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Chronik und Quellen
1938
Mai 1938

Artikel über antijüdische Maßnahmen in Deutschland

Am 3. Mai 1938 berichtet der „Nieuwe Rotterdamsche Courant“ über die antijüdischen Maßnahmen in Deutschland und deren Bedeutung für ausländische Juden:

Die jüngsten antijüdischen Maßnahmen - Ihre Bedeutung für jüdische Bürger anderer Staaten

Prof. Dr. J. H. W. Verzijl aus Utrecht teilt uns Folgendes mit:

Ein Volk muss in seinem Nationalismus schon überaus verblendet sein, dass es die Gesetze der Menschlichkeit so sehr Übertritt und massiv gegen eine Minderheit im eigenen Land vorgeht, wie Deutschland augenblicklich gegen die Juden.

Die letzte Äußerung dieses atavistischen Instinkts liegt mir nun in Form der Nr. 63 des Reichsgesetzblatts vom 26. April des Jahres vor, worin - beide am selben Tag und durch Generalfeldmarschall Göring in seiner Eigenschaft als „Beauftragter für den Vierjahresplan“ erlassen - eine „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ und eine „Anordnung“, die sich auf die erstgenannte „Verordnung“ stützt, aufgenommen sind. Beide basieren auf der Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans vom 18. Oktober 1936 und verraten somit, abgesehen von der Unterschrift, auch durch ihre rechtliche Genese das Ziel der neuen Maßnahmen: das Privatvermögen, insbesondere jenes der Juden, der deutschen Wirtschaft zugutekommen zu lassen.

Zwar bedeutet die Verordnung vorläufig für diese Bevölkerungsgruppe lediglich die Verpflichtung zur Meldung und Schätzung ihrer Vermögenswerte, aber der wahre Zweck der Vorschriften ist aus der allgemeinen Vollmacht, die sich Herr Göring mittels § 7 selbst erteilt, aus den bereits gleich in der „Anordnung“ getroffenen Maßnahmen zur Beschränkung der Vermögensrechte der Juden und nicht zuletzt aus den halb offiziellen Kommentaren im „Völkischen Beobachter“, im „Angriff“, der „Schwarzen Front“ und dergleichen deutlich zu erkennen.

Es ist nicht meine Absicht, die neuen gesetzlichen Maßnahmen in ihrer innerdeutschen Wirkung zu betrachten, wenngleich auch darüber einiges zu sagen wäre. Die internationale Gleichgültigkeit gegenüber dieser Misshandlung einer Minderheit, solange sie auf das deutsche Staatsvolk beschränkt bleibt, unterscheidet sich in der Tat stark von der relativen Beherztheit, mit der man seinerzeit intervenierte, um andere misshandelte Minderheiten zu beschützen: in Balkan-Türkei, Syrien, Armenien, Polen. Und das Messen mit zweierlei Maß ist auch in dieser Hinsicht grausam: Es ist noch nicht sehr lange her, dass das Deutsche Reich voller Entrüstung alle verfügbaren internationalen Instanzen - den Völkerbundrat, den Internationalen Gerichtshof, Schiedsgerichte u.a. - gegen andere Staaten anrief, die ihre (deutsche) Minderheit schlecht behandelten, oder damals diesen mit vorgehaltener Waffe ein Friedensdiktat aufzwangen: Ich denke hier insbesondere an Art. 28 des Friedensvertrags von Bukarest mit Rumänien vom 7. Mai 1918, als das siegreiche Deutschland den besiegten Staat verpflichtete, die rumänischen Juden vollkommen gleichberechtigt mit den anderen Bewohnern zu behandeln und allen anderen in jenem Land ansässigen Juden durch ein besonderes Gesetz die volle Staatsangehörigkeit zu gewähren.

Die neuen Maßnahmen bleiben aber - und darauf möchte ich hier besonders aufmerksam machen - keineswegs auf innerdeutsche Gesetze beschränkt. Aus dem Inhalt der offiziellen Schriftstücke geht hervor, dass diese auch „Juden fremder Staatsangehörigkeit“ in ihren Griff einbeziehen, und dies berührt sicher nicht mehr allein das Deutsche Reich.

Die von Herrn Göring erlassene „Anmelde- und Bewertungspflicht“ wird nämlich nicht nur Juden deutscher, sondern auch Juden fremder Nationalität, also beispielsweise auch in Deutschland ansässigen (oder dort Vermögensobjekte besitzenden) jüdischen Niederländern, auferlegt; der einzige Unterschied zu deutschen Juden besteht darin, dass die ausländischen Juden bloß ihr inländisches, also in Deutschland vorhandenes, Vermögen angeben und schätzen lassen müssen. Ansonsten sind sie durch das Gesetz den Juden, die deutsche Staatsbürger sind, gleichgestellt.

Was bedeutet das?

Zuallererst, dass das neue deutsche Gesetz jüdische Niederländer (Amerikaner, Franzosen usw.), die in Deutschland leben oder dort Besitztümer haben, verpflichtet, ihr dort vorhandenes Vermögen bei den Behörden anzugeben, mit dem in der „Verordnung“ (§ 7) verkündeten Ziel, dass sie künftig den „Maßnahmen, die notwendig sind, um den Einsatz des meldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Wirtschaft sicherzustellen“, unterworfen werden sollen.

