Auf Grund dieses Rundschreibens veröffentlichte der „Westdeutsche Beobachter“ eine Reihe von Firmen, die alle nicht mehr für Juden arbeiten wollten. Es fehlten jedoch in dieser Liste gerade die als nationalsozialistisch bekannten Firmen. Man opponiert nun in Handwerkerkreisen gegen diesen Schwindel, da auch in diesem Falle die Nazis ein Geschäft machen wollen.
Bayern: In Eichstätt wurden zwei Juden verhaftet, Paul Freimann und Egon Guttentag, weil sie die NSDAP und ihre Führer beschimpft haben sollen. Sie wurden in Schutzhaft genommen; man nimmt an, daß sie schon nach Dachau eingeliefert wurden.
In Hof a. Saale wurde der Geschäftsmann Anders (Konfektionswaren, außerdem Besitzer aller Kinos in Hof) verhaftet, weil er sagte, daß er für die NSDAP und das WHW schon sehr große Beträge gegeben habe. Die NSDAP aber erklärt, sie lasse es nicht auf sich sitzen, daß sie von Juden finanziert werden, deshalb die Verhaftung. Der Verhaftete ist aber getaufter Christ, sein Vater ist Arier, seine Mutter war Jüdin.
Sachsen: Am 10. und 11. Juli 1935 haben sich auch in Dresden Unruhen ereignet, die sich hauptsächlich auf der See- und Pragerstraße abspielten. Wegen „jüdischer Devisenschiebungen“ gab es auf den genannten Straßen Zusammenrottungen von SA und Zivil, die Rufe ausstießen: „Nieder mit den Judenhunden!“ usw. Auch holte die SA verschiedentlich Juden oder jüdisch aussehende Menschen aus den Cafés. Vielfach setzten sich letztere ziemlich energisch zur Wehr, so daß sich allerhand Keilereien entwickelten. Ehe die Polizei, die 5 Minuten zu Fuß entfernt in großen Bereitschaften vorhanden ist, eintraf, verging über eine halbe Stunde. Bei Eintreffen der Polizei und Feldjäger zerstreute sich die Menge, ohne daß die Gummiknüppel in Anwendung gebracht wurden. Die SA ging bei Eintreffen der staatlichen Organe auseinander.
In Freital-Potschappel bei Dresden hat sich am 20. 7. im Zentralkaufhaus Eckstein folgender Vorfall abgespielt, der besonders deutlich zeigt, wie man Volksempörung gegen die Juden organisiert: Es handelt sich um das größte Kaufhaus mit 74 Angestellten. Eine Angestellte, die Braut eines SA-Sturmführers, übernahm die Rolle, den Chef herauszufordern und sagte jeder Kundschaft, die bei ihr irgendeine Ware verlangte, sie sei nicht zu haben, bis der Chef sie am Arme packte und sagte: „Sie verdienen ein paar Schellen, es ist doch alles hier!“ Das Mädchen meldete dies ihrem Sturmführer. Dann kam die SA, drang in das Geschäft ein, verprügelte den Inhaber und plakatierte an den Auslagen: „Der Jude Eckstein schlug ein deutsches Mädchen“, und die üblichen Judenparolen. Die Polizei schritt ein und nahm Eckstein in Schutzhaft. Die SA hielt dann eine Straßenversammlung ab und versprach großtönend, dafür sorgen zu wollen, daß das Geschäft nicht wieder aufgemacht würde. Die Bevölkerung verhielt sich überraschend ablehnend; von einer Sympathie mit der SA und ihrem Vorgehen war keine Spur. Die Arbeiter demonstrierten sogar sehr offen durch Zwischenrufe, wie „Das ist das wahre Gesicht des Nationalsozialismus“ oder „Das ist nationalsozialistische Arbeitsbeschaffung“ usw. Die Zwischenrufer wurden nicht gefaßt. Die Arbeiter, besonders die Angestellten der Firma, sind überhaupt sehr erbittert, weil sich herausstellt, daß Eckstein die besten Löhne der ganzen Umgebung zahlt. Er hat auch zur Winterhilfe den größten Betrag gespendet. Außerdem hat er in verschiedenen Kindererholungsheimen Betten stehen und kommt für die Kosten einer Anzahl Kinder auf. Schließlich ist er auch Frontkämpfer. Das Geschäft wurde montags darauf trotz SA-Demonstrationen wieder geöffnet und erfreut sich lebhaften Zuspruches, woran auch das Photographieren der Besucher nichts ändert. Nun sitzen außerdem die SA-Leute noch in der Patsche, weil sich, abgesehen von der Hilfsbereitschaft Ecksteins, noch herausstellte, daß E. das Mädchen gar nicht geschlagen hat. Die Presse brachte im Gegensatz zu anderen derartigen Fällen nur eine ganz kleine nichtssagende Notiz über Geschehnisse bei der Firma.
