Tagebucheintrag von Hertha Nathorff
Hertha Nathorff notiert am 5. August 1938 ihre Reaktion auf das Approbationsverbot für jüdische Ärzte:
Ich konnte nicht schreiben, ich bin noch immer wie gelähmt, der erste Silberfaden glänzt in meinem Haar, das hat der Kummer der letzten Tage gemacht.
Wir saßen bei Tisch mit unseren Gästen, da ein Telefonanruf. Ich gehe selbst an den Apparat. Kollege S., er frägt mich: „Haben Sie eben Radio gehört?“ „Nein“, sage ich, „was ist denn wieder los?“ Der sonst so ruhige Kollege, er sagt mit zitternder, erregter Stimme: „Was Sie immer prophezeit haben, sie nehmen uns die Approbation, wir dürfen nicht mehr praktizieren - eben hat man‘s am Radio durchgesagt.“ „Am Radio durchgesagt.“ So müssen wir erfahren, daß man uns nimmt, was wir durch jahrelanges Studium erworben, was prominente Professoren, berühmte Universitäten uns zuerkannt haben ... Ich kann es nicht fassen ...
„Und ich muß es nun meinem Mann sagen.“ Das war das einzige, was ich in dem Augenblick denken konnte, wie ich ruhig an den Eßtisch zurückgehen, die Tafel aufheben und meinen Gästen sagen konnte, „es ist nichts Besonderes“. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, wie ich am Schreibtisch saß, die Hände verkrampft und meinem Mann sagte: „Es ist aus - aus - aus.“ Er holte dann eine Zeitung, und wirklich, es stand schon drin. So haben wir jüdischen Ärzte unser Todesurteil erfahren. In der Klinik sind sie völlig verzweifelt. Die Oberin, die arischen Schwestern, die noch da sind, sie gehen mit uns, erklären sie -Was hilft’s? Was würde geschehen, wenn ich mein Dienstmädchen auf diese Weise aus Beruf und Arbeit brächte? Jedes Arbeitsgericht würde mich einsperren lassen - aber uns, uns darf man mit einem Federstrich auslöschen aus dem Register der Ärzte.4 Wer wird denn künftig die armen jüdischen Patienten behandeln? Sie dürfen eben wohl auch nicht mehr krank sein - manche Apotheken geben ja an Juden auch keine Medikamente mehr ab. Es muß an allem gespart werden, da fängt man an, den Juden den Brotkorb noch höher zu hängen als den anderen Menschen in Deutschland.
Ich habe den Onkel, der zur Zeit in der Schweiz ist, noch einmal flehentlich um das Affidavit gebeten. Jetzt wird er wohl einsehen, daß ich allen Grund dazu habe!
Täglich Ärger mit alten Patienten, weil ich die Behandlung ablehnen muß. „Mein Mann ist doch Jude, da können Sie doch zu mir auch kommen, ein arischer Arzt will ja gar nicht in unser Haus kommen.“ „Ich sage doch niemand, daß Sie mich behandeln.“ - Daß die Menschen nicht einsehen wollen, daß Gesetz eben Gesetz ist und daß ich nicht dagegen verstoße - keinesfalls - es kommt ja auf ein paar mehr oder weniger, die mich nicht mehr mögen, nicht an!