Vorwurf der Sympathie
Maria Kahle aus Bonn und ihr Sohn werden am 12. November 1938 der Sympathie für Juden beschuldigt. Das hielt sie 1940 in einem Bericht für die Harvard-University fest:
Letzte Augustwoche 1938 war der Deutsche Orientalistentag in Bonn. Mein Mann war Leiter der Tagung in enger Zusammenarbeit mit dem Oberbürgermeister und den örtlichen Behörden.
Anfang September war der internationale Orientalistentag in Brüssel. Mein Mann war Chef der deutschen Delegation, vom Ministerium ernannt. Aengstlicher noch als in Deutschland habe ich es in Brüssel vermieden, mich an irgend einem politischen Gespräch zu beteiligen. Wenn Ausländer mich nach meiner Stellung zum Nationalsozialismus fragten, habe ich sicher nicht gegen die Regierung geredet, wenn ich auch möglichst vermied, die Nazis zu loben.
Nach der Enttäuschung, die München für uns brachte, haben wir uns soviel wie möglich von der Aussenwelt abgeschlossen.
Am 10. November 1938 um 1/2 12 vormittags kam die Frau eines jüdischen Kollegen zu mir und berichtete, dass die beiden Bonner Synagogen in Brand gesteckt worden seien und SS-Leute die jüdischen Geschäfte zerstörten, worauf ich ihr sagte: „Das ist doch nicht wahr!“ Sie gab mir ein Manuskript zum Aufbewahren, das Lebenswerk ihres Mannes. Einer meiner Jungen brachte dann dieselben Nachrichten.
Mein Dritter fuhr sofort, ohne dass ich das wusste, zu einem jüdischen Uhrmacher, half der Frau, einige Sachen zu verstecken, und brachte einen Koffer mit den wertvollsten Schmucksachen und Uhren nach Hause. Dann fuhr er zu einem Schokoladengeschäft, warnte die Inhaberin und half ihr, Tee, Kaffee usw. in ein entferntes Hinterzimmer zu bringen. Während vorn im Laden 3 SS-Leute in Uniform alles zerschlugen, ist er mit einem Koffer voll Wertpapieren zur Hintertüre hinausgegangen, hat auf der Strasse sein Rad genommen und ist nach Hause gefahren.
Er hat später noch wochenlang bei unseren Bekannten diese versteckten Sachen verkauft und den beiden Inhabern Geld verschafft, von dem die Gestapo nichts wusste. Ein jüdischer Kollege meines Mannes hat mit seiner Frau den ganzen 10. November bei uns gesessen und ist so der Verhaftung entgangen.
Vom xi. an waren meine Söhne eifrig beschäftigt, den jüdischen Ladeninhabern beim Aufräumen ihrer Läden zu helfen. Ich konnte mich ja nicht beteiligen, da ich die Stellung meines Mannes nicht gefährden wollte. Ich konnte nur die armen Leute besuchen. Bei einem dieser Besuche wurde ich mit meinem ältesten Sohne von einem Polizisten überrascht, der meinen Namen aufschrieb.
Die Folge war ein Zeitungsartikel im Westdeutschen Beobachter, Bonn, vom 17. November 1938, betitelt: „Das ist Verrat am Volke, Frau Kahle und ihr Sohn halfen der Jüdin Goldstein bei Aufräumungsarbeiten.“ Auf Grund dieses Zeitungsartikels wurde mein Mann sofort beurlaubt, und es wurde ihm verboten, das orientalische Seminar und die Universitätsgebäude zu betreten. Meinem ältesten Sohn wurde auch das Betreten der Universität verboten. Er wurde von einem Disziplinargericht abgeurteilt, das Urteil liegt bei. In der Nacht wurde ein Angriff auf unser Haus gemacht. Die Scheiben wurden eingeschlagen usw. Die jungen Leute kamen wohl in der Absicht, mich mitzunehmen, konnten aber die Haustür nicht aufbrechen. Das Ueberfall-Kommando kam nach eini ger Zeit, verschwand aber sofort wieder. Einer der Polizisten gab mir den Rat, mal auf die Strasse zu sehen; wir fanden in grossen roten Buchstaben auf den Bürgersteig geschrieben: „Volksverräter! Judenfreund!“ und haben die Schrift dann mit Terpentin ausgewaschen. Da die Leute aber immer wieder kamen mit ihrem Auto, bin ich mit meinem Rad öffentlich fortgefahren. Ich wollte nicht vor den Augen meiner Kinder totgeschlagen werden und war ja auch nur eine Gefahr für meine Familie. Ich fand Unterkunft in einem kleinen Nonnenkloster, in dem die Nonnen sehr freundlich für mich und meinen Jüngsten gesorgt haben. Bei der Vernehmung von der Gestapo nach einigen Tagen wurde ich gefragt, ob ich die Nummer des Autos wüsste, dessen Insassen den Ueberfall gemacht hatten. Auf mein „Nein“ hin wurde ich entlassen. Als ich aus dem Gebäude der Gestapo kam, stand dasselbe Auto vor der Tür. Ich konnte sogar den Chauffeur erkennen.
