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Chronik und Quellen
1938
Dezember 1938

Schwierige Auswanderung

Karl Sass [1] aus Wien beschreibt 1940 in einem Preisausschreiben der Harvard-University rückblickend seine Bemühungen um illegale Emigration im Dezember 1938:

Der Clucky-Tempel war zerstört, ebenso der Leopoldstempel und alle anderen auch. Einige Tage verstrichen. Nach und nach kam ich immer mehr in die tote Stadt, die Leopoldstadt. Wie jeder Melancholiker, so weidete auch ich mein Gemüt mit Trauer, deren es in Hülle und Fülle gab. Wohin ich kam, war dasselbe zu hören: Plünderungen, Beleidigungen, Verhaftungen usw. Ueberall gab es Leichen, überall spürte man Leichengeruch. Das Leben wurde noch unheimlicher, als es vorher schon zur Genüge gewesen war. Wir sahen nun endgültig ein, dass Hitler im Inlande sich nur mit Pogromen kräftigen könne. Ich sah immer mehr ein, dass ich früher richtig gesehen hatte, dass er dem Lande nicht nur nicht geholfen, sondern dass er ihm vielmehr geschadet hatte und immer wieder zu Pogromen Zuflucht nehmen müsse. Ich folgerte daraus, dass es für uns nur einen Ausweg gebe: hinaus mit uns! - wenn wir wieder Menschen sein, wenn wir Selbstachtung haben wollen.

Es hiess nun, alles zu Geld machen und koste, was es wolle: „Hinaus mit uns!“ Zwar wussten wir, dass draussen kein Dorado uns erwartet, dass man draussen vor allem Bettler ist, aber das Messer hing dort nicht mehr über dem Hals, wie es in Deutschland der Fall war. Man konnte das nervenaufreibende Dasein in Deutschland nicht mehr ertragen. Dabei wurde man noch immer von den Behörden bedrängt auszuwandern. So bekam ein Bekannter eine Vorladung zur Gestapo. Als er hinkam, wurde er mit der Frage begrüsst: „Wollen Sie auswandern, oder wollen Sie nach Dachau?“ Diese Fragestellung wurde gleich mutraubend. - „Natürlich will ich auswandern!“ - meinte mein Bekannter. „Warum sind Sie also noch da?!“ Es war gefährlich zu sagen, man habe nicht gewusst, wohin auszuwandern. Er verteidigte sich nur damit, dass seine Papiere in Ausarbeitung seien und dass er sofort nach Erhalt der Papiere auszuwandern gedenke. Als mein Bekannter die Frage, ob er bereits verhaftet gewesen oder in Dachau, verneinte, sagte er: „Aha, Sie haben sich gut zu drücken verstanden. Das nächste Mal soll Ihnen das Drücken nicht mehr gelingen. Ich gewähre Ihnen vier Wochen. Innerhalb dieser Frist haben sie das Reichsgebiet zu verlassen. Wollen Sie unterschreiben?“ - „Ja!“ erwiderte mein Bekannter.

Auf diese Weise spitzte sich die Auswanderungsfrage immer mehr zu. Niemand fragte mehr danach, ob sie legal oder illegal erfolgen soll. Es hiess: retten, fliehen, wo immer es ging.

„Zur Grenze!“ hiess nun der Tagesruf.

