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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Leben im Hachschara-Lager

Ruth schildert ihrer Freundin Lilo in einem Brief vom 23. November 1938 das Leben im Hachschara-Lager Gehringshof bei Fulda in Flessen:

Meine liebe Lilo!

Jetzt bin ich also anstatt wie geplant in Erez, hier auf dem Gehringshof. Dein Brief wurde mir hierher nachgeschickt. Vielen Dank. Mir und uns allen geht es gesundheitlich G.s.D. gut. Von zu Hause habe ich in dieser Beziehung (so weit es geht) auch gute Nachricht. Mein Vater ist seit etwa 14 Tagen mit unbestimmtem Ziel verreist. - Hier auf dem G’hof fühle ich mich sehr wohl. Wir sind 22 Leute - leider mehr Mädchen als Jungen (darunter leidet die Tarbut-Arbeit), denn wir Mädel sind zum größten Teil neu, und auch gegen unsere Jungen, hauptsächlich die, die momentan weg sind, ziemlich unwissend, so ist also alles schwierig. Unsere Arbeit wird Dich ja interessieren. Ich arbeite in der Wäsche, d.h. diese u. die letzte Woche habe ich privat (für ein Mädel hier, das auf der Fahrt nach Polen einen Koffer mit Kleidern verloren hat) genäht. Meine Nähkenntnisse kommen mir also schon prima zugute. Sonst muß ich waschen, bügeln, stopfen etc. Arbeitszeit haben wir von 800 bis Vi12 Uhr: Dann Essen u. Pause bis V2100, dann wieder Arbeit bis 4 Uhr. Die Gegend hier ist landschaftl. so schön, u. wir wissen ja gar nicht, wie lang wir sie noch genießen können, da haben wir dann von 4-6 Freizeit, so daß wir spazieren gehen können.

- Ich mache es meistens so, daß ich mit noch jemand 1 Stunde was lese u. dann draußen darüber rede (d.h. wenn wir nicht davon abkommen, denn man hat so viel andere Sachen, die einen momentan drücken, daß man sich schlecht konzentrieren kann. Aber all die Menschen, auch mein Vater, sind im Konzentrationslager, mein Vater in Dachau. Ein schrecklicher Fluch. Du kennst ja die Geschichte meiner unglücklichen Liebe!!! Wie unglücklich ich mich dabei fühle, kannst Du ja nicht glauben! -

 

Unsere Wohnung in Haigerloch ist zerstört. Am liebsten wäre mir, wenn ich so schnell wie möglich hier wegkäme. Daß es mit meiner nPv nichts geworden ist, fängt erst jetzt an, mir richtig leid zu tun. Es wäre mir so viel erspart geblieben! Obwohl es jetzt in Erez ja nicht gerade ruhig ist, ist doch die Lage ganz anders. Na, wozu schreibe ich Dir das, Du weißt es ja selbst. - Ich bin hier zur Wizo angemeldet, u. es wurde mir geschrieben, daß ich evtl. im Frühjahr auf ein Zertifikat hoffen könnte. Nun hat aber letzte Woche eine Dame aus Holland hier angeläutet und uns u.a. auch gesagt, wir sollten eine Liste der Wizo-Anwärterinnen schicken, sie will bei der holl. Wizo für uns sprechen. Die Wizo hier pausiert momentan, und so bedeutet das (die Pause) eine Verzögerung, Gebe Gott, daß alles klappt! Jeder Tag hi [er] ist eine Qual. Heute schrieb mir meine Mutti Susis Adresse. Sie ist seit ein paar Wochen in Stuttgart im Krankenhaus. Es geht ihr gar nicht gut. Wie sich das arme Mädel quälen muß. Ach, überall wohin man schaut, Jammer u. Not!!!

Unseren Tarbutplan haben [wir] leider etwas ändern müssen. Ich freue mich mit jeder Stunde, mit jedem Schiur. Wir hatten so fein angefangen, eine (d.h. meine Gruppe hat angefangen) A.G. über jüd. Geschichte an Hand von Kastein (Herz u. Gehirn) zu machen, und hatten wirklich was davon gehabt. Der Junge, der die A.G. gab, ist aber momentan weg, u. so hat es aufgehört. So geht’s mit vielem. Wir lernen Hebräisch, Tenach, usw. Dann haben wir sehr gute Leseabende. A.G. über Soziologie ... u.s.w. Jetzt erst merke ich, wie bequem ich’s in dieser Beziehung hatte, wenn ich was nicht wusste, konnte ich zu m. Vati, und mich genau befragen. Ich glaube es ist meistens so, man merkt sowas erst, wenn es zu spät ist. Übrigens kennst Du von Buber „Der heilige Weg?“ Ich habe es jetzt mit 1 Mädel gelesen. Er ist sehr fein u. für uns bes. interessant, weil am Anfang bes. gut über das, was wir Gemeinschaft nennen, geschrieben ist. Überhaupt, obwohl unsere Gemeinschaft immer berühmt u. bekannt als bes. gut war, ist sie jetzt durch das Wegsein so vieler gar nicht mehr gut, es bildet sich eine Cliquenwirtschaft. Obwohl wir versuchen, gerade jetzt bes. fest zusammen zu halten, was wir ja auch tun, u. jeder hängt sehr am anderen, leidet die man unter diesem Zustand. - Vor 4 Wochen kam Freitag früh plötzlich Bescheid, daß alle Polen raus müssen. Unsere 17 Leute haben sofort gepackt u. los. Für sie u. für uns Zurückbleibende war es furchtbar. Sie wußten nicht wohin, Schabbat hatten wir Post von der pol. Grenze u. Sonntagmittag riefen sie auf einmal wieder aus Kassel an. Sie kamen zurück. Polen hat sie nicht reingelassen. Die Freudenhurra hättest Du sehen sollen. Nur schlimm ist, daß die meisten Eltern schon drüben sind, die waren Züge eher, u. die Leute nun, wenn wir hier mal auflösen, nicht wissen wohin. -

Daß bei Euch Ihr es zu einer richtigen Gemeinschaft gebracht habt, ist gut. Stört das nicht, daß nur ein Teil in der Gewerkschaft ist?

Hat sich eigentlich in Eurer Arbeit oder so was im 2. Jahr geändert? Schreibe mir bitte ganz genau, wie es jetzt drüben bei Euch ist. Ich verlasse mich mehr auf Deine Angaben als auf die Angaben der Rundschau (die jetzt nicht erscheint). Von Deinen 1. Eltern höre ich öfter. Sie haben mir geschrieben. Hast Du nicht mal ein Bild von Dir? Ich würde mich so freuen. Überhaupt, bitte schreibe mir bald wieder, Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich mich jedesmal (u. überhaupt jetzt) mit Deiner Post freue! - Daß Du jetzt in der Krankenpflege arbeitest, ist sehr schön. Wie lang bist Du immer in jedem Fach?

Ich hätte hier so gerne jetzt gewechselt, d. h. wäre gern in die Küche oder zur Außenarbeit gekommen, aber wir sind so viele Anwärterinnen, daß ich nicht drankomme. Schafe gehütet habe ich schon.

Eben geht die Post weg, u. da der Brief mit soll, Schluß.
Viele, viele Grüße
und Frieden
Deine
Ruth

M.l. Mutti u. Julius lassen grüßen.

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