Leipzig im Herbst 1938
Der Syndikus des CV, Kurt Sabatzky, berichtet im Rahmen eines 1940 von der Harvard University veranstalteten Preisausschreibens über Boykott, Verhaftungen und Zwangsarbeit in Leipzig und Umgebung im Herbst 1938:
In der Stadt Leipzig war die jüdische Situation bis zum Jahre 1938 mit Rücksicht auf Messe und Pelzhandel erträglich gewesen, jedoch setzte während der Herbstmesse ein starker Boykott jüdischer Geschäfte, unterstützt durch große Schilder in den Straßen, ein. Zur gleichen Zeit war eine noch viel schärfere Aktion in Dresden. Hier sammelten sich von der Partei beorderte Elemente vor den jüdischen Geschäften und bedrohten die Inhaber und Kaufleute. Gemeinsam mit dem Dresdener Rabbiner Dr. Wolff hatte ich eine Unterredung mit dem stellvertretenden Kommandeur der Schutzpolizei. Dieser veranlaßte im Einvernehmen mit dem Polizeipräsidenten, daß die Boykotthorden vor den Geschäften durch Schutzpolizeibeamte zerstreut wurden. Drei Tage lang schritt die Schutzpolizei immer wieder gegen die Excedenten ein. Plötzlich wurden alle jüdischen Geschäfte geschlossen, vor denen die Ansammlungen stattgefunden hatten, und zwar durch die Staatspolizei. Dr. Wolff und ich verhandelten nun mit dieser. Bei meiner Vorstellung bemerkte der Beamte höhnisch: „Sie sind bekannt!“ Als ich auf das Ungesetzliche der Zusammenrottung wie der Schließung hinwies, erwiderte der Beamte mit Nachdruck: „Ja, das haben wir veranlaßt, wir, die Geheime Staatspolizei!“ Das hieß in Wirklichkeit soviel wie: „Ihr könnt euch zehnmal bei Polizeipräsidium und Schutzpolizei beschweren, sie können euch zehnmal helfen, wir machen dann schließlich doch, was wir wollen!“ Einen tragischen Ausgang hatte eine Boykott-Angelegenheit in Löbau. Das Geschäft des dortigen jüdischen Kaufmanns Grünewald wurde in ganz besonders starkem Maße schikaniert, wobei verschiedene Polizeibeamte die Boykottposten stark unterstützten. Der Amtshauptmann von Löbau, ein alter objektiver Beamter, versuchte helfend einzugreifen, jedoch vergeblich. Das führte dazu, daß Grünewald die Nerven verlor und sich in seinem Laden, das Gesicht der gegenüberliegenden Polizeiwache zugewendet, erhängte. Viele jüdische Geschäftsleute wurden nunmehr gezwungen, ihre Geschäfte weit erheblich unter dem Wert zu verschleudern. Es gab wenig Betriebe, bei denen der jüdische Besitzer auch nur einigermaßen annähernd entschädigt wurde.
Sehr tragisch verlief eine Aktion der Staatspolizeistelle Halle. Eines Tages wurde eine Anzahl älterer Juden, die sämtlich im Berufsleben standen, auf das dortige Arbeitsamt bestellt. Sie wurden aufgefordert, Erdarbeiten bei der Saale-Regulierung zu übernehmen. Die Betreffenden erklärten, sie stünden im Wirtschaftsleben, bezögen keinerlei öffentliche Unterstützung und könnten mit Rücksicht auf ihre Berufe und vielfach außerdem auch mit Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand die Erdarbeiten nicht übernehmen. Das war Anfang März 1938. Vier Wochen später wurden die Betreffenden in Halle und in Naumburg verhaftet und als erste Gefangene in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Eine Woche später erfuhr man bereits von 3 Todesfällen. Ich verhandelte in Berlin mit dem Gestapa, mit dem Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sowie dem Präsidenten des Landesarbeitsamts Erfurt, das für Halle zuständig war. Das Gestapa erklärte, es habe die Maßnahme nicht veranlaßt, es sei ihm jedoch interessant, daß sie erfolgt sei; es habe keinerlei Ursache, den Anordnungen der Stapo Halle entgegenzutreten. Die Präsidenten der Arbeitsvermittlungs-Anstalten waren über die Maßnahme entsetzt und gaben sich ernsthaft Mühe, die Stapo Halle zur Freilassung zu veranlassen, jedoch ohne Erfolg; die Freilassung erfolgte erst, als es den Henkersknechten in Halle paßte. Als ich das erstemal den Namen Buchenwald erfuhr, dachte ich noch nicht daran, daß ich etwa Vi Jahr später auch dorthin kommen sollte.