In der Kleinstadt Löbau ist es früher nie zu großen Ausschreitungen gegen die Juden gekommen; diese sind dort alteingesessen und mit den Honoratioren des Städtchens durch viele gesellschaftliche Bindungen verknüpft. Jetzt sitzen zwei Inhaber von alten Konfektionshäusern, alle beide ganz und gar unpolitische Leute, im Konzentrationslager. Grund: Während des letzten Löbauer Jahrmarktes war die Hitler-Jugend schreiend in die Geschäfte eingedrungen und hatte die Leute beleidigt und bedroht, die dort kauften. Die Inhaber ließen die Polizei kommen. Die half zwar oder tat wenigstens so, als ob sie helfen wollte. Der Endeffekt war aber die „Sicherung“ der beiden Kaufleute vor dem sogenannten „Volkszorn“ durch ihre Inhaftierung.
Dr. med. Boas, Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist einer der meistbesuchten Ärzte von Crimmitschau. Das ärgerte seine Berufskollegen und aus Konkurrenzneid brachten sie es soweit, daß Boas Anfang April als Jude erklärt wurde. Bis April ds. Jhrs. hatte man an der jüdischen Abstammung Dr. Boas keinen Anstoß genommen. Während des Krieges war Dr. Boas Regimentsarzt, sein Vater war Generalarzt und Hausarzt eines regierenden Fürsten. Nachdem aber Boas öffentlich als Jude erklärt worden war, wurden ihm am 15. April anläßlich einer Demonstration die Fenster eingeschlagen und sein Firmenschild zertrümmert. Am selben Tage gegen 22.30 Uhr wurde dann Dr. Boas in Schutzhaft genommen, ohne daß der Grund seiner Verhaftung bekanntgegeben wurde. Die SA hat bei seiner Verhaftung die ganze Wohnungseinrichtung zerschlagen und alle ärztlichen Instrumente zerstört. Obwohl bei der Verhaftung genügend Polizeibeamte zugegen waren, hat sie die SA in ihrer Zerstörungswut nicht gehindert.
Diesem Vorfall voraufgegangen war ein ganzseitiger Artikel: „Jüdischer Arzt als Rassenschänder“, der in der NS-Tageszeitung vom 13./14. April veröffentlicht wurde und die Forderung enthielt, Dr. Boas sofort die Befugnis, sich Kassenarzt zu nennen, zu entziehen und dafür zu sorgen, daß er sofort als Arzt von Crimmitschau verschwindet. Dieser wüste Hetzartikel zeigt, daß die Methoden des „Stürmers“ keineswegs vereinzelt in Deutschland dastehen. In dem Artikel heißt es u. a.:
Viele Volksgenossen sind nun der Ansicht, der getaufte Jude sei besser und habe mit der Taufe alle seine Schandtaten abgelegt. Wie irrig diese Meinung ist, beweist uns ein Fall in Crimmitschau. Denn auch hier achtet der Jude vorerst sein jüdisches Gesetzbuch, den Talmud, und gebraucht sein angebliches Christentum nur als Mittel zum Zweck.
Auch in Crimmitschau haben wir einen derartigen Schmarotzer der Menschheit. Es ist der getaufte Jude Dr. med. Kurt Boas, der seit vielen Jahren in unserer Stadt seine Tätigkeit als Haut- und Harnarzt und als Arzt für Geschlechtskrankheiten ausübt. Dieser Judenarzt zählt mit zu denen, von denen Christus einst sagte, sie gingen in Schafspelzen umher. Mit echt jüdischer Scheinheiligkeit spielt er den vornehmen und anständigen getauften Juden. . . . Daß er aber mit dem Gesichte der Scheinheiligkeit und „angeblichen“ Anständigkeit bei den Crimmitschauern durchkommt und daß ihm sein ganzes jüdisches Gebaren fabelhaft gelingt, das beweist die Tatsache, daß noch heute viele Crimmitschauer Volksgenossen zu ihm in Behandlung gehen, ja sogar, daß er Kassenarzt ist und auch die Genehmigung zur Behandlung von Wohlfahrtserwerblosen hat.
