Auswanderung und Vermögenstransfer
„The New York Times“ druckt am 20. Dezember 1938 folgenden Artikel über Schachts Vorschläge zur Auswanderung der Juden und dem Transfer ihres Vermögens:
Nazis schaffen Grundlage für Flüchtlingsplan. Schacht unterbreitet dem [Evian-]Komitee in London Vorschläge - Kompromisslösung erwartet. Expertentreffen heute. Der Plan, die deutschen Exporte durch eine Steuer des Weltjudentums zu finanzieren, wird weithin verurteilt
von Otto D. Tolischus
Berlin, 19. Dez. - Deutsche Regierungsstellen gaben heute ein Kommunique heraus, in dem bestätigt wurde, dass Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht während seiner dreitägigen Besprechungen in London „bestimmte Vorstellungen entwickelt habe, wie die Abwanderung der Juden unter deutscher Mithilfe bewerkstelligt werden könnte“.
Zwar hieß es in dem Kommunique, dass „kein endgültiges Abkommen erzielt“ worden sei, doch wurde hinzugefügt, „man habe Vorbereitungen getroffen, damit die Leitung des bekannten Evian-Komitees die Besprechungen mit den zuständigen deutschen Stellen fortsetzen könne“.
Welche Haltung das Evian-Komitee dazu einnimmt, wird sich erst morgen bei einem Treffen der Finanzsachverständigen in London entscheiden. Doch geht man in deutschen Kreisen davon aus, dass dieses - vom Reich bisher brüskierte - Komitee bereitwillig die Gelegenheit wahrnehmen wird, mit Deutschland in Verhandlungen zu treten. Anfang Januar werden die Vertreter des Komitees in Berlin erwartet.
Über die Art der Vorschläge, die Dr. Schacht unterbreitet hat, hieß es in dem Kommunique feinsinnig, „alle in der ausländischen Presse erschienenen Berichte sind reine Spekulation, da Dr. Schacht mit keinem einzigen Journalisten gesprochen und keine Presseerklärungen abgegeben“ habe.
Warburgs Plan befolgt
Doch trotz des Schweigens von Dr. Schacht gibt es Grund zur Annahme, dass sich seine Vorschläge eng an den sogenannten Warburg-Plan anlehnen, von dem man annimmt, dass Schacht selbst dessen eigentlicher Verfasser ist. Dieser Plan sieht vor, die Zwangsemigration der Juden aus Deutschland an eine Steigerung deutscher Exporte zu binden und so die erschöpften Devisenreserven wieder aufzufüllen.
Dieser Plan, benannt nach dem Hamburger [Bankier] Max Warburg, wurde erstmals Ende 1935 unterbreitet, als die Juden infolge der Nürnberger Gesetze zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden. Doch trotz des Aufschreis, den diese Gesetze im Ausland auslösten, gelang es weder, der Weltöffentlichkeit die erforderlichen Zugeständnisse zur Umsetzung dieses Auswanderungsplans abzuringen, noch konnten die verschiedenen jüdischen Organisationen dazu veranlasst werden, ihre Differenzen über Mittel und Wege einer solchen Auswanderung beizulegen.
Würde der Plan abgelehnt, so meinten damals viele, so würden die Nationalsozialisten den Juden so lange die Daumenschrauben anlegen, bis die Welt bereit wäre, ihn zu akzeptieren. Dieses Stadium glaubt man nach den jüngsten antijüdischen Ausschreitungen sowie nach den Verordnungen, die die Juden entweder zu einem langsamen Tod oder zur Vernichtung durch „Feuer und Schwert“ verurteilen, nun erreicht zu haben. Diese Verordnungen sind ganz offiziell dazu gedacht, „die Auswanderung der Juden voranzutreiben“
Erweiterter Palästina-Plan
In seiner ursprünglichen Form stellte der Warburg-Plan eine Abwandlung des bereits existierenden Palästina-Abkommens dar, mit der deutschen Juden hinfort die Auswanderung in jedes andere Land gestattet werden sollte. Gemäß diesem Abkommen musste jeder nach Palästina auswandernde deutsche Jude sein gesamtes Vermögen, das ihm nach Abzug der Reichsfluchtsteuer sowie verschiedener Abgaben noch verblieb, bei der Reichs-bank in Form von Reichsmark einbezahlen. Das Äquivalent dieses Betrags wurde ihm von der Haavara-Bank in Tel Aviv in palästinensischer Währung wieder ausgezahlt - bis zu einer gewissen Grenze und in einem bestimmten Verhältnis zu den deutschen Exporten nach Palästina.
Der Höchstbetrag lag bei 50 000 Reichsmark; höhere Beträge konnten nur dann ausgezahlt werden, wenn damit deutsche Exportwaren bezahlt wurden, und zwar bis zu 60 Prozent ihres Werts, während die verbleibenden 40 Prozent in Devisen bezahlt werden mussten. Eine Zeitlang war Palästina aufgrund dieses Abkommens der größte deutsche Exportmarkt.
Der Warburg-Plan sah ein ähnliches Arrangement vor, das auf den Rest der Welt ausgeweitet werden sollte. Ein deutscher Jude, der in ein beliebiges Land auswandern wollte, sollte sein gesamtes Vermögen in Reichsmark bei der Reichsbank einzahlen, und der Gegenwert sollte ihm in der Landeswährung seiner neuen Heimat ausgezahlt werden und zwar in einem bestimmten Verhältnis zu „zusätzlichen deutschen Exporten“.
Steigende Exporte als Bedingung
Die Bedingung war jedoch, dass die deutschen Exporte, aus denen emigrierte Juden ausbezahlt werden sollten, tatsächlich die normale deutsche Ausfuhr steigern würden. Zudem sollte ein beträchtlicher Teil, und zwar nahezu die Hälfte des Kaufwerts, in Devisen an Deutschland bezahlt werden.