Man ging sogar nach Polen, um dem teutonischen Rassenwahn zu entgehen. Man zahlte, was man hatte, oder man borgte sich, wo man konnte, um über die Grenze zu kommen. Zu der beschleunigten Passbesorgung, die nun mit Volldampf einsetzte, begann die Intensivierung des Menschenschmuggels. Dieses unsaubere Geschäft blühte jäh auf. Hier handelte es sich nicht darum, den verfolgten Menschen zu helfen, sondern darum, ein gutes Geschäft zu machen. Unter den Schmugglern gab es, wie es sie immer unter solchen Leuten gibt, gewissenlose Betrüger, die oft den Armen noch das Letzte, das sie zu ihrer Rettung benötigten, herauslockten, sich so bereicherten und sich ein wohliges Leben gönnten. Es hat auch nicht wenige Juden gegeben, die sich daran beteiligten, illegale Emigranten auszuplündern und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Interessanterweise geschah dies alles unter den Blicken der deutschen Behörden. Obwohl nun die Nazis immer wieder hervorstreichen, dass die Juden asozial, dass sie angeblich ein Volk von Verbrechern seien, so haben sie ihre Aktionen gegen Gelehrte, Künstler, Kaufleute, Handwerker und Beamte gerichtet, die immer ehrlich ihr Brot verdienten, Sumpfblüten, wie man sie in den Grenzorten fand, Hessen sie ruhig gedeihen.

In der Praxis sah es ungefähr so aus: Ein Führer oder ein Fuhrwerker brachte Leute über die Grenze auf irgendeine Weise. Bekannte empfahlen den Führer weiter, und dieser hatte nun alle Hände voll zu tun. Das war natürlich noch der ehrliche Schmuggel. Natürlich konnte der Schmuggel viele Male gelingen, dann einmal misslingen. Aus diesem Grunde hat man die Taxe für die Ueberfuhr zu treuen Händen hinterlegt. So weit, so gut. Nun wussten die wenigsten die Adressen von solchen ehrlichen Schmugglern. Da wandte man sich an den und jenen und bat um Empfehlungen. Die Empfehlenden wollten zumeist auch etwas verdienen. Sie nahmen nun die Vermittlergebühr beim Emigranten und empfahlen ihm einen Führer, oder sie machten mit den Führern ab, gegen eine bestimmte Gebühr, es sei denn gegen den Vorzug, gratis über die Grenze gebracht zu werden, was noch als ehrlich zu bezeichnen ist, ihm Emigranten zuzuführen. Die Ausbeutung und die Ausnutzung der grossen Not hatte nun dadurch offene Türen, weil die Vermittler off sich ehrlich ausputzten und selbst als Treuhänder auftraten, dass sie kleine Taxen unter irgendeinem Vorwand verlangten und meistens bekamen, oder dass für ihre Mühe sofort die Taxe erlegt werden musste, widrigenfalls sie nicht vermitteln wollten. Manche Vermittler unternahmen off selbst die Führung und überliessen dann die Armen ihrem Schicksal, manche gaben vor, Grenzbehörden bestechen zu müssen, wozu sie Geld benötigten. Da die Emigranten das Damokles-Schwert über sich wussten, so blieb ihnen natürlich nichts anderes übrig, als sich auf Gnade und Ungnade dieser Menschen zu verlassen. Dabei waren jedenfalls diejenigen, die über genügendes Kapital verfügten, noch immer besser dran als diejenigen, die nur wenig Geld aufzutreiben vermochten. Die ersteren konnten versuchen, ein Misslingen verschmerzen, mit den Führern verhandeln, wählen usw., wohingegen der andere es nicht vermochte. So kamen meistens diese off noch ums Letzte.

Die Ueberführung sah ungefähr so aus: Man fuhr bis dicht an die Grenze heran und stellte sich zur Zoll- und Devisenkontrolle, manchmal auch zur Passkontrolle den deutschen Grenzorganen. Das musste geschehen, sonst war es sehr gefährlich. Es sind mir nur einige Fälle bekannt, wo auch die deutschen Grenzorgane übergangen wurden. Von dort wurde man oft wie wirkliche Schmuggelware überführt, wie z. B. versteckt in einem Wagen, oder man hatte einen kürzeren oder längeren Weg zu Fuss zurückzulegen, um die anderen Grenzorgane zu umgehen. Irgendwo stand ein Auto und führte die Emigranten in das nächste Hilfskomitee, das nun den Emigranten übernommen hat; der Mann war nunmehr von der Hitlerei gerettet. Die billigen Führer, also diejenigen, die kein Auto hatten, führten die Leute zur nächsten Grenzstation. Dort löste sich der Emigrant mit dem Gelde, das er aus Deutschland ausführen durfte (10 RM), eine Fahrkarte und begab sich in Begleitung des Führers zu den nächsten jüdischen Hilfsbehörden, und die Rettung war vollzogen. Begegnete man den Grenzorganen der Emigrantenländer, so verschwanden gewöhnlich die Führer, und die Emigranten wurden dann zurückgeschickt.

