Lage der Juden in Zbaszyn
Max Karp (früher Berlin) schildert einem Verwandten am 16. Dezember 1938 die Situation der aus Deutschland abgeschobenen polnischen Juden im Lager Zbaszyn:
Lieber Gerhard.
Am 17. oder 18.11. sandte ich Dir einen Bericht über mein Schicksal und was mit uns Juden poln. Nationalität in Deutschl. seit dem 28.10. geschehen ist. Hast du diesen Brief bekommen? Gleichzeitig sandte ich an Henry Abe einige Zeilen wegen eines dringenden Affidavits für mich. Da ich bis heute keine Antwort erhalten habe, bin ich etwas beunruhigt.
Unsere Lage hier an der Grenze ist unverändert. Der Ort ist von Polizei streng abgeriegelt, auch am Bahnhof ist Polizeikontrolle. Nur Flüchtlingsleute über 65 Jahren können nach dem Inneren Polens weiterfahren. Wir anderen müssen eben zusehen, wie wir hier aus diesem Käfig herauskommen können, und da das nur durch ein Einreisevisum anderswohin möglich ist, erwarten wir mit Sehnsucht die Hilfe von draußen. Eine Anzahl Leute sind schon abgereist nach Übersee, aber 95 % sitzen hier noch fest.
Man hört über verschiedene Sender, daß den Juden in Deutschland zur baldigen Auswanderung von bestimmten Auslandsstellen verholfen werden soll. Hat man uns hier an der Grenze, wo wir in Baracken, in Fabrikräumen und in anderen Massenquartieren auf Strohsäcken herumliegen, schon vergessen?
Durch das eintönige Leben und unsere Notlage hier stumpfen wir von Tag zu Tag mehr ab. Außerdem kommt noch die Sorge dazu um unsere in Deutschland verbliebenen Sachen und Werte. Die Wohnungen stehen noch meistens so da (bis auf geplünderte), wie wir sie verlassen haben.
In Berlin sind wenigstens genügend Familienmitglieder zurückgeblieben, die nach dem Rechten sehen können; doch leiden sie darunter, daß sie von ihren Männern und Vätern getrennt sind (und umgekehrt).
In den Provinzstädten Deutschl. sind die Wohnungen von der Polizei versiegelt worden. Aber was soll nun aus all diesen werden? Man hört nichts mehr von Verhandlungen zw. Deutschl. und Polen! Angeblich sollen diese Mitte Januar fortgesetzt werden. -Wir haben hier in der Bürgermeisterei auf amtl. Formularen die ungefähre Summe der Werte angeben müssen, die uns in Deutschland gehören oder wir zurücklassen mußten. Vielleicht sollte diese Maßnahme zu unserer Beruhigung beitragen, denn man hofft doch schließlich, daß die polnische Regierung uns zu unserem Recht verhelfen wird!
Viele haben sich ihre Garderobe aus Berlin nachschicken lassen; die Zollkontrolle ist hier ziemlich streng, dazu hat man uns noch für die Herausnahme der Sachen einige Gebühren aufgeknackt (ZI. 3.80). Du siehst, man nimmt auch hier auf unser Schicksal wenig Rücksicht. Das Komitee greift hier helfend ein! Von Alex werde ich mir jetzt auch Verschiedenes schicken lassen, denn unser Aufenthalt hier kann sich noch viele Monate hinziehen, wenn uns von draußen nicht früher geholfen wird.
Ich wäre Alfr. Berglas sehr dankbar, wenn er mir bis zur Weiterreise eine Aufenthaltserlaubnis in London verschaffen könnte, damit ich von hier schneller wegkomme. Aber zunächst muß ich doch ein Affidavit haben!
Man spricht hier von einem Notaffidavit, auf Grund dessen man in eine bevorzugte Quote kommt. Gibt es so etwas für uns Flüchtlinge hier? -
Von A.B. habe ich einen tröstenden Brief und 100 ph.= 121 ZI. erhalten; er schreibt, daß in London schon sehr daran gearbeitet wird, daß wir bald von hier fortkommen. - Meinen Bericht, den ich an ihn sandte, wollte er dem dortigen Komitee vorlegen. -Eine englische Delegation ist vor Wochen durch diesen Ort gekommen, wahrscheinlich hat sie inzwischen dem Evian Komitee über unsere Lage Mitteilung gemacht. Jedenfalls ist bis heute von dieser Seite für uns nichts geschehen!
Die Lebensmittelzuteilung ist jetzt für uns geringer geworden. Vordem gab es tägl. pro Kopf etwa 100 gr. Butter, ½ Würfel Tomor und 3 x in der Woche Fleisch und ebenso Eier 3 x 1 [,..] pro Kopf. Von nun ab ist die Butter auf 40 gr., Tomor auf 10 gr. täglich reduziert worden und Fleisch auf 2 x in der Woche. Kartoffeln und Brot, Gries, Mehl, Nudeln etc. werden besser zugeteilt. Aber da Fett mit das wichtigste in der Ernährung ist, muß man tägl. Butter zukaufen. Wer kein Geld hat, trocknet so langsam ein. Man spricht auch, dass es bei der Verteilung und beim Einkauf „der Waren nicht mit rechten Dingen zugegangen“ sein soll. Anscheinend ist hier Abhilfe geschaffen worden. Möglich ist aber auch, daß dem Komitee nicht mehr genügend Geldmittel zur Verfügung stehen! -Was Dich vielleicht auch interessieren wird, ist, daß sich die Eltern von dem „berühmten“ Unglückshelden [...] und dessen bildschöne Schwester hier im Lager befinden; sie helfen hier in einer Feldküche (Gulaschkan.) mit.
Aber, lieber Gerhard, nochmals sende ich Euch über den Ozean meinen S.O.S. Ruf und ich hoffe, daß Ihr ihn hören werdet. Gebe mir bitte sofort Nachricht nach hier!!, wie es mit meinem Affidavit steht.
In der Hoffnung, daß es Dir sowie den übrigen Verwandten gut geht, verbleibe ich mit vielen Grüssen & Küssen Dein Max
Herzl. Grüße an Abe, Henry.
Bella, Erwin und Alex M[]sel! sowie Tante Ida
1) Meine Personalien laut Paß: Mendel Max Karp, 17.7.1892, Ruszelczyce
2) Wohnung vorläufig bis 1.2. oder 1.3.39 Berlin C 2, Wallnertheaterstr. 19
3) jetziger Aufenthalt bis zur Auswanderung: Max Karp c/o Ehrlich, Zbqszyri, Senatorzka 31, Poland
P.S. Von meinem Vater erhalte ich wieder Post, anscheinend hat ihn mein Schicksal „gerührt“.