Menü
Chronik und Quellen
1938
November 1938

Analyse des Pogroms aus französischer Sicht

Ein französischer Diplomat in Berlin analysiert am 15. November 1938 die Hintergründe des Pogroms und die daraus entstehenden internationalen Spannungen:

Mit dem Tod vom Raths, der unter den Kugeln eines polnisch-jüdischen Attentäters fiel, rechtfertigte das Reich offiziell die Exzesse der „Volkswut“ vom 10. und 11. November und die beispiellos harten Maßnahmen, die am 12. November diese jüngste Offensive des Nationalsozialismus gegen die Juden abgerundet haben.

In Wirklichkeit war die Ermordung des deutschen Diplomaten nur ein Vorwand, und die deutsche Öffentlichkeit war sich generell darüber im Klaren. In Berlin wie im übrigen Reich unterstellte der Mann von der Straße, der in der Regel der Randale und den Plünderungen mit unausgesprochener Missbilligung zusah, seinen Führern schnell, die Chance genutzt zu haben, die sich ihnen mit der Tat eines exaltierten 17-Jährigen bot. Insofern hat Goebbels’ Propaganda gewissermaßen das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bezweckte. Je mehr sie sich bemühte, den Mord Grynszpans zu einem „historischen“ Verbrechen aufzubauschen, desto mehr war der Durchschnittsdeutsche versucht, soweit er sich durch den Hitlerschen Fanatismus nicht hat verwirren lassen, die Hintergedanken herauszuFinden oder Motive zu erfinden, die, wie er meinte, seine Herren und Meister geleitet haben könnten. Goebbels hat mit seiner Waffe aufs Geratewohl zugestochen und sie damit, so scheint es, entschärft und stumpf gemacht. Nichts verdeutlicht dies besser als das Gerücht, das hier unter den einfachen Leuten kursiert, wonach das Attentat auf vom Rath bloß eine Machenschaft der Gestapo sei. Diese habe Grynszpan, der davon nichts ahnte, die Rolle Van der Lubbes beim Reichtagsbrand zugeteilt, um letztlich den Nazis zu ermöglichen, die Judenfrage auf brutale Weise zu lösen.

Das Dritte Reich pflegt zwar aus Prinzip bei jeder Gelegenheit Gewalt anzuwenden, um die materielle Stärke des Regimes fühlbar unter Beweis zu stellen. Doch haben ganz offensichtlich vielfältige Motive Hitlers Führungsriege bewogen, diese entscheidende Kampagne gegen das Judentum zu führen.

Dem Anschein nach handelt es sich vor allem darum, die Politik des Antisemitismus, eines der Axiome des neuen Deutschlands, fortzusetzen und zu Ende zu bringen. In den Monaten zuvor war im Rahmen dieser generellen Linie den Juden verboten worden, weiterhin als Ärzte oder Anwälte tätig zu sein. Die Maßnahmen vom 12. November und jene, die noch folgen sollten, bezwecken ausschließlich, die Lage der deutschen Juden als Paria noch zu verschärfen. Sie sind dazu verdammt, unter elenden Bedingungen dahinzuvegetieren und nach und nach aus dem Reich zu verschwinden. „Wir wollen auf keinen Fall wieder Ghettos errichten“, erklärte Goebbels gestern, „aber wir wollen die schärfste Abtrennung zwischen dem deutschen Volk und den Juden durchsetzen.“ Im Übrigen hat diese Politik gegenwärtig beträchtliche materielle und moralische Vorteile für die Regierung. Die Geldbuße von über einer Milliarde wird die Kassen füllen, die für die Finanzierung des Vierjahresplans bestimmt sind, und die den Juden auferlegte Verpflichtung, innerhalb kurzer Zeit und zu den ungünstigsten Bedingungen ihre Unternehmen, ihre Werkstätten und ihre Handelshäuser aufzugeben, erlaubt es der Führungsriege des Regimes, auf billige Weise ihre Popularität bei der anwachsenden Klasse deutscher Kapitalisten aufzufrischen, die nicht wissen, was sie mit ihrem Kapital anfangen sollen. Gleichzeitig kann die Regierung ihre Anhängerschaft unter den deutschen Handwerkern und Kaufleuten ausweiten, die sich bislang gegen die jüdische Konkurrenz behaupten mussten. Auf Wien beispielsweise, wo es besonders viele jüdische Häuser gab, findet seit einiger Zeit ein regelrechter Run von Deutschen aus dem übrigen Reich statt, die von den Juden aufgegebene Geschäfte, Immobilien und Anwesen zu Niedrigpreisen aufkaufen. Dies kompensiert die wirtschaftlichen Versorgungsschwierigkeiten und lenkt von der tendenziell wachsenden Unzufriedenheit in Handels- und Industriekreisen ab.

Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Gründe unter den gegebenen Umständen für die Entscheidungen des Führers und seiner radikalsten Gefolgsleute bloß zweitrangig waren. Jedenfalls wurden diese auch durch andere Motive getrieben. Wenn man die Rolle Goebbels’ bei der Entscheidungsfindung analysiert, werden viele Hintergründe der deutschen Politik dieser letzten Tage deutlich.

Der Fall Goebbels ist nicht neu. Die Botschaft hat sich jüngst mit ihm befasst. Der Propagandaminister, dessen liederlicher Lebenswandel stadtbekannt ist, hätte beinahe das Vertrauen des Führers und seine Machtstellung innerhalb des Regimes verspielt. Goebbels, ein sehr impulsiver Mensch, hat nie auch nur im Geringsten daran gedacht, sich zurückzunehmen, und sei es auch nur vorübergehend. Er brauchte einen glänzenden Gegenangriff. Er hat eine Gelegenheit gesucht, sich hervorzutun, die Gunst des Führers in vollem Umfang zurückzugewinnen und seine Macht im Apparat des Dritten Reiches, die er sich erhalten hatte, öffentlich zur Schau zu stellen.

Gut informierte Kreise in Berlin schreiben allein Goebbels die Initiative und Verantwortung für den Ausbruch der „spontanen Empörung“ in der Nacht vom 9. auf den 10. November zu. Die Gestapo sei seinen Anweisungen gefolgt, und die Polizisten hätten daraus nicht das geringste Geheimnis gemacht. Ging der Propagandaminister bei der Organisation der Pogrome zu schnell vor oder ging er zu weit? Sein Appell an die Bevölkerung vom Abend des 10. November lässt dies vermuten. Aber die Sache war nun am Laufen. Goebbels hat es dann meisterhaft verstanden, Marschall Göring auf seine Seite zu ziehen. Dieser verspürte zweifellos das Bedürfnis, sich vom Vorwurf reinzuwaschen, ein „Gemäßigter“ zu sein, den die hundertprozentigen Nazis seit dem deutsch-tschechoslowaki-schen Konflikt gegen ihn erhoben.

Beim Führer hatte Goebbels absehbar leichtes Spiel. Hitlers antisemitische Saite ist immer sehr empfindsam. Nichts ist leichter, als sie zum Vibrieren zu bringen. Der Zeitpunkt war außerdem sehr günstig. Der Duce ist Hitler in der antisemitischen Politik gefolgt. Das Gesetz zum Schutz der Rasse, das die faschistische Regierung jüngst verabschiedet hat, bedeutet eine totale Zustimmung zu Hitlers Ideen und eine Ermutigung für das Dritte Reich, noch weiter zu gehen. Zudem zog der gewaltsame Feldzug gegen das Judentum nach der Ermordung vom Raths glücklicherweise die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf sich, lenkte von ändern Fragen ab, stellte ein weiteres Mal Einstimmigkeit her und kaschierte gewisse Säuberungen, zu denen es anscheinend ohne viel Lärm vor allem in der Armee kam.

Goebbels hat es verstanden, das jüdische Problem in Deutschland, ein innenpolitisches Problem also, mit dem Problem der antinationalsozialistischen Kampagne im Ausland, vor allem in den angelsächsischen Demokratien, sehr geschickt zu verknüpfen. Durch das verzerrende Prisma der deutschen Propaganda gesehen, war die Ermordung vom Raths nicht eine Antwort auf Abschiebemaßnahmen des Deutschen Reichs gegenüber den polnischen Juden, sondern die direkte Folge der Angriffe der amerikanischen Demokraten und der britischen Oppositionsführer auf das Hitlerregime, die als provokante Antwort auf die kurz zuvor gehaltene Rede von Weimar interpretiert wurden. Das ist gemeint, wenn Goebbels’ Zeitungen in ihrem üblichen Stil davon sprachen, „die jüdische Frage auf eine internationale Ebene zu bringen“. Fortan konnte sich Goebbels der Gunst des Führers sicher sein. Goebbels hatte die Offensive für seine persönliche Rehabilitation mit einem der Themen verbunden, die Hitler am meisten am Herzen liegen.

