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Chronik und Quellen
1938
Juni 1938

Bericht des US-Botschafters in Berlin an das US-Außenministerium

Der Botschafter der USA in Berlin informiert seinen Außenminister am 22. Juni 1938 über antijüdische Demonstrationen und Verhaftungen von Juden:

Betrifft: Demonstrationen gegen jüdische Geschäfte Exzellenz,

unter Bezugnahme auf das Botschaftstelegramm Nr. 307 vom 16. Juni um 11 Uhr, in dem über umfangreiche Verhaftungen von Juden berichtet wurde, habe ich die Ehre, das Ministerium davon zu unterrichten, dass auf diese Aktion am Wochenende des 18. Juni organisierte Demonstrationen gegen jüdische Geschäftsinhaber in Berlin folgten.

Vom späten Samstagnachmittag an konnte man Gruppen von Zivilisten, gewöhnlich bestehend aus zwei oder drei Männern, beobachten, die an die Schaufenster jüdischer Geschäfte das Wort „Jude“ in großen roten Buchstaben, den Davidsstern und Karikaturen von Juden malten. Auf dem Kurfürstendamm und in der Tauentzienstraße, dem eleganten Einkaufsviertel im Berliner Westen, wurde den Malern die Arbeit dadurch erleichtert, dass am Vortag jüdische Geschäftsinhaber angewiesen worden waren, ihre Namen in weißen Buchstaben am Laden anzubringen. (Dieser Schritt war offensichtlich im Vorgriff auf eine bevorstehende Regelung verfügt worden, wonach Juden verpflichtet werden sollen, ein einheitliches Erkennungszeichen anzubringen. Dies machte deutlich, dass in diesem Viertel immer noch eine überraschend große Zahl von jüdischen Geschäften existiert.) Den Malenden folgte jeweils ein großer Trupp Schaulustiger. Diese genossen das Geschehen offensichtlich sehr. Nach Ansicht informierter Kreise wurde die Maßnahme von Vertretern der Arbeitsfront und nicht wie früher von der SA oder SS durchgeführt. Man weiß, dass sich in der Gegend um den Alexanderplatz Hitler-Jungen an den Malaktionen beteiligten, die ihren Mangel an Geschick durch Phantasie und Gründlichkeit bei der Zerstörung wettmachten. Es gibt Berichte, wonach in dieser Gegend mehrere Läden geplündert und deren Besitzer zusammengeschlagen wurden; man sah etwa ein Dutzend eingeschlagene oder leere Vitrinen und Schaufenster, was diese Berichte glaubwürdig erscheinen lässt.

Eine Besichtigungstour durch die Innenstadt bot am Sonntag einen traurigen Anblick, insbesondere in den von Juden bewohnten Gegenden. Dort waren Polizisten, die durch die leeren und beschmierten Straßen patrouillierten, praktisch die einzigen Personen, die man sehen konnte. Im Westen der Stadt hatten am Montag die meisten Inhaber die Bemalungen ihrer Geschäfte weggewischt, mit Ausnahme der größeren Geschäfte von Rosenhain und Grünfeld, die ihren Konkurrenten bereits seit langem ein Dorn im Auge waren. Dort standen kleine Jungen und bösartig wirkende Herumtreiber weiterhin Posten. Insgesamt scheinen sich in den fünf Jahren der Judenhetze in Berlin die Methoden öffentlicher Demonstrationen hinsichtlich ihrer Originalität erschöpft zu haben. Allerdings sind die jüngsten Maßnahmen insofern von Bedeutung, als sie den ersten Versuch seit 1933 darstellen, jüdische Geschäfte organisiert zu kennzeichnen und Posten vor diesen aufzustellen. Im Übrigen wurde bekannt, dass mindestens vier ausländische Korrespondenten, darunter drei Amerikaner und ein Engländer, festgenommen worden sind, weil sie die beschmierten jüdischen Geschäfte fotographiert hatten. Nachdem sie sich ausgewiesen und wiederholt versichert hatten, dass ihnen keinerlei Gesetz bekannt sei, das Fotos dieser Art verbiete, wurden sie wieder freigelassen. Allerdings heißt es, dass das Auto und die Kamera des englischen Journalisten vorläufig von der Polizei einbehalten worden seien.

Das Deutsche Nachrichten Büro veröffentlichte am Samstag, den 18. Juni, ein Kommunique zu den Verhaftungen der vergangenen Woche. Darin wird festgestellt, dass in Fortsetzung der Ende Mai durchgeführten Razzien, bei denen 317 verdächtige Juden verhaftet worden waren, nun am 16. Juni weitere 143 Juden festgenommen worden seien. Das Deutsche Nachrichten Büro behauptete, dass diese Razzien ausschließlich gegen kriminelle Elemente gerichtet und nicht im Geringsten von politischen Erwägungen motiviert seien. Man räumte allerdings ein, dass einige Juden zu ihrer eigenen Sicherheit in Haft genommen worden seien, um sie vor der wachsenden öffentlichen Empörung zu schützen. Diese sei ausgelöst worden durch einen neuerlichen Zustrom von Juden in die Hauptstadt, wo diese offenbar hofften, der Überwachung zu entgehen. Es hat den Anschein, dass zwar einige der alten und gebrechlichen Verhafteten entlassen worden sind, jedoch die Zahl der weiterhin inhaftierten Juden in etwa die gleiche geblieben ist und sich möglicherweise auf insgesamt mehrere Hundert Personen beläuft. Es heißt, dass diejenigen, die nicht fest in Berlin leben, in ihre Herkunftsgemeinden zurückverfrachtet werden und dass andere womöglich in ein neues Arbeitslager in der Nähe von Weimar geschickt werden.

