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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Tagebucheintrag von Ludwig Goldstein

Ludwig Goldstein berichtet (rückblickend) über die Zerstörung der Synagoge in Königsberg i.Pr. am 9. und 10. November 1938:

Ein ganz anderes, viel bösartigeres Gesicht trug die Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938.

Ich schlummerte in jener Nacht arglos meinem 71. Geburtstag entgegen. Bald nach dem Erwachen jedoch hörte ich von schweren Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte. Man hatte sich die Gelegenheit des Pariser Mordes durch Grünspan nicht entgehen lassen, um die „Volkswut“ künstlich zum Kochen und nächtlicherweile zum Ueberlaufen zu bringen. Angeblich war der Ausfall ganz aus freien Stücken erfolgt. Wie sehr aus freien Stücken, war daraus zu ersehen, dass fast überall, auch in den entlegensten Städten, fast zu gleicher Zeit und auf ganz ähnliche Weise ein Handstreich auf Besitz und Kultstätten der Israeliten unternommen war. Der „Zufall“ hatte hier offenbar wie eine Präzisionsmaschine gearbeitet.

Unnötig zu sagen, dass es dem alten Zeitungsmann nicht Ruhe liess, bis er sich von den Vorgängen durch eignen Augenschein überzeugt hatte. Binnen einer Viertelstunde fuhr ich nach der Vorstadt hinunter und gewann nur zu bald den Eindruck, dass - auf Grund einer genauen Liste oder unter zuverlässiger Führung - so ziemlich jeder Laden, der einem Juden gehörte, Gegenstand von Angriffen geworden war. Die Türen waren er-oder zerbrochen, die Schaufenster eingeschlagen, die Auslagen auf den Bürgersteig, ja, bis auf den Fahrdamm geworfen, die Inneneinrichtung samt den Waren durchwühlt und vernichtet; hin und wieder sogar durch Feuer. Natürlich hatte man, wenn nicht beim Ueberfall, so doch später allerlei Kaperware mitgehen heissen. Trauringe, Schmuck, Uhren u. dergl. waren noch längere Zeit „unter der Hand“ billig zu haben, soweit es gewisse Leute nicht vorzogen, sie in ihren „Geheimtresor“ den Augen der Mitwelt zu entziehen.

Als ich die Köttelbrücke überschritt, fiel mein Blick zufällig auf die Kuppel der neuen Synagoge. Na nu?! Die sieht doch so sonderbar - so luftig aus! Und bei schärferem Hinblicken entdeckt man, dass nur noch das Eisengefüge steht. Werden dort etwa Ausbesserungsarbeiten ausgeführt? Aber davon hat man doch nichts gehört! Sollte etwa ?

Nein, das wäre doch nicht möglich! - Freilich, das Wörtchen „unmöglich“, so hat man öfters mit Stolz rühmen hören, existiert nicht im Wörterbuch des Nationalsozialismus.

Genug der Zweifel. Ich eile hin, und wahrhaftig: das Unzulängliche, hier wirds Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist es getan. Der 1894-96 errichtete Prachtbau liegt in Trümmern, soweit sich dies mit einer klüglich ausgelegten Feuersbrunst bei einem Steinhaus erreichen lässt. Die bis zu einer Höhe von 46 m aufsteigende Riesenkuppel lässt fünfzigfach den blauen Himmel hindurchblicken; nur die von Löwen gehaltenen steinernen Gesetzestafeln davor halten noch ihre gewohnte sinnbildliche Wacht.

Der Ansturm auf die Synagoge war nach gründlicher Vorbereitung auf 2 Uhr nachts angesetzt und sollte, hier wie anderswo, das Zeichen zur allgemeinen „Erhebung“ geben. Im Inneren war, wie man hörte, nach Möglichkeit alles zertrümmert. Wo die Bundeslade gestanden hat, war sogar mit Brecheisen gearbeitet worden, wahrscheinlich weil man hier „Schätze“ vermutet hatte. Die Bänke waren umgeworfen, die Thorarollen auf den Fuss-boden geschmettert. Die angerückte Feuerwehr wurde an jeder Löschhandlung gehindert und hatte lediglich darauf zu achten, dass den Nachbarhäusern kein Schad’ geschieht. Während ein Brandkommando, mit besten Mitteln ausgerüstet, in das Gebäude eindrang, riegelte ein anderer Teil der Abkommandierten den Schauplatz sorgsam ab, damit niemand die fröhliche Sonnwendfeier zu stören vermöchte. Sonst geschehen solche Absperrungen, damit ungehindert gelöscht, hier damit ungehindert angezündet werden konnte („Volkswut“).

