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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Lage der Juden

Ernst Engländer berichtet am 25. November 1938 aus London über die Lage der deutschen Juden und bittet, über mögliche Hilfsaktionen in den USA nachzudenken:

Ich musste am Wochenende nach Deutschland und bin beide Strecken geflogen, Babs blieb bei guten Freunden von uns auf dem Land in der Nähe von London. Ich fuhr nach Berlin, weil ich dort nicht so bekannt bin wie in Hamburg und es deshalb vorziehe, meine Mutter dort zu treffen. Nach meiner Rückkehr hierher habe ich Dir, wie aus beiliegender Kopie ersichtlich, ein langes Telegramm geschickt, in dem ich versucht habe, Dir ein Bild der Situation zu vermitteln. Leider wird sich mein Telegramm wohl ähnlich lesen wie alle anderen Berichte, die man täglich den Zeitungen entnehmen kann. Es läuft schlicht und einfach darauf hinaus, dass Worte allein nicht ausreichen, um das in Deutschland herrschende Elend zu beschreiben. Alles, was man lesen kann, ist definitiv untertrieben. Abgesehen von meiner Mutter habe ich eine Menge Leute gesehen, die tatkräftig versuchen, die Probleme zu lösen, insofern bekam ich einen ganz guten Einblick in die Situation. Im Vergleich zur Misere der gesamten jüdischen Gemeinschaft kommt den Problemen des Einzelnen nur untergeordnete Bedeutung zu. Die Sorgen meiner nächsten Verwandten betreffen mich allein und müssen von mir persönlich gelöst werden, unter Aufbringung aller finanziellen Opfer, ganz gleich, ob ich mir das leisten kann oder nicht. Das ändert allerdings nichts an der Not der Massen. Der können sich nur diejenigen annehmen, die es sich leisten können, Abertausende von Dollars zu beschaffen, ohne dadurch ihren Lebensstil zu beeinträchtigen, und glücklicherweise gibt es in den Vereinigten Staaten eine ganze Menge solcher Leute.

Um eine persönliche Bemerkung hinzuzufügen und Dir ein Beispiel zu geben, das Du zweifellos glauben wirst und einzuschätzen weißt, möchte ich Dir folgendes erzählen. Meinem eigenen Bruder lauerte die Gestapo (Nazi-Polizei) in seiner Wohnung auf. Glücklicherweise war er nicht da und vorgewarnt. Er versteckte sich bei meiner Mutter, und als die Polizei auch dort nach ihm suchte, war er bei amerikanischen Freunden untergekommen. Auch da suchte ihn die Polizei, das heißt, er wurde von Ort zu Ort gehetzt wie ein Mörder. Schließlich teilte er meiner Mutter mit, er halte es nicht länger aus und wolle sich stellen. Mit allergrößter Überzeugungskraft brachte ihn meine Mutter dazu, sich weiterhin der Festnahme zu entziehen, was jedoch nach einem weiteren Tag auf der Flucht zu einem unausweichlichen Zusammenbruch führte, der Auswirkung auf seine Nerven sowie seine Nieren hatte. Man versuchte, einen Arzt zu finden, doch die jüdischen Ärzte waren alle selbst schon verhaftet, und schließlich ließ man einen nichtjüdischen Arzt kommen. Dieser schien Mitgefühl zu haben und bemerkte, dass der Zustand meines Bruders nicht verwunderlich sei und dass er in ein Krankenhaus müsse, ob er wolle oder nicht. Sie versuchten, ihn im Allgemeinen Krankenhaus in Hamburg unterzubringen, aber nach einer halben Stunde Warten wurde ihm die Aufnahme mit der Begründung verweigert, dass man dort keine Juden behandle. So landete er schließlich im Jüdischen Krankenhaus, wo er jetzt noch ist.

Andere Männer aus meinem engen Umfeld, entweder Freunde oder Cousins ersten und zweiten Grades, verstecken sich auf ähnliche Weise in Kohlenkellern und an anderen Orten, entweder in ihren eigenen Häusern oder in denen anderer Leute, wo niemals jemand die Tür öffnet, wenn es läutet, und nie das Licht angeschaltet wird, damit der Eindruck entsteht, dass niemand zu Hause sei. Natürlich handelt es sich hierbei um Einzelfälle, da sich die überwiegende Mehrheit ja in Konzentrationslagern befindet. Ein Freund von mir, den ich noch vor ein paar Wochen in Hamburg traf, ein Vater von sechs Kindern, wurde um drei Uhr morgens in seinem Bett verhaftet. Und, wohlgemerkt, das sind nur die Geschichten der wenigen Menschen, deren Namen mir etwas sagen, dabei gibt es Tausende anderer, die sich in der gleichen Not befinden.