Vor wenigen Tagen hat ein ausländischer Journalist darauf hingewiesen, dass in der Presse die Kampagne gegen die jüdische Internationale jene gegen den internationalen Bolschewismus mit all den gegen diesen erhobenen Vorwürfen ersetzt habe. Die halbamtlichen Redakteure attackieren kaum noch Moskau und den Kommunismus. Sie richten all ihre Pfeile auf das Weltjudentum, eine breite und unbestimmte Entität, die für die deutsche Öffentlichkeit das Heer all jener zusammenfassen soll, die sich im Ausland keine Gelegenheit entgehen lassen, den Einfluss Hitlers zu sabotieren. Zwischen dem Dritten Reich und der jüdischen Internationale herrscht sozusagen Kriegszustand. In diesem Krieg werden die deutschen Juden als Geiseln genommen.

Wenn man die Beschlüsse vom 12. November angemessen beurteilen will, muss man sie als Gegenschlag des Regimes und der nationalsozialistischen Propaganda begreifen: Der Hitlersche Radikalismus fordert die angelsächsischen Demokratien heraus (Frankreich wird gegenwärtig noch verschont). Ein Parteifunktionär jubelte vorgestern über „Goebbels’ Faustschlag ins Gesicht nicht nur der Juden von New York und London, sondern auch der angelsächsischen Puritaner“. „Gewisse amerikanische Kreise“, erklärte jüngst ein Beamter des Außenministeriums einem meiner Mitarbeiter, „wollen sich mit Deutschland einen Kampf bis aufs Messer liefern. Sie werden ihn bekommen. Wir wissen ganz genau, dass sie es sind, die die englische Opposition, Eden und Churchill, gegen das Reich ermutigen und anstacheln. Wir werden es ihnen anständig heimzahlen.“

Im Konzentrationslager Oranienburg, wohin zahlreiche der am 10. und 11. November „aus Sicherheitsgründen“ festgenommenen Juden gebracht wurden, verheimlicht man den Gefangenen, die bislang ziemlich gut behandelt werden sollen, nicht, dass man sie nun als Geiseln betrachtet. Man sagt ihnen, dass ihre weitere Behandlung davon abhänge, wie klug sich die „jüdischen“ Unruhestifter im Ausland verhielten. Der „Völkische Beobachter“ hat dieselbe Formulierung gebraucht.

In Washington hat man schnell begriffen, welche Herausforderung der deutsche Antisemitismus bedeutet, und die Abberufung des Botschafters der Vereinigten Staaten in Berlin deutet darauf hin, dass man alle Konsequenzen dieses Schrittes einkalkuliert hat. Man kann sich andererseits fragen, was unter solchen Bedingungen aus den Bemühungen um eine deutsch-britische Annäherung wird. Was Anlass zu ernsthafter Besorgnis gibt: Die Führungsriege um Hitler scheint einen Schlussstrich unter die Politik der Mäßigung und der internationalen Verständigung gezogen zu haben, mindestens was ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und England betrifft, und dies zu einem Zeitpunkt, in dem man glauben konnte, der Geist des Münchener Abkommens würde trotz der Reden von Saarbrücken und Weimar schließlich obsiegen und auf die Beziehungen Deutschlands mit den großen demokratischen Mächten erfreuliche Auswirkungen haben. Ist das ein Zeichen dafür, dass sich in Berlin einmal wieder die Radikalen durchsetzen? Muss man daraus schließen, dass eine stabile Übereinkunft mit dem Dritten Reich unmöglich ist und dass die Gewalttätigkeit und Grausamkeit, die in der nationalsozialistischen Ethik stecken, Deutschland dazu verdammen, nach dem Gesetz des Schwertes, mit dem es seine Gegner unterwerfen will, selbst gerichtet zu werden? Im diplomatischen Korps in Berlin macht sich unter den neutralen Kleinstaaten Mutlosigkeit breit, und einige von ihnen sagen ganz offen, dass ihrer Ansicht nach ein europäischer Konflikt vermutlich unausweichlich sei, wenn sich an der inneren Entwicklung des Dritten Reiches nichts ändert.

Baum wird geladen...