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Chronik und Quellen
1939
September 1939

Kriegsbeginn in Frankfurt

Emilie Braach aus Frankfurt am Main schildert ihrer nach Großbritannien emigrierten Tochter am 1. September 1939, wie sich der Alltag durch den Kriegsbeginn verändert:

Meine liebe Bergit,

heute will ich eine Briefreihe beginnen, von der ich nicht weiß, wann und ob Du sie je lesen wirst. Ich kann nur die Hoffnung hegen, daß sie einmal in Deine Hände gelangt, damit Du von den großen und kleinen Geschehnissen hörst, die uns bewegen, die uns Sorge und Kummer oder auf der anderen Seite kleine Freuden bereiten. Heute will es mir allerdings wie ein Wunder erscheinen oder, besser gesagt, wie ein Traum, daß Imme und ich vorgestern abend noch zusammen musizierten. Und ebenso unfaßbar ist es, daß wir gestern abend noch gemütlich auf der Veranda bei den Eltern saßen und die Abendkühle genossen.

Heute? Der Krieg hat begonnen. Frankfurt und alle Städte & Dörfer des Landes haben verdunkelt. Ich sitze im Eßzimmer, das ich in aller Eile mit den notwendigsten Vorkehrungen versehen habe, und ich habe mir vorgenommen, am Sonntag ein tadellos verdunkeltes Zimmer herzurichten, in dem man mehr als einen Lichtschimmer von einem halben Meter Durchmesser hat. Heute bin ich zufrieden damit. Womit wäre man heute nicht zufrieden? Sogar mit meiner Tasse aufgewärmten Tees habe ich mich ausgesöhnt, nachdem ich infolge der Nervosität der letzten Zeit mein Kaffeequantum stark dezimiert habe. Mit der Teeration von zwanzig Gramm im Monat muß ich allerdings auch sorgsam umgehen. Aber das ist ja alles unwesentlich im Vergleich zu dem Weltgeschehen und zu dem Blutvergießen. Außerdem habe ich heute abend Glück, weil ich daheimsitzen kann. Fast hätte ich schon heute „Luftschutzdienst“ in unserem Geschäftshaus in der Kaiserstraße gehabt. Wie sich das gestalten soll, ist mir noch unklar. Immer vier Leute sollen eine Nacht durch Wache halten. Nun, wir werden sehen, welche Aufgaben harren. Vor allen Dingen bin ich gespannt, wie die meistenteils sehr jungen und unerfahrenen Mädchen ihrer Aufgabe Herr werden und wie sie überhaupt ihrem Wachdienst nachkommen können. Ich selbst bin eine solche Nachteule, daß ich es nicht so sehr spüren werde. Letzte Nacht habe ich auch bis drei Uhr Rundfunk gehört und war doch morgens sehr zeitig auf den Beinen, um als Hauswart nach dem Rechten zu sehen. Allerdings muß ich mich jetzt unbedingt von diesem Amt entheben lassen. Ich bin ja doch nicht hier tagsüber. Und wenn ich wirklich mal einen Abendbesuch bei Erna oder den Eltern mache, werde ich gleich dort schlafen, denn eine so ganz und gar abgedunkelte Stadt hat etwas recht Unheimliches an sich. Besonders auch jetzt, wo es draußen nach Herzenslust gewittert und so stürmt, daß meine unvollkommene Verdunkelung sich beinahe selbständig macht.

Im Geschäft haben wir dauernd zu tun. Vor allem hat die Bezugscheinfragerei entsetzliche Nervenkraft gekostet. Jetzt ist das hoffentlich vorbei, denn vorhin hörte ich, daß Büstenhalter und Korsetts wieder freigegeben seien. Wäsche dagegen ist nur gegen Bezugscheine zu erhalten. Und dann die Fragerei und vor allem die Rederei der Menschen. Jeder hat eine andere Ansicht, jeder weiß etwas anderes, hat irgend etwas gehört, klammert sich an eine andere Hoffnung, d.h. klammerte sich. Jetzt ist ja eigentlich kein Ästchen mehr da. Du glaubst gar nicht, wieviele Menschen ich trösten mußte in der letzten Zeit, wieviele weinend ihr neues Korsett anprobierten. Solchen Situationen stehe ich, wie Du weißt, etwas hart gegenüber. Wenn man schon in einer solchen Aufregung und Heulverfassung ist, hat man eigentlich keine Gedanken für Einkäufe und dergleichen. Mir wenigstens ginge es so, und ich wäre bestimmt nicht auf den Gedanken gekommen, mir in den letzten Tagen einen Hut oder ein Paar Handschuhe zu kaufen. Weder ohne noch mit Bezugschein. Da imponieren mir doch die Leute noch mehr, die mit Schirmmütze und Stulpstiefeln splitternackt probieren. Was haben wir damals doch gelacht. Kürzlich mußte ich an einem Tag drei Sterbefall-Erzählungen über mich ergehen lassen! Alle drei bis ins kleinste mit Wiederholung aller Phasen. Sogar die Beichte wurde nicht vergessen. Ich war ganz erledigt. Da ist es mir fast noch lieber, es probiert eine drei Stunden und meint dann, es sei doch gut, daß sie nicht jeden Tag ein Korsett zu kaufen brauche. -Heute stand ganz Frankfurt unter dem Eindruck der Verdunkelung. Jeder zweite Mensch trug eine schwarze Papierrolle im Arm, und in den Geschäften stand man Schlange darum. Ich hatte Anneliese schon vor drei Tagen zum Einkäufen geschickt und hoffte, die Ausgabe würde eine überflüssige sein. Die Anneliese macht sich übrigens und ist ein guter Kamerad und anständiger Kerl. In manchem hat sie sich in den letzten drei Wochen während der Abwesenheit von Frau M. richtig nett entwickelt und ist eine wirkliche Stütze geworden. Hoffentlich verfällt sie jetzt nicht wieder in ihren alten Schlendrian. Unserer guten Heimarbeiterin Frau Jäger habe ich vorläufig mal aufsagen müssen, weil ich ja gar nicht absehen kann, wie sich das Geschäft entwickeln wird.

Zehn Uhr zwanzig: Eben habe ich Nachrichten gehört. Aber sie waren nicht sehr erschöpfend. Wahrscheinlich kommen nachher noch Sondermeldungen, so wie letzte Nacht auch. Das einzige, was interessant war, war das Verbieten von Hören ausländischer Sender. Aber das ist ja sicher in jedem anderen Land auch so. Ich bin übrigens so müde, daß ich, wenn ich sprechen müßte, nur noch lallen könnte. Also heute Nacht hätte ich tatsächlich nicht zum Wachen getaugt, und ich werde auch bald in die Klappe gehen. Füchschen und Klettchen dürfen ausnahmsweise wieder mit. Gestern abend durften sie es auch. In solch aufregenden Ausnahmezeiten darf man so was schon einmal erlauben.

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