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Chronik und Quellen
1938
August 1938

Zurückdrängung jüdischer Ärzte

Julian Kretschmer aus Emden schildert imm Rahmen eines Preisausschreibens der Havard University im Jahr 1940 die Auflösung seiner Arztpraxis im Spätsommer 1938:

Am 1. Januar wurde mir ein Teil der Krankenkassen - wie allen jüdischen Kassenärzten - genommen, das erste Mal, dass die Beschränkung der ärztlichen Tätigkeit offiziell erfolgte. Die Mitteilung bekam ich drei Tage vorher. Anfang Februar konnte noch eine Zusammenkunft von aktiven Zionisten Nordwestdeutschlands in Wilhelminenhöhe bei Hamburg stattfinden. Auf der Hinreise erfuhr ich aus den Zeitungen die grossen Veränderungen in der Heeresleitung. Die Mitreisenden erwähnten diese wohl, sprachen sich jedoch nicht näher darüber aus. Ein grösser Teil der Reisenden waren übrigens, wie überhaupt in den letzten Jahren, Soldaten und Arbeitsdienstmänner und -mädchen. Man war mir gegenüber, der ich mich an ihrer im allgemeinen recht oberflächlichen Unterhaltung nicht beteiligte, hilfsbereit, leistete mir kleine Gefälligkeiten. Die Soldaten schimpften gelegentlich auf ihre Vorgesetzten oder machten Witze über ihre Ausstattung aus Ersatzstoffen.

Kurz danach stellte das Inkassobüro, das bisher meine Rechnungen an Patienten einkassiert hatte, seine Tätigkeit für mich ein. Im April 1938 erschien die Verordnung über die Anzeige des Vermögens der Juden, wonach ein subtiles Verzeichnis aller möglichen Vermögenswerte nach dem Stande vom 27. April 1938 bis zum 30. Juni einzureichen war, u. zw. seltsamerweise nicht bei der Steuer-, sondern bei der Verwaltungsbehörde, in meinem Falle dem Regierungspräsidenten in Aurich.

Noch während ich mit der Aufstellung dieser Verzeichnisse für mich und meine Frau beschäftigt war, erschienen am 15. Juni in meinem Sprechzimmer Beamte der „Zollfahndung“, d. h. eines Dienstzweiges der Devisenstelle, die sich mit Fahndung auf Devisenvergehen befasste, und wollten über meine Vermögensbestände Auskunft haben. Dass meine Gehilfin im Sprechzimmer anwesend war, war ihnen sichtlich peinlich, sodass sie zunächst im Flüstertöne mit mir zu verhandeln versuchten. Ich hatte in Voraussicht ähnlicher Vorkommnisse - z.B. erwartete ich wie alle Juden auch einmal den Besuch der Gestapo -meiner Gehilfin generell Anweisung gegeben, in solchen Fällen immer im Zimmer zu bleiben. Auch auf den Flüsterton ging ich nicht ein, sondern gab völlig unbefangen die verlangten Auskünfte. Als Grund dieser Besuche gaben die Beamten an, dass ein gewisser - wenn auch nicht substanziierter Verdacht wegen meiner Auswanderungsabsichten bestehe, zumal meine Tochter bereits ausgewandert sei. Die Beamten waren mir bekannt, denn sie hatten mich schon einmal nach Ruths Auswanderung besucht und über deren Vermögensverhältnisse Auskunft verlangt. Beide Besuche waren übrigens völlig überflüssig, denn das, was zu ermitteln ihre Aufgabe war, war der Finanzbehörde längst bekannt. Ausserdem war ich mit ihnen einige Monate vorher zusammengekommen, als sie einen Juden kurz vor seiner Auswanderung wegen eines Verdachtes der Devisenschiebung, der sich nicht bestätigte, verhaftet hatten und den ich, als er in der Haff erkrankte, dort besuchte. Während des eine Stunde dauernden Besuches der Zollfahndungsbeamten in meinem Sprechzimmer hatte sich mein Wartezimmer mit lauter alten treuen Patienten gefüllt, die getreulich das Ende des ungebetenen Besuches abwarteten.

Etwa gleichzeitig wurde dieselbe Aktion bei sämtlichen über etwas Vermögen verfügenden Juden der Stadt vorgenommen. Nicht immer ging es so glimpflich ab wie bei mir. Bei meinem Schwiegervater Valk senior wurde eine subtile Haussuchung vorgenommen, bei anderen nur die Schreibtische und Korrespondenz durchsucht, was alles bei mir unterblieb.