Zur Umsetzung dieses Plans wurde die Gründung einer „Liquidationsbank“ vorgeschlagen, die das Geld für die Exporte vorstrecken und den jüdischen Emigranten den Gegenwert ihres Sperrmarkvermögens in freier Währung auszahlen würde, um ihnen umgehend den Neuanfang in einem anderen Land zu ermöglichen. Diese Bank sollte durch Kapitalanleihen des internationalen Judentums finanziert werden.
Praktisch würde dies bedeuteten, dass die Bank eine echte Verkaufsagentur für zusätzliche deutsche Exportwaren wäre. Und da der Emigrant nur im Falle einer Steigerung der deutschen Ausfuhr Aussicht darauf hätte, seine Reichsmarkbestände einzulösen, würde jeder Emigrant automatisch zu einem Preistreiber und Handelsvertreter für deutsche Waren werden.
Wie eng sich Dr. Schacht an diesen Plan halten wird, bleibt bis zum Beginn der Verhandlungen offen. Gegenwärtig sind sich selbst die Mitglieder des Evian-Komitees, die mit ihm darüber gesprochen haben, noch nicht im Klaren darüber, wie der Plan im Einzelnen funktionieren und welche Auswirkungen er haben wird.
Auslandshilfe erwartet
Es wird jedoch als bezeichnend angesehen, dass alle öffentlichen und halböffentlichen deutschen Verlautbarungen die finanzielle Unterstützung vonseiten „reicher Juden aus dem Ausland“ geradezu zur Hauptbedingung jüdischer Auswanderung erhoben haben. Offenbar ist der Warburg-Plan in einem entscheidenden Punkt modifiziert worden. Dies legt zumindest das Lob der nationalsozialistischen Presse für das in Österreich praktizierte System nahe, bei dem sich reiche Juden „freiwillig“ veranlasst sehen, die Auswanderung armer Juden zu finanzieren. Der Warburg-Plan hätte natürlich die Auswanderung wohlhabender Juden erleichtert, doch Deutschland hat keinesfalls die Absicht, diese ziehen zu lassen und die armen Juden zu behalten.
Deswegen wurden wohlhabende jüdische Emigranten aus Österreich aufgefordert, neben den 25 Prozent Reichsfluchtsteuer und den 20 Prozent der sogenannten Judenvermögensabgabe weitere xo bis 15 Prozent ihres Gesamtvermögens beizusteuern, um die Auswanderung ihrer ärmeren Brüder zu finanzieren. Für diesen „freiwilligen“ Beitrag sollte, so der Vorschlag, ein fester Prozentsatz ihres Besitzes veranschlagt werden.
Ähnliche Beiträge sind auch in Deutschland erhoben worden, aber hier wurden sie angeblich zur Fürsorge verarmter Juden benutzt, die sonst den regulären Fürsorgeeinrichtungen zur Last gefallen wären. In Österreich hat man sie eingesetzt, um die Reisekosten der ausgewiesenen oder ausreisewilligen armen Juden zu bezahlen. Bislang wurden sie noch nicht dafür verwendet, um arme Juden mit Geld zu versorgen, aber möglicherweise könnten sie auch zur Deckung der notwendigen Kapitaltransfers genutzt werden. Quotensystem angedeutet
Angesichts der Dringlichkeit des Problems und weil eine „Liquidationsbank“ bislang nicht existiert, wurde eine weitere Variante ins Spiel gebracht: Demnach könnte der Warburg-Plan durch ein Quotensystem ersetzt werden, das auf einzelne Länder angewendet würde. Bei diesem System würden jüdische Emigranten bei ihrer Einwanderung in jedes andere Land den Gegenwert ihres Sperrkonten-Kapitals in „Quotengeld“ erhalten, das teilweise in Form zusätzlicher deutscher Exporte transferiert werden könnte, aber nur zum Teil, da Deutschland den Rest in Devisen bezahlt haben will.
Da solche Exportsteigerungen nicht von heute auf morgen möglich sind, hätten die Flüchtlingsorganisationen oder ihre Büros die Funktionen einer „Liquidationsbank“ zu übernehmen und den Emigranten zumindest einen Teil ihres gesperrten Vermögens vorzuschießen, um ihnen die Einreise in andere Länder zu ermöglichen.
Auf diese Weise wären nicht nur die deutschen Juden, sondern weltweit alle Juden, von denen man erwartet, dass sie das Geld dafür aufbringen, in die deutsche Exportkampagne verwickelt. Damit würden sie deutsche Exporte subventionieren, dabei helfen, jeden Boykott deutscher Waren zu brechen und das von Großbritannien vorgeschlagene, von deutschen Exporten unabhängige Handelssystem abzuwehren sowie indirekt die Rohstoffimporte mitfinanzieren, die Deutschland für seine Aufrüstung braucht.
Als Dr. Schacht dem Evian-Komitee seine Vorstellungen präsentierte, schloss er jedwede Erörterung eigener Pläne des Komitees aus. Parallel dazu versuchte die deutsche Regierung die ausländischen Vorbehalte gegenüber den anti-jüdischen Maßnahmen zu dämpfen. Zwar nahm sie keine ihrer Verordnungen zurück, doch offensichtlich verschob sie - zumindest vorerst - bereits angekündigte Maßnahmen.
Für den Fall aber, dass Dr. Schachts Vorschläge abermals abgelehnt werden sollten, haben Sprecher des Regimes keine Zweifel an der Alternative gelassen und daran, wie sich diese auf die Juden in Deutschland auswirken werde.