Die Deutschen nahmen dann die Zurückgeschickten verschieden auf. Es kam vor, dass man jemanden ins Konzentrationslager schickte, aber zumeist sagten sie, dass der zweite Versuch sicherlich gelingen werde, oder man wurde nach Köln geschickt, wenn man von Belgien oder Holland zurückgeschickt worden war, und von da versuchte man noch einmal und noch einmal sein Glück, oder man wurde glatt nach Hause geschickt. Häufig zeigten deutsche Grenzorgane selbst den besseren Weg. Sie waren überhaupt im grossen ganzen zu den Emigranten sehr menschlich.

Eine grössere Gruppe von Emigranten begab sich am Freitag zwischen Weihnachten und Neujahr auf den Weg. Das Wetter war ziemlich schlecht. Der Boden war durchweicht. Hoher Schnee lag auf den Feldern. Der Weg war unübersichtlich und schon dadurch gefährdet, dass man entweder im Schnee versinken, oder dadurch, dass man sich durch hinterlassene Spuren verraten konnte. Nun zeigten sich die Beamten an der Grenze sehr gewissenhaft. Ein junges Mädchen Hessen sie aus diesem Grunde nicht über die Grenze, weil sie Schuhe mit zu hohen Absätzen trug und der Weg sehr beschwerlich war. Auch eine Familie mit zwei Kindern, wo eines getragen werden musste, Hessen sie nicht durch. Die Mutter bat und flehte, aber er blieb hart und meinte, dass sie auf keinen Fall den Strapazen gewachsen sei und dass sie vielmehr für die anderen Emigranten nur eine Belastung sein muss. So kamen die anderen durch, das Mädchen und die Familie kehrten nach Köln zurück.

Oft schickte man die Kinder ganz allein über die Grenze in der Gewissheit, man werde sich ihrer schon erbarmen. Da sass ich einmal im Gemeindehaus in Köln und bemerkte daneben eine weinende Frau. Ich fragte sie nun nach dem Grunde, und sie brach erst recht in Tränen aus: Sie habe vor einer Stunde ihre einzige Tochter nach Amsterdam allein weggeschickt. Ihr Mann befinde sich im Emigrantenlager in Holland, und sie schickte das Kind weg unter der einzigen Hoffnung, vielleicht wird auch ihr gegönnt sein, ebenfalls nach Holland zu kommen, wo sie mit Mann und Kind wieder Zusammensein könnte. - Am nächsten Tage erzählte sie mir, dass das Kind in Amsterdam glücklich angekommen sei und vom Komitee übernommen worden. Sie war glückstrahlend und betrübt zugleich. „Wer weiss“, seufzte sie, „wann ich wieder Mann und Kind sehen werde!“

Die Führung über die Grenze kostete verschieden. Am teuersten waren die direkten Führungen, d.h. von Wien nach Brüssel, von Wien nach Amsterdam usw. Gewöhnlich sagte derjenige, der mehr verlangte, dass man dafür bei ihm sicher sei hinüberzukommen, wohingegen bei den ändern dies nicht so sicher sei. Auf Empfehlung eines alten Ehepaares trat ich im Dezember mit den obengenannten Herrn Liebig, Wimbergergasse 8, in Verbindung. Er nahm die höchst mögliche Taxe, u. zw. 500 RM pro Kopf. War er doch ein Freund Hitlers aus dessen Lichtentaler Zeiten.

