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Chronik und Quellen
1939
September 1939

Tabebucheintrag Willy Cohn

Willy Cohn notiert am 10. September 1939 in sein Tagebuch, dass die Stimmung in Breslau immer antisemitischer wird:

Breslau, Sonntag.

Am gestrigen Nachmittag erst beim Barbier gewesen, dann mit Trudi spazieren. Aber es war kein reiner Genuß; die Stimmung ist doch eine sehr antisemitische geworden; ein Weib rief uns nach: Judenpack. Ich rechne sehr mit einem weiteren Ansteigen der antisemitischen Stimmung in dem Maße, wie die Kriegsnot das Volk treffen wird und die Verluste zunehmen.

Für diesen Krieg macht man das Judentum durchaus verantwortlich, weil man glaubt, daß es hinter England und Polen stand; dazu kommt noch, daß die jüdischen Männer nicht eingezogen sind.

Man wird sich auf allerhand gefaßt machen müssen. Gestern sind 6 jüdische Frauen, die auf der Hohenzollernstr. auf einer Bank gesessen haben, verhaftet worden; jemand hatte behauptet, sie hätten angesichts des Krankenhauses, wo die verwundeten Soldaten liegen, gelacht.

Die Frauen müssen sich heute auf der Gestapo melden. Mir erzählte diese Geschichte eine Frau Freund, die mich ansprach, als ich abends von Mutter kam. Notwendig wäre ja nicht, dass unsere Leute sich zu 6 auf die Hohenzollernstr. auf eine Bank setzen, aber dieser kleine und unwesentliche Zwischenfall ist doch ein Beweis für die Stimmung gegen uns - man kann das vergleichen mit der Stimmung in den Koalitionskriegen, als man die Emigranten in Frankreich für die Kriege gegen dieses verantwortlich machte.

Man kann übrigens Juden schwer davon überzeugen, daß der Boykott gegen Deutschland ein taktischer Fehler war.

Ich habe übrigens heute trotz aller Erfolge in Polen nicht mehr die Hoffnung, daß der Krieg sich wird lokalisieren lassen; er scheint ja im Westen nun auch in Gang zu kommen. 2 französische Flieger sind über deutschem Boden abgeschossen worden. England wird den Krieg gewiß mit einer großen Zähigkeit führen. Gut, daß man nicht in die Zukunft schauen kann. Von meinen Jungens ist weiter keinerlei Nachricht; ich habe wieder an Rufs geschrieben.

Breslau, Sonntag nachmittag.

Auch heute erhielt ich von meinen Söhnen keinerlei Post; nur eine Karte, die ich an Wölfl vor einer Woche geschrieben hatte, kam zurück. Man muß resignieren.

Am Vormittag mit Thomas von Aquino beschäftigt, später mit Susannchen spazieren gegangen; wir haben zuerst am Depot in Gräbschen gesessen. Susannchen hatte den Treppenwagen mit, ich las die Zeitung.

Im Westen sind 3 französische Flieger über den deutschen Linien abgeschossen worden; im Osten soll heute Lodz besetzt werden. In der Luft ist bei uns seit dem frühen Morgen ein ununterbrochener Fliegerbetrieb, immer hört man das Surren der schweren Motoren.

Später mit Susannchen an der Leedeborntriff gesessen; mit einer arischen Dame ins Gespräch gekommen, die mit einem Kleinkind da saß; sie brach in ein Lob der jüdischen Kinderärzte aus: Weigert, Pogerschelsky, Leichtentritt. Sie meinte, daß ihr Kind durch den Kunstfehler eines arischen Arztes, des Privatdozenten Dr. Klinke, aufs schwerste geschädigt worden ist; er hat das Trommelfell bei einer Mittelohrentzündung zu spät durchstochen, so daß das Kind eine Gehirnhautentzündung bekam.

Ihr Mann ist noch nicht eingezogen, er ist Dolmetscher der polnischen Sprache. Sie versuchte dann, von mir Urteile über die Lage zu extrahieren, aber ich sagte nichts. Über den arischen Menschen liegt eine große Angst vor dem, was kommen kann, wenn der Westen eingreift.

In der Zeitung stand heute, daß möglicherweise auch Brotkarten eingeführt werden. Kakao, der nicht markenpflichtig ist, ist nicht zu haben: die Hamsterer haben ihn weggehamstert.

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