Reaktionen aus Arbeiterklasse und Bürgertum
Die Zeitschrift „Der Internationale Klassenkampf“ berichtet im Dezember 1938 in folgendem Artikel über die Reaktionen der deutschen Arbeiterklasse und der internationalen Bourgeoisie auf die Novemberpogrome:
Zu den Judenpogromen in Deutschland
Die Judenpogrome in Deutschland sind eine wohl überlegte und wohl vorbereitete Aktion der Regierung. Die Vorbereitungen dazu gehen bis zum Sommer dieses Jahres zurück. Damals kam eine Verordnung heraus, dass alle Geschäfte und Unternehmungen in jüdischen Händen durch ein Kennzeichen als solche bezeichnet werden mussten. Die zur gleichen Zeit angeordnete Vermögensaufnahme der Juden geschah offenbar zu dem Zweck, sie bei günstiger Gelegenheit tüchtig zu schröpfen, was jetzt durch die Milliardenbusse geschehen ist. Am 15. Oktober wurden allen Juden die Pässe entzogen. Die Verfolgungen in den Monaten Juli und August und die Massenausweisungen der polnischen Juden waren die Vorprobe.
Es kann auch gar keine Rede davon sein, dass es sich hier um spontane Aktionen der Bevölkerung handelt. Dagegen spricht, dass der nach dem Tode des Botschaftsrats sechs Stunden auf Eis gelegte „Volkszorn“ dann schlagartig im ganzen Deutschen Reich nachts um 2 Uhr losbrach. Zumindestens in den Grosstädten konnten auch die Privatwohnungen der Juden der Masse der Bevölkerung gar nicht bekannt sein. Sie waren aber wohl der NSDAP bekannt, die diese Aktion organisiert hat.
Diese Schandtaten haben auch nicht die geringste günstige Resonanz in der Bevölkerung gefunden. Ganz im Gegenteil. Die gewaltige Mehrheit der deutschen Bevölkerung - und erst recht die Arbeiterschaft - hat mit all diesen Bestialitäten nicht das Geringste zu tun. Trotz aller Gefahr sucht man den Opfern des Terrors zu helfen, wo es nur geht. Die Nazi selber geben sich über diese Auswirkung ihrer Aktion keiner Täuschung hin.
Die Ursachen, warum man den Vorfall in der Pariser Botschaft benutzt hat, um diese Aktion steigen zu lassen, liegen in den inneren Schwierigkeiten, in denen das Regime trotz seiner aussenpolitischen Erfolge steckt. Es sind die alten Schwierigkeiten finanzieller und wirtschaftlicher Art, verursacht durch die Aufrüstung und vermehrt durch neue Schwierigkeiten, die entstanden sind, einmal durch die ungeheuren Kosten und wirtschaftlichen Schädigungen und Störungen der Mobilisierungen und durch die Tatsache, dass die neu eroberten Gebiete wirtschaftlich und finanziell zunächst Zuschussgebiete sind und für die nächste Zeit auch bleiben werden.
Die Judenpogrome wären in diesem Umfange nicht möglich gewesen ohne den Münchener Erfolg. Der aussenpolitische Prestigezuwachs hat die Naziregierung das Risiko ein-gehen lassen, auf diese Weise die sogenannte „Weltmeinung“ herauszufordern und dadurch die Position ihrer Gegner im Auslande zu stärken.
Nach innen trägt die Sache ein ganz anderes Gesicht. Die Nazi wissen längst, dass es eine vollkommen aussichtslose Sache für sie ist, die Masse der Bevölkerung und vor allem die Arbeiter für sich zu gewinnen. Sie wissen sehr gut, was ihnen geblüht hätte, wenn sie einen Krieg riskiert hätten. „Wenn sie uns auch nicht lieben, so sollen sie uns wenigstens fürchten“, das ist ihre Parole. Die Judenverfolgungen mit allen ihren wohlorganisierten Scheusslichkeiten sind die Antwort der Nazi auf den Defaitismus der breiten Massen.
Natürlich ist das finanzielle Ergebnis auch nicht zu verachten. Es ist mit der Hauptzweck bei der ganzen Geschichte. Diese Methode wird fortgesetzt werden. Das nächste Objekt scheinen die widerspenstigen Pfaffen und vielleicht die Bekenntniskirche und die katholische Kirche in ihrer Gesamtheit zu sein. In den Augen der Nazi sind sie Defaitisten schlechthin, und vor allem ist bei ihnen noch viel mehr zu holen als bei den Juden.
