Tagebucheintrag von Ruth Maier
Ruth Maier aus Wien beschreibt am 11. Dezember 1938 in ihrem Tagebuch den Abschied von ihrer Schwester, die mit einem Kindertransport nach Großbritannien fährt:
9 h Abend.
Dita ist weg. Jetzt fährt sie im Zug, auch jetzt, in diesem Augenblick. Sie lacht, packt das Essen aus, oder vielleicht hat sie Heimweh.
Es ist scheußlich, ein Tagebuch zu führen. Grauenhaft. Da auf der vorigen Seite, da steht noch: Dita fährt morgen weg. Und heute: Dita ist weg. Und so geht das weiter. Man sollte sich schämen.
Gestern also um 11 h im Schnellzug. Eine leere Stelle ist jetzt hier in unserem „Heim“. Mama sagt zu mir „Dittl“, und Großmutter weint, und Mama weint. „Scheiden, scheiden, scheiden, wer hat nur das Scheiden erdacht“. So heißt es doch in Danton’s Tod ... Es ist eine abgedroschene Wahrheit, daß es doch nichts ist als „Abschied nehmen“, das Leben. Grüßen und Abschied nehmen vielleicht. Von jeder Minute, jeder Sekunde!... Nur keine Sentimentalitäten, Ruth! Das tut nicht gut.
Es war gestern nur so, wie man es malen kann. In Hütteldorf draußen dunkel und schwarz. Mit Taschenlampen haben die jüd. Ordner geleuchtet. Und Kinder, bis 17 Jahre, Burschen und Mädels mit Rucksäcken und Kofferln. Immer noch einen Kuß. Noch einen und einen letzten. Neben mir hat eine Frau geweint, nicht leise für sich: Gewimmert hat sie, gestöhnt. Tief aufgeseufzt. Im ganzen Gesicht gebebt... Kleine 4jährige Kinder haben geschrien. Wahnsinn! Auf den Armen hat man sie noch tragen müssen. Und die Mütter! Die Väter von den Kleinen sind in Dachau ... Eine junge Frau, die hat sich zurückgebeugt, ihr Mann zu ihr hin. Eine hat gemurmelt: „Alle zwei auf einmal, alle zwei.“
„Mama“, hab’ ich gesagt, „Mama, schau, das ist unsere Jugend, die jüd. Jugend, und die wird aufrecht sein, die hat eine Schule durchgemacht, sie haben gelitten wie wenige, und sie werden ein neues Leben aufbauen mit ihren Händen. Manche, die Kleinen, werden sich die Hände blutig machen.“ Das denke ich jetzt so vor mich hin. Die Kleinen, die man von den Eltern weggerissen hat, werden vielleicht weinen in der Nacht. Ja! Wie ich sie gesehen habe, Juden, nur Juden, denen man die Kinder wegreißt, bevor sie sich noch satt geküsst haben, da denke ich: „Müssen sie nicht etwas Besonderes an sich haben, die Juden? Soviel Leid müssen sie ertragen. So viel Leid! Weil sie Juden sind! Deswegen. Es klingt so schön „beim Abschied spielten sich herzzerbrechende Szenen ab.“ Nein, das Herz zerbricht nicht so schnell. Mama sagt: „Wenn einer von den vielen dort gebrüllt hätte, ein einziger, so hätten alle begonnen.“ Nein, es hat niemand gebrüllt, geflucht. Nur geweint haben sie. Nur Tränen, nichts als Tränen habe ich geschaut. In einem kleinen Häuferl ist Dita mit anderen dort gestanden, im Dunkel. Nur ihren weißblauen Schal hab’ ich gesehen. Wie wir vorbeigegangen sind an diesem Häuflein jüd. Flüchtlinge, da hat sie auf einmal „Mama“ gerufen. Und hat gewinkt. An uns sind sie vorbei. Knapp! Noch einen letzten Kuss haben sie sich geben wollen, Dita und Mama. Ganz nah waren ihre Lippen, da hat sie der Ordner auseinandergerissen. „Machen Sie sich’s net schwerer.“
Jüdische Flüchtlinge. Sie werden verschiedenen engl. Familien zugeteilt werden. Dita wird ja bald schreiben. Sie soll ein aufrechtes Leben führen. Sie soll würdig sein. Es klingt schon alt. Und doch: „Ich werde mich bemühen, würdig zu sein.“ Und Dita auch. Lang’ werd’ ich sie nicht sehen. Und wie wird’s dann aussehen? In einem Jahr! Da sind wir schon in Amerika. Wir haben ja Affidavits. Wer hat da unlängst gesagt: „Wir fahren mit dem Permit nach Affidavit!“ Ja, ich laß mich treiben von meinen Gedanken, lege mir keinen Zwang auf ... ja, das Bild taucht da wieder auf. Ein hoher Bahndamm, eine mit Gras bewachsene Böschung. Oben ein Gitter. Drüben der Zug mit den hellen Fenstern. Burschen drin, die jüdischen Kinder. Und wie das die Eltern sehen, da hinten Waggons mit Kindern drin (wir durften ja nicht auf den Perron), da krochen sie alle wie die Tiere hinauf. Schrien hinüber, und die Buben drin ließen die Fenster hinunter, pfiffen, gestikulierten. „Mama“, hat einer geschrien. Ja! Ganz klar ist mir alles geworden. Im Dunkel draußen in Hütteldorf. Wir standen zusammen. Dita hatte Nummer 258. „Siehst du“, hab’ ich g’sagt, „jetzt bist du nur mehr eine Nummer.“ „Oh nein, ich bin noch immer die Judith Maier“ ... Ja und als die Nummer 258 aufgerufen wurde, geschwind hinein und marsch. Das Leben beginnt! Ja! Sonst bei uns jungen Leuten, da vollzieht sich der Übergang zum „Leben“ allmählich, behutsam, ohne Überraschungen. Jetzt! Wir werden hinausgeworfen. Heute noch im Gymnasium. Morgen, Dienstmädchen, ja, machen wir uns keinen blauen Dunst vor. Mama sagt zwar immer: „Aber geh, du gehörst doch dann zum Haus, die wissen doch, wer du bist.“ Das ist schnuppe! Ein Dienstmadel werd’ ich sein. Eine Proletarierin! Warum nicht? Dann gehöre ich wenigstens zu ihnen. Ganz und voll!
Und der Himmel war so klar, und die Küsse waren ohne Ende. Und die Frau neben mir hat gebebt und gewimmert. Und im Dunkel haben kleine Kinder geweint. Es war kalt und naß. Dita ist vorbeimarschiert. Der blauweiße Schal hat geleuchtet. Tapfer. Und die Jugend, die wird kämpfen.
Juden, Juden, Papa, Heinrich Heine.