Am 21. Juni, als der Höhepunkt der Demonstrationen vorerst überschritten war, versuchte der Völkische Beobachter mit den Juden und der ausländischen Presse gleichzeitig kurzen Prozess zu machen, indem er behauptete, die Auslandspresse sei den Juden zu Hilfe geeilt. Unter Hinweis darauf, dass im vergangenen Monat mehr als 3000 Juden nach Berlin zugezogen seien, erklärte die Redaktion des Völkischen Beobachters, die Bevölkerung sei gezwungen, Selbsthilfemaßnahmen zu ergreifen, zumal die Juden dazu übergegangen seien, Frauen auf der Straße zu belästigen. In derselben Ausgabe der Zeitung vergleicht Karl Megerle, der vor allem für seine Beiträge zur internationalen Politik in der Börsenzeitung bekannt ist, die gemäßigten gegenwärtigen antijüdischen Maßnahmen mit den Gewalttaten, die von den alliierten Besatzungstruppen im Rheinland und Ruhrgebiet an den Deutschen verübt worden seien und in der damaligen ausländischen Presse überhaupt keine Erwähnung gefunden hätten.

Zu der bereits langen Liste antijüdischer Repressionen kommt nun noch die am 21. Juni bekannt gegebene Anordnung des Wirtschaftsministers hinzu, die jüdischen Wertpapierhändlern den weiteren Zugang zu deutschen Wertpapier- und Warenbörsen untersagt. Im Interesse der allgemeinen Wirtschaft soll den jüdischen Wertpapierhändlern jedoch einstweilen gestattet werden, sich über entsprechend bevollmächtigte „arische“ Mitarbeiter zu betätigen. Am selben Tag wurde auch bekannt gegeben, dass Postämter künftig das von jüdischen Firmen versandte Werbematerial nicht mehr zu den üblichen günstigen Tarifen zustellen würden, es sei denn, es handele sich bei den Adressaten um jüdische Kunden und Firmen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die gegenwärtige antijüdische Kampagne an Gründlichkeit alles seit Anfang 1933 Geschehene übertrifft und über einen bloßen sommerlichen Überschwang der Partei wie 1935 hinausgeht. Zweifellos wird die gegenwärtige Dynamik durch die neue Macht über die jüdische Bevölkerung Österreichs ausgelöst und von dem Verdacht angeheizt, dass möglicherweise viele österreichische Juden nach Berlin gekommen sein könnten, um dort Zuflucht zu suchen. Außerdem mag das Gefühl eine Rolle spielen, dass die Emigration insgesamt zu langsam vonstatten geht. So wie die Ausschreitungen von 1935 zu den Nürnberger Gesetzen vom September desselben Jahrs führten, geht man davon aus, dass die aktuelle Kampagne weitere gesetzliche Maßnahmen nach sich ziehen wird. In diesem Zusammenhang wird auf die unmissverständliche Ankündigung verwiesen, die Dr. Goebbels in seiner Rede am 21. Juni anlässlich der „Sonnwendfeier“ im Olympiastadion gemacht hat.

Wie das 12 Uhr Blatt berichtete, stellte Dr. Goebbels die Frage: „Ist es nicht geradezu empörend und treibt es einem nicht die Zornesröte ins Gesicht, wenn man bedenkt, daß in den letzten Monaten nicht weniger als 3000 Juden nach Berlin eingewandert sind? Was wollen die hier?“ Dr. Goebbels fuhr dann fort, dass die Auseinandersetzung mit dem internationalen Judentum nach den Gesetzen von Partei und Staat vollzogen würde und nicht auf der Straße. Gesetzliche Maßnahmen würden dafür sorgen, dass in absehbarer Zeit der jüdische Einfluss auf die deutsche Wirtschaft gebrochen werde. Dr. Goebbels „ersuchte“ die jüdische Bevölkerung, nicht weiterhin so provokant in der Öffentlichkeit aufzutreten, während er die [nichtjüdische] Bevölkerung „aufforderte“, Disziplin zu wahren. (In diesem Zusammenhang geben die hiesigen Ausländskorrespondenten an, man habe ihnen mitgeteilt, dass solche „aktiven Maßnahmen“ wie das Bemalen der Schaufenster in der vergangenen Woche von der Partei abgeblasen worden seien.)

Man hält es für möglich, dass die angekündigten Gesetze folgen, sobald die Registrierung jüdischen Eigentums am 30. Juni gemäß der jüngsten Verordnung abgeschlossen ist, und spätestens auf dem bevorstehenden Parteitag im September bekannt gegeben werden. Eine Maßnahme, die sich in Erwartung weiterer allgemeiner und gesetzlicher Schritte als wirksam erwiesen hat, ist folgende verschiedentlich angewandte Praxis: Ein Parteimitglied tritt an den jüdischen Inhaber eines florierenden Geschäfts heran und „rät“ ihm zu verkaufen, und zwar zu einem vom „arischen“ Kaufinteressenten (oftmals das Parteimitglied selbst) willkürlich genannten Preis.

Hochachtungsvoll

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