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Chronik und Quellen
1938
August 1938

Appell zur (partiellen) Hilfe

Das bischöfliche Ordinariat Berlin appelliert am 12. August 1938 an alle deutschen Bischöfe, Hilfsorganisationen für Katholiken aufzubauen, die als Juden gelten:

Die gegenwärtige Zeitlage dürfte auch Katholiken zur Auswanderung veranlassen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden gelten. Man muss annehmen, dass ihre Aussiedlung den Wünschen der Regierung entsprechen wird. Einer Unterstützung dieser Auswanderung dürftejn] also von den Behörden keine Schwierigkeiten entgegengesetzt werden.

1. Zahlen: Die Zahl der Christen jd. Ursprungs steht nicht fest; sie ist sowohl den Behörden als auch den Stellen unbekannt, welche die nichtar. Christen zu betreuen suchen. (Diese Stellen sind das „Büro Dr. Dr. Spiere“ in Bln. W. 15, Brandenburgische Str. 41, für die volljüd. Christen u. die „Vereinigung 1937“ - früher: der „Paulus-Bund“ - in Bln.- Charlottenburg 5, Sophie Charlottestr. 28, für die Mischlinge). Es fehlen überhaupt alle Unterlagen, die eine einigermaßen zuverlässige Schätzung zulassen. In der „Vereinigung 1937“ wurde mir berichtet, dass die Behörden die Mischlinge auf etwa 300 000 schätzen; anscheinend haben die Regierungsstellen diese Zahl aus einer Veröffentlichung des Hn. Reichsärzteführers übernommen, die ebenfalls - schätzungsweise - eine Ziffer von 300000 Mischlingen angenommen hatte. In der „Vereinigung 1937“ schätzt man - allerdings auch ohne Unterlagen - die Mischlingszahl auf 500 000.

Aus diesen Ziffern kann vielleicht die ungefähre Zahl der volljd. Katholiken wie folgt berechnet werden:

Der frühere „Paulus-Bd.“ hatte rund 4500 Mitglieder. Nach seiner Umwandelung in die „Vereinigung 1937“, d.h. nach dem Ausscheiden der volljd. Christen, beträgt die Mitgliedersumme nur noch rund 3000.Daraus kann man folgern, dass etwa 1500 christl. Volljuden gelegentlich der Umwandelung in die „Vereinigung 1937“ aus dem Verbände ausgeschlossen worden sind. Die alte Organisation bestand demnach zu Vs aus Volljuden und Vs aus Mischlingen. Das Verhältnis Vs zu Vs dürfte auch bei Berechnung der nichtar. Christen zu Grunde zu legen sein, die dem früheren „Paulus-Bunde“ nicht beigetreten waren, d.h. auch hier dürften 33 Vs % Mischlingen gegenüberstehen.

Geht man von den obengenannten Mischlingszahlen v. 300 000 bezw. 500 000 aus, so würden auf die (300 000: 3 =) 100 000 bezw. (500 000: 3 =) 166 667 getaufte Volljuden entfallen.

Die ungefähre Gesamtzahl der nichtar. Christen wäre danach auf (300 000 + 100 000 =) 400 000 bezw. auf (500 000 + 166 667 =) 666 667 anzusetzen.

Nach einer mir früher gemachten Mitteilung des ehem. „Paulus-Bundes“ befanden sich unter seinen Mitgliedern 12 % Katholiken; das ist auch der ungefähre Prozentsatz, der nach der letzten Volkszählung für das Verhältnis der beiden christl. Bekenntnisse zueinander für Berlin errechnet worden ist. Man wird demnach annehmen können, dass von den 400 000 bezw. 666 667 Christen jd. Abstammung 12 %, das sind 48 000, bezw. 80 000 kath. Glaubens sind.

