Tagebucheintrag von Hildegard Wagener
Hildegard Wagener berichtet über den unvorhergesehenen Verlauf eines politischen Schulungsabends am 19. August 1938:
Ich habe heute abend etwas erlebt, was mich sehr erschüttert und nachdenklich gemacht hat:
Politischer Schulungsabend für die Gehilfenprüfung. Es wird über die Juden gesprochen. (An den drei vorherigen Abenden gipfelte alles in demselben Thema). Bei jeder Handlung eines Juden wird ein selbstsüchtiger Gedanke vorausgesetzt. Der Schulungsleiter redet eine Stunde, dann sollen wir uns melden und die Gedanken noch einmal kurz zusammenfassen. Es meldet sich ein junger Mann. Fängt an: „Der Nationalsozialismus ist der Ansicht, daß ...“ Er führt aus, daß die portugiesischen Juden doch eben sehr kultiviert und verfeinert sind im Gegensatz zu den Ostjuden. Der Leiter: „Jude bleibt Jude“. -Jetzt meldet sich ein mittelmäßig begabtes junges Mädchen und sagt alles so, wie man es von uns zu hören wünscht, wie es uns gelehrt wird: Der Jude ist schlecht, kein Jude taugt etwas, Halbjuden sind seelisch zerrissene Menschen und deshalb noch minderwertiger. -
Es soll sich weiter jemand freiwillig melden. Schweigen. Ein junger Mann wird aufgerufen. Er wiederholt ebenfalls die Worte und die Ansichten des Leiters, auch die allgemeine Meinung im Zimmer scheint so zu sein. Der nächste wird aufgefordert. „Ich be-daure, ich bin vollkommen anderer Meinung!“ Erstarrung. - „Ich bin selbst Halbjude, meine Mutter ist Arierin. Ich bin getauft, fühle vollkommen deutsch, habe nie anders gefühlt und werde nie anders fühlen. Mein Vater war 4 Jahre als Offizier an der Front. Ich kann mich Ihren Ansichten über die Schlechtigkeit der Juden, die Minderwertigkeit der Halbjuden nicht anschließen.“ Schweigen. - Der Leiter versucht, schwache Erwiderungen zu machen. Der junge Mann, der vorher so ganz im Sinne des Leiters gesprochen hatte, meldet sich zum Wort. „Es ist statistisch festgestellt, daß sich ... tausend Juden freiwillig im Weltkriege gemeldet haben und gefallen sind. Die Juden, denen man tatsächlich etwas vorzuwerfen hat, sind bereits ausgewandert. Die restlichen 260 000 Familien, die sich noch hier befinden, sind anständige deutsche Menschen. Der heutige Kampf gegen die Juden ist daher ein Spiel mit dem Wind und vollkommen unberechtigt. Es tut mir leid, daß ich vorhin etwas anderes gesagt habe. Ich bin selbst Halbjude.“ Die Augen werden immer größer, die Situation ist mir auf Grund dessen, was der Leiter vorher ausgeführt hat, entsetzlich peinlich. Es wagen sich jetzt mehr Stimmen hervor, die den Juden wenigstens etwas Seele zugestehen. Ich bitte schließlich, das Thema zu beenden, weil das allen Teilen wünschenswert sei unter den gegebenen Verhältnissen. Und als ich hinausgehe, muß ich dem jungen Mann, der zuerst so tapfer war, die Hand drücken und sagen, daß er sich fabelhaft benommen habe. Ich muß es! –
Wenn nun am Montag auf der Prüfung derartige Fragen an mich gestellt werden, frisiere ich meine Meinung nicht, sondern sage alles so, wie ich wirklich denke, auch auf die Gefahr hin, daß man mich durchfallen läßt. -
Eigentlich habe ich gar keine eigene Meinung über die Juden, sondern kann nur das sagen, was mir erzählt worden ist, da ich kaum Erfahrungen mit Juden habe. Man darf mir aber diese Dinge nicht zu plump servieren, es gibt immer noch Leute, die darüber stolpern. -