Vor längerer Zeit besuchte nun auch ein arisches Mädchen des Juden Sprechstunde. . . . Jud Boas verdrehte diesem arischen Mädchen den Kopf, machte ihr vor, daß er sie heiraten wolle und tat mit ihr wirklich so, als wäre er ein wirklich väterlicher Berater für das blutjunge Mädchen. Er verreiste mit ihr, übernachtete mit ihr und es muß deutsch gesprochen werden, er gebrauchte sie auch. Es wäre nun besser gewesen, das Mädchen hätte dem elenden Talmudjuden ins Gesicht gespien, als daß sie sich mit diesem Herrn „Kanalgeruch“ abgegeben hätte. Aber es ist eben das Bedauerliche, dieses deutsche Mädchen mußte sich für diesen Juden hingeben, sie konnte ihm nicht widerstehen . . . Das Mädchen brachte den Vorschlag, daß die Liebelei aufhalten solle und sie nur noch als Patientin in seine Sprechstunde kommen würde. Sie würde dadurch nur Schwierigkeiten haben.
Der Jud hierüber erbost, sagte: „Na gut, wenn Schluß ist, dann ist es ganz Schluß, dann bestrahle ich Dich auch nicht mehr.“
Zum Grausen ist es, wenn man nun feststellen muß, daß sich hier eine Pfarrerstochter gefunden hat, die dem Juden Dienste verrichtet. Das 22 Jahre alte Mädchen, Tochter eines evangelischen Pfarrers, schämt sich nicht, und mit ihr schämen sich auch ihre Eltern nicht, daß sie bei diesem Mädchenschänder Arbeit verrichtet.
Dieser Geistliche ist vor einigen Jahren vom roten Rußland heimgekehrt in seine deutsche Heimat, weil er dort fliehen mußte, wenn er nicht den Märtyrertod erleiden wollte, und heute hat er alles das vielleicht schon wieder vergessen. Er gibt sein Kind her für einen Schmarotzer, der unserer Rasse fremd ist. Darum ist es an der Zeit, daß sich der deutsche Pfarrer endlich einmal überlegt, was er damit für ein Unheil anrichtet. Der Geistliche tut gut, wenn er sein Kind sofort von diesem Schänder deutschen Blutes fortnimmt, ehe es zu spät ist und seine Tochter ihr Leben als verpfuscht betrachten muß . . .
Den Höhepunkt an Niedrigkeit, Gemeinheit und sittlicher Verwahrlosung bildet die Behandlung einer schwerkranken Frau gegenüber. Ihr schleuderte dieser jüdische Schmarotzer die Worte entgegen: „Ich bin doch nicht bloß für Ihre Schweinereien da.“ . . .
Die Schuld an dieser Kulturschande trägt einzig und allein die Kassenärztliche Vereinigung. Ihr sind die Beschwerden alle zu Ohren gekommen, und sie ist von dem Schalten und Walten ihres Kassenarztes voll unterrichtet gewesen. Sie hat - und das ist ihr größtes Verschulden - nicht den deutschen Volksgenossen geglaubt, sondern dem Juden Dr. Boas . . .
Nun kommt noch eins hinzu! Dr. Boas soll Morphinist sein. Er hat zwar durch seinen „Freund“ Dr. Eckstein Beschwerden gegen eine solche Behauptung einlegen lassen und dies zu widerrufen gesucht, aber die Behauptung wird, wie wir hören, aufrecht erhalten ... —
Alle Beamten der Stadt Zwickau haben von der NSDAP die schriftliche Mitteilung erhalten, daß sie fortan nicht mehr im Kaufhaus Schocken kaufen dürfen. Sie mußten einen entsprechenden Revers unterschreiben. Die Bahn- und Postverwaltung haben ihre Beamten durch einen Anschlag aufgefordert, nicht mehr bei der genannten Firma zu kaufen. Desgleichen wurde der Firma untersagt, zu inserieren.