Außerordentlich tragisch gestaltete sich die Abschiebung von etwa 1000 Polen aus Leipzig und weiteren 100 aus anderen Orten, die Leipzig passierten. Die polnische Regierung erklärte eines Tages, daß sie die Staatsangehörigkeit derjenigen in Deutschland lebenden Polen nicht mehr anerkenne, die seit Jahren nicht in Polen gewesen sind. In Leipzig gab es eine ganz große polnisch-jüdische Kolonie. Diese Leute wurden eines Morgens im Oktober 1938 aus den Betten heraus verhaftet, durften vielfach nichts mit sich nehmen und wurden in Polizeiautos auf den Hauptbahnhof geschleppt, wo Sonderzüge zusammengestellt wurden. Ich sorgte sofort für die Bereitstellung eines Hilfsdienstes seitens der Israelitischen Religionsgemeinde. Den Leuten wurden notwendige Gebrauchsgegenstände und Geldmittel von jüdischen Helfern aus ihren Wohnungen geholt, wer kein Geld hatte, bekam solches von der Gemeinde, und ein Verpflegungsdienst wurde eingesetzt. Es muß anerkannt werden, daß sich hierbei Offiziere und Mannschaften der Schutzpolizeiwache des Hauptbahnhofes sehr menschlich zeigten und den Verhafteten von ihren Buttervorräten abgaben. Es gelang mir, etwa 80 Leute durch Verhandlungen mit dem Leiter der Fremdenpolizei, dem Kommandeur der Schutzpolizei oder dem Gestapoleiter aus dem Zug herauszuholen und sie freizubekommen, weil sie entweder krank waren oder Visa für ein anderes Land hatten. Den übrigen konnte ich allerdings nicht helfen. Eine Anzahl von den Abgeschobenen kam später zur Ordnung ihrer Verhältnisse auf 4 Wochen nach Leipzig zurück; sie erklärten, daß sie durch S.S.-Leute an der Grenze in das Niemandsland gejagt worden und hinter ihnen hergeschossen worden sei. Die Polen hätten sie lange Zeit nicht hereingelassen, so daß sie unter freiem Himmel bei Kälte und Regen im Niemandsland hätten kampieren müssen.
Eine Köpenikiade spielte sich anläßlich der Ausschaltung der jüdischen Aerzte und ihrer Umstellung als Judenbehandler ab. Nur ein kleiner Teil war als solcher zugelassen. Einen Tag vor dem Inkrafttreten des Gesetzes teilte mir der geschäftsführende Chefarzt des Israelitischen Krankenhauses in Leipzig mit, daß ihm sein Betriebszellen-Obmann, der Heizer Häckel des Krankenhauses, ein Ultimatum gestellt habe, wonach in der nächsten Nacht um 12 Uhr das Krankenhaus geschlossen und alle Patienten auf die Straße gesetzt würden, wenn die bis dahin am Krankenhaus tätigen jüdischen Aerzte nicht ihre Bestellungen durch den Innenminister zu Judenbehandlern vorgelegt hätten. Ich begab mich mit Dr. Frankenthal sogleich zu dem Regierungs-Obermedizinalrat, der unverzüglich eine Verfügung des Regierungspräsidenten erwirkte, wonach die bisher als Aerzte tätigen künftigen Judenbehandler bis zum Eintreffen der ministeriellen Bestellung auch weiterhin tätig sein könnten, da in Bezug auf die Krankenversorgung im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung keine Unterbrechung eintreten dürfe.
Am nächsten Morgen berief mich Dr. Frankenthal in das Krankenhaus. Hier befand sich eine Kommission des Gesundheitsamtes der NSDAP, deren Führer, Zahnarzt Dr. Lange, uns im Zimmer des Chefarztes die nachstehenden Bedingungen der Partei bekanntgab: Der Heizer Häckel, der nach den neuen gesetzlichen Bestimmungen in seiner Eigenschaft als Arier nicht mehr im jüdischen Krankenhaus beschäftigt werden durfte, sollte zum Kommissar des Krankenhauses mit einem Gehalt von RM 350.- ernannt werden. Ihm seien sämtliche Kassen- und Bankvollmachten zu erteilen sowie alle Schlüssel auszuhändigen, ein Chefzimmer sei ihm einzuräumen und das gesamte medizinische Pflege- und das Verwaltungspersonal sei ihm einschließlich der beiden Chefärzte zu unterstellen. Dr. Lange forderte Dr. Frankenthal und mich, als den Berater des Krankenhauses, auf, Häckel in sein neues Amt als Kommissar einzuweisen. Frankenthal wie ich lehnten strikte ab. Ich erklärte, daß die Anstalt als ein jüdisches Unternehmen nicht der Parteidisziplin unterstehe und daß einzig und allein die Gesundheitsbehörde, die ihre Entscheidung ja getroffen habe, zu bestimmen habe. Lange erklärte darauf, wir würden sofort von der Gestapo verhaftet werden. Wir ließen uns nicht einschüchtern und wiesen den Kommissionsmitgliedern das Zimmer. Sogleich informierten wir das Judendezernat der Gestapo, daß hier ein völlig ungesetzlicher Eingriff vorliege, der unbedingt zurückgewiesen werden müsse. Assessor Schindhelm vom Judendezernat versuchte uns zu überreden, Häckel dann wenigstens als Buchhalter, der er früher einmal gewesen sei, zu beschäftigen, aber auch das wurde von uns abgelehnt. - Damit endete diese Köpenickiade.