Die Lage der Mischlinge ist eine wesentlich bessere als die der Volljuden. Man kann daher nicht wissen, ob bei einem wesentlichen Teile der Mischlinge überhaupt eine Auswanderungsabsicht besteht, u. ob den Behörden ihre Aussiedlung erwünscht ist. Für die Auswanderung dürften demnach - wenigstens nach der gegenwärtigen Lage - nur die Christen in Frage kommen, die 3 oder 4 jd. Großeltern- oder 2 volljd. Elternteile haben.

Die Zahl dieser Christen habe ich oben mit 100 000 bezw. mit 166 667 angesetzt. Nimmt man auch hier an, dass 12 % der Hl. Kirche angehören, so wären die Katholiken, die nach den deutschen Gesetzen Juden sind, auf 12 000 bezw. 20 000 zu berechnen.

Diese Schätzungen gelten nur für das alte Reichsgebiet. Wie die Verhältnisse im ehem. Österreich liegen, ist mir unbekannt. Man wird aber unbedenklich annehmen können, dass der Hundertsatz der Katholiken unter den getauften Juden u. Mischlingen die Zahl 12 erheblich übersteigt.

II. Materielle Lage: Die wirtschaftliche Lage der jd. Katholiken ist weit schlimmer als die ihrer Volksgenossen mosaischen Glaubens, denn die jd. Hilfsorganisationen lehnen die Unterstützung der Konvertiten bei der Auswanderung grundsätzlich ab.

III. Jüd. Hilfsorganisationen: Die Hilfskomitees des Judentums sind so zahlreich, dass man sie nicht aufzählen kann, es gibt auch keine Verzeichnisse, aus denen sie ersichtlich sind.

1.) Inland: Träger der jd. Wohlfahrt, zu deren Hauptaufgaben die Auswanderungsfürsorge zählt, sind in Preussen die Kultusgemeinden, die in Provinzialverbänden zusammengefasst sind. Die Provinzialinstanzen sind in der „Reichsvertretung der Juden in Dtschl.“ in Bln.-Charl. 2, Kantstr. 158, zusammengeschlossen. In den nicht preuss. dtn. Ländern fehlen die Provinzialverbände; hier sind die Einzelgemeinden der „Reichsvertretung“ unmittelbar unterstellt. Neben der „Reichsvertretung“ besteht in Bln. W 35, Ludendorffstr. 20, der „Hilfsverein der Juden in Dtld.“, dessen ausschliessliche Aufgabe die Durchführung der Auswanderung ist.

Zu diesen Verbänden gesellen sich im Inlande die zahlreichen - ebenfalls auf Auswandererbetreuung eingestellten - zionistischen Organisationen, deren Zusammenschluss das „Palästina-Amt“ der zi. Vereinigungen für Dtld. in Bln. W 15, Meineckestr. 10, ist. Schliesslich sei noch die „Jüd. Beratung u. Förderung für Umschichtung (d.i. = Umschulung) zwecks Auswanderung“ in Bln. C. 2, Rosenstr. 2, genannt.

2. Ausland: Im Auslande, im europäischen und aussereuropäischen, bestehen in jeder Hauptstadt der wichtigsten Länder Auswandererhilfskomitees, die von den Juden des betr. Landes unterhalten werden.

Aufgaben dieser Hilfsstellen sind u.a.:

a. Empfang der Aus- oder Durchwanderer auf dem Grenzbahnhof oder im Ankunftshafen;
b. Unterstützung [durch] Geld und Kleidungsstücke;
c. teilweise auch Umschulung;
d. Ausrüstung für eine etwaige Weiterreise;
e. Gewährung von Unterkunft u. Verpflegung für die Übergangszeit;
f. Arbeitsvermittlung;
g. Jugendfürsorge u.
h. Bereitstellung der von der Einwanderungsbehörde geforderten Geldmittel.

Von diesen Auslandsorganisationen habe ich nur die Adresse der Londoner erfahren können, u. zwar die des „German-Jewish Aid Commitee“ Woburn House, Upper Woburn Place in London W.C.i.

Die Büros dieses Hilfsvereins sind in nicht weniger als 14 Stockwerken untergebracht.