Wasserkante: Die Reichsamtsleitung des nationalsozialistischen Lehrerbundes trifft in ihrem Rundschreiben Nr. 4, 2. Jahrgang vom 1.2.35 folgende Anordnung:
„Mitgliedern des NSLB - ganz gleich, ob Pg. oder Nichtpg. ist untersagt, vor Gerichten sich durch jüdische Rechtsanwälte vertreten zu lassen. Wer wissentlich gegen diese Anordnung verstößt, wird ohne weiteres aus dem NSLB ausgeschlossen. Die Gauamtsleitung teilt hierzu noch mit, daß vor einiger Zeit Meldungen eingegangen sind, daß einzelne Lehrer, die namhaft gemacht wurden, jüdische Ärzte aufsuchten.“
Der Hannoversche Kurier vom 22.7.35 meldet:
„Der Jude Kurt Heilbrun in Braunschweig, der wegen jahrelang betriebener Rassenschande, in Verbindung mit Gefährdung der öffentlichen Ordnung in Schutzhaft genommen werden sollte, wurde auf Ersuchen der braunschweigischen politischen Polizei in Hamburg festgenommen. Nach der Festnahme machte er seinem Leben dadurch ein Ende, daß er sich in einem unbewachten Augenblick aus dem II. Stockwerk des Stadthauses Hamburg auf die Straße stürzte.“
Dies ist seit Beginn der Naziherrschaft der vierte feststellbare Fall, daß sich im Hamburger Stadthaus Leute „in unbewachten Augenblicken“ aus dem II. Stockwerk auf die Straße stürzten.
Ende April wurde ein älterer Jude, mit einem Plakat um den Hals, durch die Straßen Lübecks geführt, fortwährend von der zusammengelaufenen Menge getreten, bespuckt und beschimpft. Beim Anspucken taten sich besonders die Mädels vom BdM hervor. Dem Vorfall soll folgendes zugrunde liegen: Der Inhaber einer Altwaren-Verwertungsfirma, die ungefähr 50 Personen beschäftigte, soll keine Angestelltenmarken für die Angestellten geklebt oder zu spät geklebt haben (jedenfalls söll es mehr auf Nachlässigkeit zurückzuführen gewesen sein). Der Mann löste seine Firma auf und wollte nach Hamburg ziehen. Nazistellen dirigierten einen Trupp Erwerbslose, die des Glaubens waren, sie sollten dort Lumpen sortieren, zu dem Mann hin. Dort sagte man ihnen erst, daß sie ihn durch die Straßen führen sollten. Sie erwischten aber nicht den Geschäftsinhaber, sondern seinen gänzlich unbeteiligten Bruder. Der Vorgang hat auf viele Menschen des Bürgertums sehr abstoßend gewirkt. Die mißbrauchten Arbeitslosen erklärten hinterher, sie würden sich ein zweites Mal für eine so gemeine, furchtbare Sache nicht mehr gebrauchen lassen.
Über das Verhalten der Bevölkerung zu den antisemitischen Ausschreitungen der Nationalsozialisten liegen uns folgende Berichte vor:
Berlin: Auch in Wedding hat man in den letzten Tagen bei den jüdischen Geschäften die Fensterscheiben beschmiert, aber zu größeren Ausschreitungen ist es nirgends gekommen. Die ganze Aktion findet, wenigstens im Berliner Norden, keinerlei Anklang bei der Bevölkerung. Man sagt sich: Das Ganze ist eine abgekartete Sache, die die Bevölkerung davon abbringen soll, wie es in Wirklichkeit bei den Nazis aussieht. Irgendwelche Gegnerschaft ist in diesen Kreisen der Bevölkerung nicht vorhanden. Es heißt: Die Juden haben uns doch nichts getan. Ein großes jüdisches Kaufhaus im Wedding geht nach wie vor gut, vielleicht sogar besser als früher. Auch die kleinen Geschäftsleute sind nicht gegen die Juden eingestellt. Sie hängen ja selbst wirtschaftlich wieder zum Teil von ihrer jüdischen Kundschaft ab. Jedenfalls ist die Haltung der gesamten Bevölkerung zur Judenfrage heute ganz anders als bei den Aktionen gegen die Juden im Jahre 1935 [richtig vermutlich: 1933],
2. Bericht: Im allgemeinen kann man feststellen, daß die Juden-Po-grome, die Vorstöße gegen die katholische Kirche und das Verbot des Stahlhelms zusammengenommen mit den Preissteigerungen, eine starke Auflockerung der allgemeinen Stimmung hervorgerufen haben. Man wertet in der Bevölkerung alle diese Vorgänge als Ablenkungsmanöver und vermutet hinter diesen Maßnahmen ernste Schwierigkeiten und Differenzen im Regierungslager.
