nach Wirrnissen des Krieges und Verworrenheiten der Kriegsnachzeit, dann schliesslich nach dem Druck fanatischer Narren und Verbrecher haben wir das klare und reine Ziel des Aufbaus Palästinas vor uns. Wir sehen Kinder und Enkel dafür ihre Kräfte einsetzen, die, glücklicher als ihre Eltern, von Jugend auf die eigene Art erkennen und sich selbst getreu ihr Leben gestalten dürfen.

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