Nach langen Unterhandlungen einigten wir uns, dass wir am ersten Weihnachtstage Wien verlassen sollen. Wir waren 4 Personen: das ältere Ehepaar, mein Kollege und ich. Er verlangte den ganzen Betrag schon in Wien [...], d.h. 2000 RM. Auch da kam eine Einigung zustande. Er bekam als Angabe 600 RM, das restliche Geld sollte er in Köln bekommen. Das Ehepaar hatte nach dem Verkauf von allem, was verkaufbar war, kaum 680 RM zustand[e] bringen können. Ein Neffe borgte ihm nun 200 RM. Ich borgte ihm 120 RM. Mit diesen 1000 RM ausgestattet, starten wir.

In der Nacht auf den Abreisetag erkrankte mein Kollege. Da er überdies einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt, so schwankten wir, ob wir fahren oder die Abreise aufschieben sollen. Ich begab mich nun zu dem Ehepaar und stellte die Möglichkeit in Aussicht, dass wir die Ausreise werden aufschieben müssen. Sollten wir nun nicht kommen, so sollten sie das als Aufschub der Reise betrachten. Ich hätte von vornherein „nein“ gesagt, aber das liess wieder der Kollege nicht zu.

Das Ehepaar begab sich nun selbst mit Herrn Liebig auf die Reise. Da fiel dem Kollegen im letzten Moment noch ein, dass es doch ratsam sei zu fahren, wir nahmen nun ein Taxi und eilten zur Westbahn, aber der Zug war bereits weg. So fuhren wir nach Köln mit dem nächsten Zug und hofften, den Liebig und das Ehepaar in Köln in Kreisen der Emigranten oder sonstwie zu finden, aber, hier angekommen, sahen wir, dass es unmöglich sei.

In Köln wimmelte es von Emigranten. Obwohl überall ein Schild angebracht war: „Juden unerwünscht“, meinte meine Hotelierin, dass Geld allein entscheide. Auch der Kellner sah gierig auf die Hände, ob man ihm ein Trinkgeld gebe, obwohl es nie nicht gestattet war, ausser den 10%igen Zuschlägen zum Konsum, und er war der liebste Kerl, wenn man ihm das Trinkgeld gab, obwohl er ein SS-Abzeichen im Knopfloch trug. So machten es viele Hoteliers und Kellner. Ich suchte nun in ganz Köln, aber weder Liebig noch das Ehepaar waren auffindbar: Ich telegrafierte nach Antwerpen zum Neffen des Ehepaares, bekam jedoch drei Tage später die Antwort, dass der Aufenthalt des Ehepaares ihm unbekannt sei.

Ich war sehr verärgert. Dabei vernahm ich, dass der Uebergang über die Grenze damals wesentlich erschwert war. Die Nervosität des Kollegen wuchs zusehends, und er drängte zur Rückkehr nach Wien. Ich wollte jedoch noch die Sachlage studieren und wenn möglich immer nach vorwärts und nicht nach rückwärts gehen.

Inzwischen wurde ich von meiner Frau verständigt, Liebig habe das Ehepaar beraubt und es irgendwo stehengelassen, ja sogar angeblich der Grenzpolizei übergeben. Da ich nun derjenige war, der Liebig die Angabe übergeben hatte, so gab es für mich kein Zögern. Ich entschloss mich nun, selbst nach Wien zurückzukehren. Ich glaubte mit Bestimmtheit, dass, wenn etwas noch zu retten wäre, so war ich der Einzige, der es vermocht hätte. Ehe ich dies jedoch getan habe, hatte ich noch versucht, Einblick in das Schmuggelwesen und das Leben und Treiben der Schmuggler und der zu Schmuggelnden zu beobachten.