Auch ausserhalb Deutschlands hat sich eine Welle des Abscheus und des Protestes gegen diese Judenverfolgungen erhoben. Ohne allen Zweifel ist das bei den Arbeitern und Werktätigen ein ehrlicher Zorn gegen diese Barbarei. Diese Stimmung ist so stark, dass sich ihr auch nicht die sogenannte Weltpresse, die Bourgeoisie und ihre Staatsmänner entziehen können, wenn sie auch meistens den Umfang und die Scheusslichkeiten des Pogroms möglichst zu vertuschen suchen. Sogar Herr Chamberlain hat einige Zähren des Mitgefühls für die unmenschlich verfolgten Juden vergossen. Aber bei ihm und seinesgleichen sind es nur Krokodil[s]tränen. Gibt es doch heute fast kein Land mehr, das den Juden nicht den Zutritt versperrt hätte, und jeden Tag werden jüdische Flüchtlinge mit Frauen und Kindern rücksichtslos über die deutsche Grenze zurückbefördert. Einige Staatsmänner sollen sogar die Absicht haben, bei der Naziregierung zu intervenieren, dass sie den Flüchtlingen 30 % ihres Vermögens lassen soll. Das zeigt die „Barmherzigkeit“ der Bourgeoisie im hellsten Lichte. Wenn einer Geld mitbringt, würden sie ihn zur Not noch in ihrem Lande aufnehmen. Aber die armen Teufel, denen man alles genommen hat oder die schon vorher nichts hatten, die können in der Nazihölle bleiben. Wahrscheinlich sind es doch meistens „Rote“ oder etwas ähnliches, und denen geschieht das nach der Meinung der wohlsituierten Bourgeois im Grunde ganz recht.
Es versteht sich am Rande, dass die von der deutschen Angriffslust sich bedrängt fühlenden Imperialisten die Gelegenheit benutzen, um Hitlerdeutschland eins aufs Dach zu geben, allen voran die Vereinigten Staaten. (Nur das Ueberbleibsel der glorreichen Volksfrontpolitik in Frankreich, die Regierung Daladier-Bonnet ist bereit, Hitlerdeutschland gratis aus der Patsche zu helfen.)
Das Mitgefühl der Bourgeoisie mit den verfolgten Juden ist Heuchelei. Echt dagegen ist das Gefühl der Angst, das selbst ihr faschistenfreundlicher Teil - und nicht zuletzt die „arische“ Bourgeoisie in Deutschland selbst - empfindet, wenn sie sieht, wie hier von den Stiefeln der braunen Banden die Begriffe des heiligen Eigentums und der bürgerlichen Gesetzlichkeit zertrampelt werden. Mit den Juden fängt es an, dann kommt die Kirche dran, und niemand weiss, wie das alles noch enden wird ... Was ist das für eine „Ordnung“, wo die Ordnungshüter von Zeit zu Zeit mit solchen Ausschreitungen beschäftigt und abgelenkt werden müssen, die nicht bestehen kann ohne Perioden von offenem und gesetzlosem Raub, Plünderung und Totschlag? Mit Entsetzen denkt die Bourgeoisie daran, welcher Geist schrankenloser Gewalttat besonders in der Jugend dadurch grossgezogen wird, und wie es erst aussehen wird, wenn die Massen genug haben und gegen die gesamte Bourgeoisie und die von ihnen eingesetzte Naziherrschaft losgehen werden.
Die Judenverfolgungen wirken auf die breiten Massen in Deutschland ohne Zweifel zunächst einschüchternd. Sie werden nicht der unmittelbare Anlass zu bedeutenderen Bewegungen gegen das Naziregime selbst sein. Aber indem die faschistische Diktatur ihre Herrschaft und die bürgerliche Ordnung nur mit solchen Methoden aufrechterhalten kann, zerstört sie zugleich die Grundlagen dieser Ordnung bis in die Wurzeln. Was Jahrzehnte sozialistischer und kommunistischer Agitation nicht erreichen konnten, das bringt sie damit zuwege: Den Verlust jeden Respekts vor den bürgerlichen Einrichtungen bei der Arbeiterklasse. Und das ist das einzige, was bei diesen Vorgängen nicht zu bedauern und nicht zu verurteilen ist.