Die anfangs erörterten Pläne, was sich am besten mit dem seiner Bestimmung so plötzlich entzogenen Gotteshaus anfangen liesse, kamen nicht zur Ausführung. Man entschloss sich einfach zum Abbruch. Am 26. VI.39 boten Händler „1000 000 tadellose Ziegel, eine sehr wertvolle Orgel, einen schwarzen Flügel u.v.a.“ zum Verkauf aus. Die Mauern wiesen eine so ausserordentliche Festigkeit auf, dass es im Dezember 39 zahlreicher Sprengungen bedurfte, um sie umzulegen. Wo sie einst gestanden haben, soll in Zukunft ein Verbindungsgässchen laufen. In der Presse gab man der Genugtuung Ausdruck, dass „jetzt nichts mehr an den hässlichen Bau erinnere“.

Auch das angrenzende - von dem Berliner Baumeister Behrendt reizvoll entworfene -Israelitische Waisenhaus wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die dort untergebrachten kleinen Kinder wurden in tiefer Nacht durch eindringende Banden und den von ihnen verursachten Lärm aus dem Schlaf gerissen und rasten nun, zu Tode erschreckt und mangelhaft bekleidet, ja ohne Schuhe und in blossen Hemdchen, auf die Strasse, bis sie bei ihnen bekannten jüdischen Frauen eine erste Notunterkunft fanden. Kantor W., der im Waisenhaus seine Wohnung hatte, wurde - wie noch so mancher Leidensgefährte dieser Schreckensnacht - schwer misshandelt, so dass er zu seiner Wiederherstellung lange Zeit in der Klinik zubringen musste. Der Synagogen-Hauswart, dem die gleiche Behandlung angedroht war, suchte sein Heil in der Flucht. Die Bücherei wurde vernichtet oder verschleppt. Desgleichen wurden dem orthodoxen Rabbiner Dr. D. 3000 Bände entwertet und entwendet. Auch bei Privaten fielen, wie schon 1933, Bücher und Bilder der Meute zum Opfer.

Erwähnenswert noch die Haltung der Presse. Die Kbger. Allgemeine Ztg., die sonst dem geringsten Laubenbrand ihre Aufmerksamkeit schenkt, berichtete über das beispiellose Begebnis mit wenigen Zeilen, dass nämlich vor der Synagoge „ein Auflauf“ stattgefunden habe, und schloss mit dem denkwürdigen Lakonismus: „Und dann entstand ein Brand.

Auch der alte Tempel von 1811 in der jetzigen Seilerstrasse war Gegenstand eines solchen „Auflaufs“, und auch hier wurden die dem Gläubigen heiligen Thorarollen zerschlitzt und auf’s Pflaster geschleudert. Dass dieses Bethaus nicht auch in Brand gesteckt wurde, verdankt es keiner Gnade, sondern nur seiner Lage inmitten einer feuergefährlichen Gebäudegruppe, die im Fall einer Feuersbrunst leicht hätte mit aufflammen können.

Bei der Grundsteinlegung zu dem Bau in der Lindenstrasse hatte der damalige Gemeindevorsteher, Prof. Dr. Samuel, gesagt: „die Gotteshäuser, ob Kirchen oder Tempel, sind der einzige Ort, wo dem Schwachen Trost, dem Sünder Mahnung, allen Erbauung zuteil wird.“ Wie fern dieser Auffassung müssen die Triebe jener Verführten gewesen sein, die diesen schönen Andachtsort dem Untergang preisgaben! - Und bei der Weihe des Hauses kam in den öffentlichen Reden wiederholt der Gedanke zum Ausdruck, dass es im Grunde doch ein und derselbe Gott sei, zu dem man unter dem Davidsschild wie unter dem Kreuz bete. Der Vertreter der Stadt hob noch insbesondere hervor, dass an jenem Einweihungsfest nahezu die gesamte Königsberger Bürgerschaft Anteil nehme, und führte dann aus, welch gute Meinung er von dem Juden habe, den man ehedem wohl verbrannte, dem heute aber „nur noch verblendete Fanatiker seine Rechte kürzen wollen“. Welch seltsame Abwertung hat solche Humanität in den letzten Jahren erlitten!

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