Eine der wüstesten Schmuggelkneipen war das Café Jakobi am Mauritiuswall. Düster wie die jüdischen Gaststätten nun zumindest nach aussen hin sein mussten, machte es gleich beim Eingang einen sehr schlechten Eindruck. Drinnen war es allerdings ganz nett. Es musste sogar einmal ein vornehmes Restaurant gewesen sein. Es war geräumig und hell beleuchtet. An Ecken und Logen sassen immer Gruppen. Sooft ein neuer Mann kam, wurde er zunächst mit Misstrauen angesehen. Dann, nachdem man ihn bereits einige Male gesehen hatte, machte man sich an ihn heran. Man wusste ja immerhin, um was es sich handle, und so kam man gleich auf das Wesentliche zu sprechen. Es begannen Feilschungen und Verhandlungen. Junge Männer, die sich wichtig taten und mit Erfolgen protzten, boten ihre Dienste an, Hessen sich zunächst bewirten, versuchten herauszufühlen, ob man viel oder wenig Geld habe, damit man danach den Preis für die Ueberfuhr mache. Denn sie hüteten sich, den Preis unerschwinglich anzubieten. Hier beim Jakobi kamen auch Frauen der Unterwelt zusammen. Auch sie boten sich an, und man konnte zu verschiedenen Preisen die Frauen gewinnen. Es kamen natürlich auch Frauen und Mädchen, die an nichts anderes dachten als an die Ueberfuhr. Sie wurden oft belästigt. Manche gaben nach. Es gab solche Mädchen, die man dadurch gewinnen konnte, dass man ihnen die Ueberfuhr in Aussicht stellte. Da kamen auch Männer zusammen, die längere Zeit in Köln weilten, nunmehr kein Geld mehr hatten. Entweder sie bettelten bei denen, die noch etwas hatten, oder sie sassen so als unerwünschte Gäste, ein Bündel Unglück, wovon jeder Zoll ihres Wesen zeugte. So sassen sie hier, die einstigen achtbaren, tätigen, tüchtigen Männer mitten unter anderen, Desperados, vage Existenzen, gehetzt und gejagt, und niemand konnte sich erklären, warum und wofür.

Hier liess man sich den letzten Groschen abknöpfen in der Hoffnung, bald, bald erlöst zu werden, die gestrige Existenz in ein Bettlerdasein zu verwandeln. Und morgen sollten sie erwachen, jeder Mittel entblösst, in sich hineingrübelnd, eine zerfetzte, zertretene Seele, Wracks, Torsos von Menschen.

Da erzählte mir einer folgendes: Er mietete mit noch vier Leuten ein Auto für die Ueberfuhr. Das Geld wurde erlegt, und das Auto setzte sich in Bewegung. Unmittelbar vor der Grenze gab der Chauffeur vor, eine Panne erlitten zu haben. Alle mussten aussteigen, und der Chauffeur machte sich daran, das Auto zu reparieren. Dann stieg er ins Auto, tat, als ob er versuchte, ob er fahren kann, und raste mit Volldampf davon. Dann stellte es sich heraus, dass er ohne Nummer fuhr, und man konnte nicht urgieren, wer das war. Die 5 Leute meldeten sich bei der Grenzpolizei. Diese nahm ein Protokoll auf und versprach, alles zu unternehmen, um des Betrügers habhaft zu werden. Der Beamte war geradezu darüber empört. Es nützte nichts. Er setzte sie in den Zug und schickte sie nach Köln zurück. Nun sass er da und weiss selber nicht, worauf er eigentlich wartet. Er hat nicht einmal das Geld, um sich Gift zu kaufen. Aber wozu Selbstmord! Ist er denn mehr als eine Leiche? Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als wieder bei Leichen zu betteln. - Da ist ein Rechtsanwalt. Wie lange ist es her, da hatte er eine gutgehende Praxis. Er war angesehen und beliebt. Er hatte ein gutes Einkommen, und viele haben ihn im besten Andenken. Nun ist er nichts, oder besser, Objekt des Spottes. Er wird verlacht mit oder auch ohne Grund. Er bot sich jedem an, mit über die Grenze gehen zu wollen. Er bat und bettelte darum, denn er wagte es nicht, allein zu gehen, bei Wind, Schnee und frostiger Kälte. Da sitzt er bald da, bald dort und redet in jeden hinein, man möge sich seiner erbarmen und ihn mitnehmen. In einen Mantel gehüllt, aus dem einstige Wohlhabenheit zeugte, sass er da, der dürre Körper fröstelnd, die Wangen eingefallen, der Blick hohl. Zuweilen versuchte er sogar, auch mitzulächeln, aber es passte ihm nicht recht zu Gesicht, als ob er zeitlebens nie gelächelt hätte. Bitten und Betteln standen ihm besser zu Gesichte, und manchmal hat der Beobachter das Empfinden, sein Herz sei zum Zerspringen voll. Oder vielleicht ist es bereits geplatzt, und nur Reste von ihm legen Zeugenschaff davon ab, dass da ein Ebenbild Gottes sich befindet.