Der Mann in Berlin, Dr. Beck, der für unsere Sache arbeitet und nur deswegen nicht verhaftet wird, weil er über 65 ist, weinte bitterlich, als er mir von dem Schicksal einiger Menschen im Konzentrationslager berichtete. Natürlich wollen die Deutschen, dass die Juden Deutschland verlassen, und diese sind alle bereit, jeden Pfennig und jedes Möbelstück, das sie besitzen, zurückzulassen. Aber die Schwierigkeit besteht darin, dass in jedem Land Einwanderungsbeschränkungen bestehen und alles daher furchtbar langsam geht. Dr. Otto Hirsch, ein Mitarbeiter von Dr. B[a]eck, und übrigens ein Neffe unseres Herrn Hirsch senior, wurde, da er erst etwa 50 ist, verhaftet und befindet sich gegenwärtig im Konzentrationslager Oranienburg. Die wenigen, deren Ausreisepapiere in Ordnung sind und die daher in der Lage sind auszuwandern, werden von den deutschen Behörden freigelassen. Vor Verlassen der Lager werden sie jedoch gezwungen zu schwören, dass sie nichts über die Vorgänge im Lager preisgeben. Dessen ungeachtet sind diese Männer Dr. B[a]ecks Informationsquellen. Als ich Letzterem von meinem bevorstehenden Treffen mit Frau Otto Hirsch erzählte, sagte er mir, das Leben im Lager sei tatsächlich entsetzlich und das Leiden dort nicht einmal mit dem Mittelalter zu vergleichen, eher mit dem Ägypten des Altertums, wo unser Volk mit der Peitsche zur Arbeit gezwungen wurde. Er bat mich, dies nicht Frau Hirsch zu erzählen, da sie den Eindruck habe, dass es nicht so schlimm sei.

Der Mut der Frauen ist wirklich unglaublich und höchst bewundernswert. Dies zeigt das Beispiel einer Cousine ersten Grades von mir, deren Mann in einem Konzentrationslager ist und die ein zweijähriges Kleinkind hat und das nächste demnächst erwartet. Die beiden Töchter von Otto Hirsch, deren Alter ich auf 16 und 14 Jahre schätze, spielten gerade Klavier und Cello, als wir ihnen einen Besuch abstatteten. Frau Hirsch war unterwegs, um einen Mann zu treffen, der gerade aus Oranienburg entlassen worden war, nachdem er seine Einwanderungsunterlagen erhalten hatte. Bei ihrer Rückkehr machte sie einen geradezu fröhlichen Eindruck, weil ihr Mann sie hatte grüssen lassen und ihr der Eindruck vermittelt worden war, dass es ihrem Mann ganz gut ginge.

Der Frankfurter Rabbiner ist entweder im Lager gestorben oder ermordet worden. Ein Cousin von mir, der auch hier in London ist, erzählte mir, er habe gehört, dass sowohl der Onkel seiner Frau, ein Mann von fast 65 Jahren, als auch ein Cousin von etwa 40 Jahren im Lager gestorben seien.

Wenn Du dies liest und an Deine Freunde weitergibst, möchte ich nur, dass Ihr Euch alle ein Bild von den Männern machen könnt, die da verfolgt werden. Der Frankfurter Rabbiner, wie auch seine Kollegen in anderen Städten, ist ein Mann wie Jonah Wise. Dr. Otto Hirsch ist ein Mann wie Ben Buttenweiser, Louis Grumbach und wie Du selbst. Er hat immer nur versucht, für das Wohlergehen der Anderen zu sorgen und seine ganze Zeit der Bewältigung von Problemen gewidmet. Fritz Warburg, den Bruder von Felix, hat ein ähnliches Schicksal getroffen. Auch er ist ein Mann wie jedes angesehene Mitglied der New Yorker Gemeinde. Tatsächlich wie sein Bruder Felix. Deswegen habe ich mein Telegramm mit dem Zitat unterschrieben: „There but for the Grace of God we go.“

Ich kenne Dein Interesse und die Arbeit, die Du für die Gemeinde insgesamt geleistet hast. Die Probleme sind so dringend und so erschreckend, dass es Menschen braucht, die ihre Arbeit stehen und liegen lassen und ihre ganze Zeit dazu nutzen, den anderen zu helfen. Viele herausragende Persönlichkeiten in Europa haben dies getan. Ich habe solche Menschen in Amsterdam und hier in London getroffen - weder verdienen sie daran, noch verlangen sie irgendeine Anerkennung dafür, sie erfüllen nur ihre Pflicht.