3. Kath. Hilfsorganisationen: Diesem grossartigen Hilfswerk der jd. Glaubensgemeinschaft stehen auf kath. Seite nur 2 Organisationen gegenüber: der Raphaelsverein u. das bi-schöfl. Komitee in New York, deren segensreiches Wirken das grösste Lob verdient.

Eine Hilfe des New-Yorker Komitees wird in vielen Fällen gar nicht möglich sein. Wie mir Herr Dr. Krone mitteilte, ist eine Einwanderung in die U.S. A. nur mittels eines Ver-wandten-Affidavits zulässig; Bürgschaften von befreundeter Seite werden demnach nicht anerkannt. Wer also keine oder nur weitläufige Verwandte in den Vereinigten Staaten hat, ist ohne weiteres von dem Zuzug in dieses Land ausgeschlossen; das gilt auch für den Fall, dass Amerikaner jd. Glaubens ihren kath. Angehörigen das Affidavit verweigern. Ausser-dem verspricht die Auswanderung in ein Land, das, - wie die U.S.[A.] - 10 bis 12 Millionen Arbeitslose hat, keine einigermaßen gesicherte Zukunft. Es gilt daher, die kath. Auswanderung in andere Länder zu leiten, so nach Canada, Australien, Neu-Seeland, vor allem aber nach Süd- und Ost-Afrika u. nach Süd- und Mittel-Amerika.

Die Einwanderung nach Süd-Afrika hätte den Vorzug, dass viele Auswanderer - wenn auch vielleicht nur notdürftig - die engl. Sprache beherrschen, dass dieses Gebiet nach einer kürzlichen Rede des Generals Smuts ein sehr entwicklungsfähiges ist, das wirtschaftlich noch in den Kinderschuhen steckt.

Für Süd- und Mittel-Amerika spricht, dass in den fast ganz kath. Ländern den kath. Einwanderern ein Aufgehen in der Bevölkerung wesentlich erleichtert wird.

Für diese Länder - oder wenigstens für einige von ihnen - wäre m.E. ebenfalls bischöfl. Komitees nach dem nordamerikanischen Muster zu schaffen. Für Süd- und Ost-Afrika zusammen würde ein Komitee in Kapstadt genügen; für Süd- und Mittelamerika erscheinen mir 2 angebracht, das eine für das portugiesische (Brasilien) u. das andere für das spanische Sprachgebiet (die übrigen Länder).

Diese Komitees dürften ungefähr die gleichen Aufgaben zu erledigen haben, die dem in New York u. den jd. Hilfsorganisationen im Auslande obliegen.

Es wäre meines Dafürhaltens ein besonders verdienstliches Werk christlicher Caritas, wenn von Rom aus weitere bischöfl. Hilfsstellen im Sinne meines Vorschlages geschaffen würden. An Mitteln hierfür kann es nicht fehlen: Wenn die rund 18 Millionen Juden der ganzen Welt in der Lage sind, für etwa 500 000 Glaubensgenossen in Dtl. ein so gewaltiges Hilfswerk zu unterhalten, müsste es den etwa 380 Millionen Katholiken des Erdkreises auch möglich sein, für eine erheblich geringere Zahl von Glaubensbrüdern ähnliches zu leisten.

Dass bei der Einrichtung der Komitees grösste Eile geboten ist, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.

Zum Schlusse erlaube ich mir noch zu erwähnen, dass es vielleicht angebracht wäre, seitens des Raphaels-Vereins Exposituren in Bln. und Wien zu errichten, u. zwar in möglichst enger Anlehnung an die bischöfl. Ordinariate. Die Aufgabe dieser Zweigstellen wäre die Beratung der in der Nähe wohnenden Auswanderungslustigen u. die Vorbereitung ihrer Ausreise. Die Auswanderung selbst müsste alsdann - wenn alle erforderlichen Unterlagen zusammengebracht worden sind - durch die Hamburger Hauptstelle geschehen.

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