Da war eine hübsche Berlinerin, von allen beglotzt, von vielen begehrt, zur Nutte degradiert, die sich jedem anschloss, von dem sie erhoffte, er werde sie über die Grenze bringen oder, da sie schon manche Enttäuschung erlebt hatte, [dass] sie zumindest ein warmes Essen bekomme. Da haben wir eine Dresdnerin kennengelernt, mit der wir fast im Einvernehmen waren, gemeinsam ein Auto zu mieten, das Geld bei einem gemeinsamen Bekannten zu hinterlegen, als ich meinen Plan wegen der Liebig-Geschichte änderte. Zuerst war sie empört, dann aber, in Anbetracht der Wichtigkeit meiner Angelegenheit, was sie sogar sehr einschätzte, tröstete sie sich, und noch ehe ich von Köln Abschied genommen, stand sie mit einem anderen in Unterhandlungen.

Zu mir kam ein Bursche und bot sich an, zu verhältnismässig geringem Preise uns über die Grenze zu bringen. Er habe eine Schwester in Belgien, nicht weit von der Grenze entfernt. Er stehe mit ihr in Verbindung, und mit ihrer Hilfe würde die Ueberfuhr gesichert sein. Später erfuhr ich, dass er von Hotel zu Hotel, von Zimmer zu Zimmer ging und bot seine Hilfe an. Ich hegte ohnedies Misstrauen zu ihm, überdies war ich bereits entschlossen zurückzukehren.

Ausser dem Café Jakobi gab es noch das Cafe Hirschl, wo man den Emigranten begegnete. Oder sie kamen im Gemeindehaus zusammen oder in einem Privathause, bei einer Frau, die allen Bedürftigen, soweit sie es nur vermochte, zu Hilfe kam. Sie liess jeden, der es wollte, wenn nur irgendwo ein Platz war, übernachten, und man konnte dort auch verhältnismässig gut essen, u. zw. umsonst, wenn man kein Geld hatte, gegen ein geringes Entgelt, wenn man eines hatte. Sie mahnte jedenfalls nie.

Und überall begegnete ich denselben oder ähnlichen redenden Augen, traurigen verschlossenen Mündern, sei es nach Raub lechzend oder um Rettung bettelnd, gefärbte Weiber, die durch Gefallsucht hinüberkommen wollten, oder ausgeplündert ihr Fleisch begehrenswert anpreisen oder zur Schau stellen, um eine Mahlzeit, ein Schlaflager zu ergattern. Aber wer konnte gegen so einen Menschen einen Stein werfen? Wer war so rein von Sünden? Wer war schuld? Es tat einem eher weh, dass es dazu kam.

In der Sylvesternacht fuhren wir nach Hause. Um die Mitternachtsstunde blieb der Zug unterwegs stehen. Es war eine herrliche Nacht. Wir waren mitten in der Rheingegend, von hohen Hügelketten umgeben. Ein gestirnter Himmel blinzelte uns entgegen, und von Ferne auf einem Hügelrücken leuchteten die Lichter auf einem Christbaum. Da ertönte der Glockenschlag. Ich zählte zwölf Schläge. Dann kamen sämtliche Bedienstete in unser Abteil, um uns „Prosit Neujahr“ zu wünschen. Aufrichtig, es tat mir furchtbar weh. - Warum können Verbrecher so mächtig werden, wenn Menschen glücklich werden könnten, wenn sie diese Macht nicht besässen. Immerhin, das Leben ging weiter. Es war keine Zeit für sentimentale Betrachtungen.