Sofort auf den Besuch folgten Sicherungsanordnungen über mein Vermögen, ebenso wie bei den anderen Juden, d.h. wir konnten nur mit Genehmigung der Devisenstelle verfügen, mit Ausnahme eines kleinen Betrages von wenigen hundert Mark sowie von Sach-besitz, u. zw. musste man auch zur Bezahlung von Steuern die Genehmigung der Devisenstelle einholen. Diese Regelung war der örtlichen Finanzbehörde, dem Finanzamt, anscheinend nicht bekannt. Denn kurz danach bestellte mich der zuständige Beamte des Finanzamtes zur mündlichen Rücksprache und verlangte von mir Hinterlegung der RFlSt. (Reichsfluchtsteuer). Ich verwies ihn auf die Sicherungsanordnung, die ja eigentlich eine derartige Hinterlegung überflüssig machte, erklärte mich aber trotzdem dazu bereit, da, wie ich annähme, das Finanzamt und die Devisenstelle sich ja leicht auf dem Dienstwege darüber verständigen könnten und andernfalls nur überflüssiger Schriftwechsel entstände. Mir war die amtliche Unzulässigkeit meines Vorschlages wohl-bekannt und ebenso, dass ich für Hinterlegung die Genehmigung der Devisenstelle einholen müsse, aber ich wollte nicht unterlassen, dem mir als grossen Nazi bekannten Beamten (Steuerinspektor Luderer) das Unsinnige des ganzen Verfahrens anzudeuten. Ich gebrauchte im übrigen diesem sowie den Zollfahndungsbeamten und den Bankangestellten gegenüber immer gern den Ausdruck „Beschlagnahme“, wogegen jedesmal protestiert wurde. Besonders Zollinspektor Wagner von der Zollfahndung glaubte, mir versichern zu müssen, dass ich in keiner Weise in der Verwendung meines Vermögens behindert werden sollte. Ich wusste, was ich davon zu halten hatte und wie die Behörde schon allein durch die Verzögerung der Genehmigungsbescheide in die Vermögensverwendung eingreifen konnte, was sich auch später bestätigte. Immerhin gelang es mir, noch eine gewisse Summe für Einkäufe zu meiner nunmehr nach meiner völligen Wiederherstellung fest beschlossenen Auswanderung sowie später für Unterstützungen von Verwandten und jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen, Reisekosten usw., wenn auch mit grösser Verzögerung, frei zu bekommen.

Wie aus alledem hervorgeht, konnte ich nur einen Teil meiner Zeit meinen - immer weniger werdenden - Kranken widmen, da die Aufstellung von Verzeichnissen, Berechnungen, Anträgen usw. für Finanzamt, Devisenstelle, Judenvermögensanzeige eine beträchtliche Arbeit erforderte. Meine Praxis, die 1937 mich noch einigermassen beschäftigt und einen kleinen Überschuss erbracht hatte, verfiel nunmehr vollkommen, und meine Gehilfin Maria Reinken, die 11 Jahre bei mir gewesen war, musste sich nach einer anderen Stelle umsehen, die sie bei dem früher erwähnten Dr. Hüchtemann fand, den sie kurz danach heiratete.

Am 3. August wurde die Anordnung über die Beendigung der Tätigkeit jüdischer Ärzte bekanntgegeben, und gleichzeitig erschien auch in der OTZ ein Artikel, worin darauf hingewiesen wurde mit der Bemerkung, dass ich schon längere Zeit meine Auswanderung vorbereitete. Vom 7.-14. August war ich nach Berlin gefahren, um Einkäufe für die Auswanderung vorzunehmen. Die übliche Bekanntgabe von Abreise und Rückkehr in Zeitungsinseraten war mir schon seit 1935 nicht mehr möglich, da die Zeitungen Aufnahme von Inseraten von Juden verweigerten. Trotzdem kamen in der Woche vom 15.-22. August eine grosse Zahl meiner früheren Patienten, um sich noch einmal von mir zu verabschieden, eine erhebliche Nervenprobe, sodass schon am 15. August meine Gehilfin, die ihre neue Stellung am 23. August antreten sollte, unter Tränen erklärte, sie wüsste nicht, wie sie es diese Woche noch aushalten sollte. Dass bei den Abschiedsbesprechungen die Nazis nicht gut wegkamen, bedarf keiner Erwähnung.

In den letzten Wochen meiner Praxis wurde ich nachts telephonisch von einer Frauenstimme aufgefordert, in das Flaus Grasstrasse Nr. X. zu kommen, dort hätte ein Fräulein Herzkrämpfe. Durch frühere Erfahrungen gewitzigt, liess ich mir die Anschlussnummer sagen, um durch Anruf meinerseits das erste Gespräch zu bestätigen oder eine etwaige Mystifikation zu erkennen. Darauf wurde mir die Nummer angegeben mit dem Bemerken, dass es sich um eine sogenannte Geheimnummer handele, die nicht im Verzeichnis stände. Ich rief das Fernsprechamt an und erfuhr, dass sonst über Geheimnummern Auskunft gegeben würde, über diese jedoch nicht. Nun wusste ich Bescheid. Ich hatte nämlich gelegentlich gehört, dass sich in dieser Strasse ein Bordell befindet, um das es sich offenbar handelte. Ich rief wieder an und erklärte, ich würde nur kommen, wenn ich von der Polizei aufgefordert und begleitet würde. Die Frauenstimme antwortete lachend: „Ist das so schlimm!“ Ein weiterer Anruf erfolgte nicht.