Wichtig in dieser ganzen Zeit war ein Besuch im Januar 1939 von einem bekannten Nervenarzt, der als Reichsschulungsleiter in der Judenfrage Bescheid wusste.
Er hat mir, als wir während zwei Nachmittagen allein waren, gesagt, was mit mir und meiner Familie geschehen würde unter dem Motto: „Juden und Judenfreunde müssen ausgerottet werden.“ - „Wir rotten Judenfreunde mit der ganzen Nachkommenschaft aus.“ Dann sagte er, dass ich nicht zu retten sei, aber meine Familie. Als ich ihn fragte, was ich tun solle, erzählte er als Antwort einige Geschichten, in denen die Frau Selbstmord verübte und dadurch ihre Familie rettete. „Wieviel Veronal haben Sie“, fragte er dann. Auf meine Antwort: „Nur zwei Gramm“ hat er mir dann ein Rezept für das fehlende Quantum gegeben. Ich habe das Veronal einige Tage mit mir herumgetragen, dann aber beschloss ich, nicht zu sterben, sondern zu versuchen, ins Ausland zu flüchten mit meiner Familie.
Von den Kollegen haben in vier Monaten 3 gewagt, zu uns zu kommen. Ich durfte am Tage nicht ausgehen; als ich einmal abends eine Kollegenfrau traf und mich beklagte, dass keine Freundin oder Bekannte gewagt habe, mich zu besuchen, sagte sie: „Das ist keine Feigheit, wir tragen nur den Tatsachen Rechnung.“
Als am 17. Februar 1939 die Gestapo meinem Mann verbot, mit Kollegen zu sprechen (1. Programmpunkt meines Bekannten), sah ich, dass es Zeit sei, Deutschland zu verlassen, ehe die Nazis mich und meinen Jungen ins Konzentrationslager bringen konnten (2. Programmpunkt meines Bekannten).
Ich nehme an, dass dieser Bekannte dem Kreisleiter gesagt hat, dass ich mir sicher das Leben nehmen werde und dass man mir den Pass wieder geben solle (den man mir nach dem 17. November abgenommen hatte). Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich meinen Pass zurückbekam. Drei Tage später fuhr ich mit meinem Aeltesten nach Holland und von da nach England. Hier haben unsere englischen Freunde für uns Geld gesammelt, und es fand sich eine wissenschaftliche Arbeit für meinen Mann. Als alle Mittel, meinem Mann mitzuteilen, dass er nun auch kommen sollte, fehlschlugen, fuhr ich nach Brüssel und traf dort meinen Mann. Nach beinahe unüberwindlichen Schwierigkeiten gelang es uns, auch die anderen Jungen aus Deutschland herauszubekommen. Am 2. April fuhren wir alle nach England herüber.
Als Schluss möchte ich nur noch sagen, dass ich die ganzen letzten Monate in Deutschland, wenn ich nicht einen Freund gehabt hätte, nicht durchgehalten hätte. Es war Professor Rademacher, Professor für katholische Dogmatik an der Universität Bonn. Sein letztes Wort an mich war: „Confide, filia, fidem tuam te salvam fecit!“ Div. Anlagen.