Zu Hause zurückgekehrt, erfuhr ich, dass das Ehepaar sich augenblicklich in Köln befand. Das war für mich unangenehm. Niemand traute sich, zum Liebig zu gehen. Schliesslich konnte er ein Spitzel oder ein Gestapo-Mann sein. Man wusste, dass der Jude rechtlos ist, und das genügte. Aus Köln kamen jammernde Briefe. Die Leute waren gänzlich ohne Groschen. Wir sammelten nun und schickten ihnen, aber was nützte es. Wir hatten ja auch nichts. Endlich sammelten wir einen grösseren Betrag. Ich gab selbst etwa 80 RM. Die anderen, die Schwester und die Nichte, gaben etwa 80 RM, und bald hörten wir, dass sie nach Antwerpen gekommen sind. Dieses Geld hätte allerdings nicht viel genutzt, wenn nicht noch ein Schwager aus Kanada unter die Arme gegriffen hätte. Nun erfuhr ich den Sachverhalt mit Liebig. Natürlich nicht ganz klar, aber ungefähr. Liebig dürfte Geld über die Grenze geschmuggelt haben. Dabei soll er erwischt worden sein. Das ist allerdings nicht ganz zu glauben. Denn ich sah Liebig einige Wochen später, ich glaube aber nicht, dass man ihn so bald freigelassen hätte, wenn dem so gewesen wäre. Er sagte mir, dass wegen ungeschickten Benehmens, zu vielen Redens habe sich das Ehepaar selbst verdächtig gemacht. So wurden nun alle verhaftet. Umgekehrt, man hat ihn des Ehepaares wegen längere Zeit in Haft behalten, wohingegen sie bald freikamen.

In der Tat habe ich ihn in der ersten Zeit gar nicht sehen können. Seine Frau meinte, dass er verhaftet sei. Sie zeigte sich besorgt seinetwegen. Einmal erzählte sie mir, dass Gestapo-Leute zu Hause eine Hausdurchsuchung vorgenommen hätten, aber nichts gefunden. Kurz: Es waren allerhand Dinge, die noch bis jetzt mir ein Rätsel sind. Das eine weiss ich, Liebig hat das Geld, zumindest die 600 RM Angabe, und er behielt es. Im Gegenteil, er war noch grob.

Nun begann ich die weitere Bemühung um die Ausreise. Wieder war ich täglicher Gast bei der Kultusgemeinde oder im Palästinaamte. Obwohl immer wieder Gesichter verschwanden, und wir fragten uns immer wieder, ob die Verschwundenen verhaftet oder über die Grenze geschmuggelt worden sind, herrschte jedenfalls in den genannten Aemtern immer Bewegung. Dabei übte die Gestapo ihre Herrschaft aus. So war ich einmal Zeuge eines folgenden Vorfalles:

Dr. Murmelstein, der Leiter der Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde, regte sich einmal mit einem Beamten auf, da wegen dessen Schlamperei ein Akt verlegt worden ist. Er war ein wenig zu laut, aber der gerade hereingekommene SS-Mann mass ihn so von oben herab, dass Dr. Murmelstein stutzig wurde. Der SS-Mann meinte: „So laut!“ Drauf Dr. Murmelstein: „Ich werde doch wohl schon wissen, wie ich mein Amt zu verwalten habe.“ Der SS-Mann meinte bissig „Nein! Auch Sie müssen sich ruhig verhalten.“ Er sagte es so, dass der Angesprochene es vorzog zu schweigen und darüber hinwegzugehen.

Fußnoten

[1] Dr. Karl (Chaim) Sass war in Polen geboren worden und arbeitete als Lehrer in Wien. Als Staatenloser gelang ihm nach einem vergeblichen Versuch schließlich die Flucht nach Großbritannien. Seine Erfahrungen fasste er 1940 im Rahmen eines Preisausschreibens der Harvard-University (Nr. 197) unter dem Titel „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“ zusammen.

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