Es besteht die Möglichkeit, dass es sich um einen wirklichen Krankheitsfall gehandelt hat, aber auch die einer mir gelegten Falle. Aber auch im ersten Falle hätte ich mich in eine grosse Gefahr begeben, wenn ich hingegangen wäre. Denn wenn mich Nazis in dieses Haus gehen gesehen hätten, wäre mein Schicksal ohne Rücksicht auf den wirklichen Sachverhalt besiegelt gewesen.

Den letzten Krankenbesuch bei Nichtjuden machte ich am 15. September bei Fräulein Lina Gail, die ebenso wie ihre mit ihr in Gemeinschaft lebenden Schwestern eine alte Lehrerin war. Die Damen waren immer Verehrerinnen Hitlers gewesen. Die Untaten der Nazis erklärten sie damit, dass Hitler dies alles nicht wüsste. Damit suchten sie auch den 75jährigen Moses Seligmann zu trösten, den sie in meinem Wartezimmer kennenlernten, wobei sie erfuhren, dass seine zwei Söhne bei der sogenannten Juniaktion 1938 verhaftet und verschleppt worden waren, sodass man erst nach Wochen erfuhr, dass sie im Konzentrationslager Buchenwald waren. Sie billigten meine Auswanderung, sprachen mir guten Mut zu und meinten, ich würde im Ausland schon wieder hochkommen.

Mit Prokurist Hinz von der EVAG hatte ich eine Besprechung über die Räumung meiner Wohnung und Sprechstundenräume, wobei ich ihm die Frage vorlegte, wer von uns die Kündigung aussprechen sollte. Er hatte den Wunsch, dass sie von mir ausginge, was auch geschah. Die Wohnung sollte bis zum 30. September, das Sprechzimmer konnte etwas später geräumt werden.

Um den Verkauf meiner Möbel und einzelner medizinischer Geräte hatte ich mich schon früher bemüht. Ich hatte für die gut erhaltenen Möbel, die z.T. einen hohen Liebhaber- oder Kunstwert besassen, nach Prüfung durch einen Fachmann Preise festgesetzt, die im Durchschnitt etwa 35 % des Neuwertes im Jahre 1913 entsprachen. An diesen niedrigen Preisen hielt ich auch fest, trotzdem die sich in einiger Zahl einfindenden Kauflustigen sie herabzudrücken versuchten. Als ich schliesslich einem anscheinend ernstlichen Käufer erklärte, dass ich die Möbel eher als Brennholz verwerten lasse, als dass ich unter diesen äussersten Preis herunterginge, erklärte er sich mit demselben einverstanden. Verhältnismässig grosszügig war der Inhaber eines grossen Hotels in Emden, der ein Herrenzimmer und ein Schlafzimmer zum festgesetzten Preise abnahm, ohne zu handeln. Für den Verkauf der grösseren ärztlichen Geräte waren von der Leitung der deutschen Ärzteschaft Richtlinien aufgestellt worden, nach denen ich den Preis berechnete. Es handelte sich im wesentlichen um eine Röntgeneinrichtung, die ich im Jahre 1931 für RM 7100,- angeschafft hatte. Sie wurde von mir mit RM i960,- berechnet und zu diesem Preise von Dr. van Lessen, Juist, übernommen.

Da ich in Kürze die Transfergenehmigung, die Vorbedingung für das Einwanderungsvisum, erwartete, hatte ich mich entschlossen, den Rest meiner Habe zum grössten Teil einem Spediteur zur Einlagerung zu übergeben, besonders die neu zur Auswanderung eingekauften Gegenstände, und nur mit Kleidung, persönlichen Effekten und meinem Schreibtisch zu meinen Schwiegereltern zu ziehen, die in einer Verkehrsstrasse im Innern der Stadt ein älteres weitläufiges Haus bewohnten. Meinen Schreibtisch mit Inhalt benötigte ich sehr, da ich, wie schon eben erwähnt, ständigen Schriftverkehr neben mündlichen Besprechungen mit den Finanzbehörden hatte, wobei es im wesentlichen darum ging, in welcher Form ein grösser Teil des Vermögens auf die verschiedenen Abgaben usw. zu verteilen war. Ausserdem fungierte ich als Geschäftsführer der Jüdischen Winterhilfe. Gelegentlich besuchten mich noch einige meiner alten Patienten, vor allem die treue Frau Blesene, sonst konnte man den Zustand als Ghettodämmerung bezeichnen.

Ich hätte erwartet, dass meine frühere langjährige Gehilfin, die sich inzwischen mit Dr. Hüchtemann verheiratet hatte, noch gelegentlich nach mir fragen und Interesse für mein Schicksal zeigen würde. Gelegentlich eines Besuches, den ich in der Sprechstunde von H. machte, um über Abgabe weniger kleinerer ärztlicher Geräte Rücksprache zu nehmen, deutete sie mir an, dass sie und ihr Mann, der als früherer Anhänger von Otto Strasser verdächtig und sogar schon einmal acht Tage in Haft gewesen war, besonders vorsichtig sein müssen. Ihr Mann hätte sogar anonyme Warnungsbriefe bekommen.

Ende Oktober erfolgte die Ausweisung der polnischen Juden, in Emden handelte es sich um 16 Erwachsene und zehn Kinder.

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