Die Judenpogrome werden keineswegs gebilligt. Auch Leute, die mit der NSDAP sympathisieren, lehnen diese Art der Judenverfolgung ab.
An die Delikte von Juden, die in der Presse groß auf gemacht werden, glaubt kein Mensch. Man macht sich lustig darüber, daß in Breslau ein 78jähriger Jude fünf arische Mädchen „geschändet“ haben soll. Ebenso glaubt kein Mensch daran, daß bei der Vorführung des Filmes „Petterson und Bendel“, die Juden „im Schutze der Dunkelheit“ demonstriert haben sollten. Man weiß natürlich, daß im Schutze dieser Dunkelheit A 61 die Partei- und SA-Leute diese ganze Sache inszeniert haben. Auch die Behauptung des Staatskommissars Lippert, daß in den letzten Jahren 65 bis 80% der Verbrecher Juden gewesen seien, wird nur belächelt. Man sagt in der Bevölkerung: man faßt eben nur die Juden, die anderen läßt man laufen.
3. Bericht: Als die SA-Leute vor den Eisdielen am Gesundbrunnen demonstrierten, sammelten sich bald große Menschenmengen an. Die Stimmung war jedoch durchaus für die Besitzer der Eisdielen. Die Mehrzahl der Neugierigen ließ deutlich den Unwillen über das Vorgehen der SA erkennen. Es wurden Bemerkungen gemacht wie: Die Lümmel haben nichts weiter zu tun, als Krawall zu machen. - Zum arbeiten sind sie zu faul, deshalb machen sie Stunk vor den Eisdielen. - Die Juden haben doch vom Magistrat die Konzessionen, da muß man sie doch auch zulassen und dafür sorgen, daß sie ihr Gewerbe ausüben dürfen. - Auf diese Weise wird schließlich noch das letzte bißchen Wirtschaft vor die Hunde gejagt.
Im Seebad Rangsdorf bei Berlin hat kürzlich eine „Stürmer“kolonne eine Propaganda-Aktion durchgeführt. Die Stürmertruppe zog mit Musik ein und wollte die Badegäste des Strandbades zum Anhören eines Vortrages veranlassen. Die Badegäste zeigten kein Interesse, so daß die Propagandakolonne „sanften Druck“ anwenden mußte, um die Leute zusammenzubekommen. Das Publikum hat bei der Badeverwaltung protestiert und erklärt, daß man Sonntag seine Ruhe haben wolle. In der Woche sei man natürlich gern bereit, aber am Sonntag müsse damit Schluß sein. Wenn man mit diesen Propaganda-Aktionen in Rangsdorf nicht aufhöre, würden die Gäste vergrault werden.
Bayern, 1. Bericht: Die Judenverfolgungen werden wenig beachtet. Das gilt besonders für das Land. Die Zahl der Gemeinden, die den bekannten Spruch am Eingang des Dorfes angebracht haben: „Juden sind hier nicht erwünscht“, hat zwar in der letzten Zeit erheblich zugenommen, eine besondere Beunruhigung ist dadurch nicht entstanden. Das Volk beteiligt sich jedenfalls an diesen künstlichen Demonstrationen nicht.
2. Bericht: In der Nacht zum 1. Mai wurden in München aus einem Auto in die Auslagen des Geschäftes des Juden Pappenheim am Weißenburgerplatz kindskopfgroße Steine geworfen, die die Scheiben zertrümmerten. Am anderen Tage sammelte sich vor dem Laden eine größere Menschenmenge an, die ganz offen gegen diese Exzesse Stellung nahm. Man hörte Worte, wie „unerhörte Zustände“, „Gemeinheit“, „Lausbüberei“ usw. So zeigte sich klar, daß die Bevölkerung keinerlei Verständnis für die Streiche der Nazis hatte. Die Polizei mußte die immer größer werdende Menge schließlich auseinandertreiben. Dem Beobachter war klar, daß die Ausschreitungen kein Ausfluß der Massenerregung, sondern eine vorbereitete Sache einiger Verbrecher war. A 62 Auch vor dem Geschäft des Juden Schwarz erschienen während des Tages Nationalsozialisten und warnten die Käufer vor dem Betreten des Geschäftes. Es war aber auffallend, daß sich niemand abhalten ließ; ja man konnte sogar beobachten, daß einige Käufer ihre eingekauften Waren demonstrativ kaum verpackt in der Hand trugen.