Da die amerikanischen Gesetze keine Einwanderung im großen Stil gestatten, sollte man wenigstens die europäischen Komitees mit finanziellen Mitteln ausstatten, die sich praktisch auf Millionen von Dollars belaufen müssten. Ich glaube, das Joint Distribution Committee weiß Bescheid und versucht sein Bestes, aber nachdem ich für ein paar Stunden Augenzeuge gewesen bin, wollte ich diese Bemühungen dadurch unterstützen, dass ich Dir meine Eindrücke vermittle. Ich könnte immer so weiterschreiben und doch nichts hinzufügen. Die Komitees hier leisten großartige Arbeit, und man erzählte mir in Amsterdam, dass ein arischer Hochschulprofessor mit einem Jahreseinkommen von 7000 Gulden 5000 davon gespendet habe. Insgesamt gibt es eine große Anzahl nichtjüdischer Spender.

An der holländischen Grenze sind Kinder angekommen und haben dank der Bemühungen eines holländischen Komitees in Holland und England ein neues Zuhause gefunden. Ein Augenzeuge hat mir berichtet, dass diese Kinder mit einer Schlinge um den Hals aus Deutschland herausgelassen wurden, deren Male auch jetzt noch zu erkennen sind. In Deutschland wütet der Verfolgungswahn, und diese Menschen müssen einfach herausgeholt werden, wenn man nicht danebenstehen und zusehen will, wie sie entweder umgebracht werden oder an den Folgen ihrer Leiden sterben. Kannst Du Dir vorstellen, während der Überfahrt auf der Queen Mary oder der Normandie ein kleines Boot in Seenot zu erblicken und tatenlos zuzuschauen, wie die Passagiere des kleinen Boots ertrinken? Es reicht nicht aus, diesen Menschen nur Rettungsringe zuzuwerfen. Die Rettungsboote müssen heruntergelassen werden, und alle müssen mit Hand anlegen.

Wie ich Dir in meinem Telegramm mitteilte, hängen das Niederbrennen der Synagogen, die Zerstörung der Geschäfte und das Zertrümmern der Schaufenster, von dem ich einiges mit eigenen Augen gesehen habe, zusammen. Die Gesetzesänderung des Abtreibungsparagraphen, das jüngste deutsche Machwerk, die besagt, dass es jüdischen Frauen nicht mehr verboten ist abzutreiben, weil kein Interesse an einer Fortpflanzung der jüdischen Rasse besteht, ist auch kaum mehr als ein Witz im Vergleich zu allem anderen, was ich gehört und gesehen habe.

Hältst Du es für machbar, dass das amerikanische Judentum ein 4000 m2 großes Grundstück irgendwo in einer abgeschiedenen Gegend der Staaten erwirbt und dies zu einem humanitären Ausbildungslager macht, das vom amerikanischen Judentum finanziert wird? Wo 50000-100000 Kinder bis zu einem bestimmten Alter lernen könnten, wie Menschen zu leben? Sie müssten natürlich außerhalb der Quote einreisen und wären darauf begrenzt, dort fünf oder zehn Jahre zu leben, bis sie nach und nach in das Einreisekontingent aufgenommen werden könnten und nach und nach in unterschiedliche Teile des Landes entlassen würden, wenn und falls die erste Einreisewelle abgeebbt ist. Dies ist nur ein Gedanke, der mir als mögliche Lösung zu dem Problem eingefallen ist, das uns alle beschäftigt.

Ich hoffe, dass sowohl dieser Brief als auch mein Telegramm, sofern Du dies für richtig hältst, den Weg in die Hände von Leuten finden werden, welche die Rettungsboote herunterlassen und Hand anlegen in einer Notsituation, die es in diesem Ausmaß seit den russischen und polnischen Pogromen nicht gegeben hat, und ich weiß nicht, ob diese auch so schlimm gewesen sind.

Dein ergebener

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