Südwestdeutschland, 1. Bericht: In Wangen hatten die Streicherleute eine Anschlagtafel für den „Stürmer“ angebracht. Sie war nach kurzer Zeit plötzlich verschwunden. Später fand man sie vollständig zerschlagen in einem Roggenacker beim Mühlenweiher. Die drei Täter, von den Nazis als „Judenknechte“ beschimpft, wurden verhaftet.
2. Bericht: In einem hessischen Dorf wurden einige Bauern ertappt, als sie ihr Vieh an jüdische Händler verkauften. Die Namen dieser Bauern wurden auf dem schwarzen Brett der Gemeinde angeprangert. Darüber empörte sich das ganze Dorf, denn im Grunde genommen ist kein Bauer da, der noch nicht an einen Juden verkauft hat. Zudem verkaufen die Bauern überhaupt lieber an Juden, einmal weil sie etwas mehr erhalten, als von der Genossenschaft und aber vor allem, weil sie vom Juden ihr Geld sofort bekommen. Die Namensanschläge an der schwarzen Tafel wurden abgerissen und eine Protestversammlung der Bauern einberufen. Zu dieser Versammlung erschien vom „Reichsnährstand“ als Beauftragter der Nazi-Kreisleiter Put, MdR. und Bürgermeister von Schlüchtern. Put fragte: „Was ist denn nur los bei Euch, Ihr wart doch früher so gut national. Das mit dem schwarzen Brett ist doch nicht so schlimm, die Namen wären sowieso wieder weggekommen. Was habt Ihr denn nun auf einmal?“ Darauf aus dem Zuhörerkreis mehrere Stimmen auf einmal: „Kein Geld haben wir mehr!“ Put darauf: „Ach, kein Geld, das habe ich auch nicht!“ Nun erscholl aus der Versammlung lautes Lachen und ein allgemeines: „Oho, wenn Du als drei- und vierfacher Verdiener kein Geld hast, wer solls denn nachher haben?“ So ging die Versammlung in einem Hin- und Herrufen solcher Art unter, und Herr Put gab zum Schluß nur noch das Versprechen ab, daß kein Bauer mehr am schwarzen Brett angeschrieben wird, wenn er etwas an Juden verkauft.
3. Bericht: Die Besitzer von Gaststätten werden gezwungen - mit Boykottandrohungen und „anderen Folgen“ - Schilder anzubringen mit der Aufschrift: „Hier sind Juden unerwünscht“. Die meisten Gaststätten haben diese Schilder schon. Viele hängen sie an versteckten Plätzen auf. In einem Café in Kassel fand ein jüdischer Stammgast eines Tages auch dieses Plakat vor. Er stellte die Wirtin zur Rede, weil sie ihm noch nichts gesagt habe, daß er ein ihr unerwünschter Gast sei. Die A 63 Wirtin bat dutzendemale um Entschuldigung und sagte dem Gast, er solle doch bleiben, das Schild habe sie nehmen müssen.
Der Besitzer des „Schloßhotels Wilhelmshöhe“ weigerte sich, ein solches Schild zu nehmen. Man drohte ihm, daß er die Tragweite seiner Handlung noch zu spüren bekomme.
In Kassel ging eine Jüdin auf den Wochenmarkt. Eine Gemüsehändlerin schreit über ihren Stand weg zu ihr hinüber: „Frau, bei uns können Sie ruhig kaufen, wir sind keine Nazi.“ Die Jüdin kauft bei der Gemüsefrau, schweigt, zählt das Geld für die Ware hin und sagt: „Stimmt es?“ Darauf die Gemüsefrau: „Jawohl, es stimmt, mir kann das ganze Nazipack . . .“
Wasserkante: Die allgemeine Redensart in Lübeck ist: „Die Juden sind nicht die Schlimmen, sondern die weißen Juden!“ Der Antisemitismus schlägt nicht tiefere Wurzeln. Beobachtungen in Lokalen, wo Zeitungsverkäufer den „Stürmer“ anbieten, ergeben, daß ihnen fast nie jemand das Blatt abkauft.