Ferner, dass - gemäß der „Anordnung“ - die jüdischen Niederländer usw. nicht mehr frei über ihr Eigentum verfügen dürfen und keine Firmen mehr frei gründen können. Jedenfalls werden sie sowohl für die Veräußerung oder Verpachtung von Handels- und Industrie-, Land- und Forstwirtschaftsbetrieben und die Gewährung von Nutzungsrechten darauf als auch für die Eröffnung von neuen Geschäften und die Gründung von Filialen in Zukunft eine Genehmigung benötigen.

Ferner sollen diese Niederländer und andere Ausländer bei vorsätzlichem oder schuldhaftem Versäumen der rechtzeitigen Meldung oder auch wegen der besprochenen Verkäufe, Verpachtungen und Ähnlichem, mit Gefängnis oder Geldstrafe und in schweren Fällen sogar mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden; zusätzlich soll das nicht angegebene Vermögen konfisziert werden.

Schließlich wird die Folge sein, dass zwischen Niederländern und anderen Ausländern in Deutschland oder mit Vermögen in Deutschland nach der deutschen Gesetzgebung unterschieden werden wird, je nachdem, ob sie nach der deutschen Rassenlehre Juden oder Nichtjuden sind, wie dies gesetzlich sanktioniert ist. Denn der Begriff,,Jude“ wird festgelegt, und demnach werden auch niederländische Bürger fortan nach § 5 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichsbürgergesetzes vom 14. November 1935 beurteilt. Wie sollte Deutschland dies auch in Bezug auf Untertanen aus Ländern regeln, die keinen gesetzlichen Rassenunterschied kennen? Als Jude werden somit nach diesem neuen „Recht“ die Niederländer in - oder mit Vermögen in - Deutschland gelten, die von drei oder vier, oder unter bestimmten Umständen (Mitgliedschaft in einer jüdischen Religionsgemeinschaft, Ehe mit einem Juden und dergleichen) sogar nur von zwei jüdischen Großeltern abstammen. Unter die Verordnung fallen darüber hinaus die nichtjüdischen Gatten von Juden.

Merkwürdig widersprüchlich ist eine der Erläuterungen im Völkischen Beobachter: Obgleich die Juden aus der eigentlichen Volksgemeinschaft des Deutschen Reichs als minderwertig ausgestoßen werden, soll aber ihr Vermögen „Bestandteil des deutschen nationalen Vermögens“ bleiben. Die neuen Maßnahmen sind vor allem zum Nachteil des jüdischen Kapitals in Österreich gedacht. Es geht den Kommentatoren zufolge um „eine endgültige Erledigung der wirtschaftlichen Macht des Judentums“, um die ökonomische Auszehrung, auf dass die Juden nicht länger bleiben können.

Das korrekte Ausland, für das es sich ja nicht gehört, sich in die „inneren Angelegenheiten“ anderer Staaten einzumischen - ebenso wenig wie Deutschland selbst dies jemals tut! -, wird gegenüber dem neuerlichen Angriff auf die Juden wohl wieder völlig taub bleiben, soweit dieser deutsche Juden betrifft.

Aber sollen wir es auch noch hinnehmen, dass dritte Staaten ihre eigenen jüdischen Bürger, die in Deutschland Vermögen besitzen, von einem Staat, der den Rassenhass als Kulturideal predigt, als minderwertige Niederländer, Engländer, Amerikaner usw. behandeln lassen? Wird das Völkerrecht auch diesen Hohn noch erleiden?

Jedenfalls geht es hier um eine vorsätzliche staatliche Diskriminierung von Bürgern eines fremden Staats, die gemäß der eigenen nationalen Gesetzgebung gleichberechtigte und genauso vollwertige niederländische (britische, amerikanische usw.) Bürger sind; eine Diskriminierung nach einem Kriterium, welches die eigene Gesetzgebung grundsätzlich verwirft. Niederländische Juden sind Niederländer, den anderen gleich, und kein fremder Staat hat völkerrechtlich auch nur das geringste Anrecht, zwischen ihnen nach eigenem Gutdünken einen gesetzlichen Unterschied zu machen, der die Rechte und Belange der ersteren unrechtmäßig antastet. Wie man auch meint, sich intern an den Juden vergehen zu müssen, international haben jüdische Ausländer in Deutschland absolut dieselben Rechte wie ihre nichtjüdischen Landsleute. Und sie haben nach nationalem Recht den absolut gleichen Anspruch auf diplomatischen Schutz ihrer eigenen Regierung, ebenso wie das Völkerrecht ihrer Regierung die Befugnis zuspricht, sie gänzlich gleichberechtigt zu beschützen. Wenn das Ausland dies nicht täte, würde es sich selbst an diesem anstößigen Vorgang mitschuldig machen.

Und was schon nach allgemeinem Völkerrecht außer Zweifel steht, gilt sicher auch für internationale Verhältnisse, die durch Handels- und Niederlassungsverträge bestimmt werden. Haben Niederländer oder Bürger anderer Drittstaaten das Recht auf Niederlassung, Veräußerung ihres Eigentums, Gewerbeausübung usw. mittels Staatsvertrag zugebilligt bekommen, so gilt dieses Recht uneingeschränkt auch für jüdische Niederländer und andere jüdische Ausländer weiter, gleichgültig was Deutschland intern gegen seine eigenen jüdischen Bürger meint unternehmen zu müssen. Und wenn es denn schon keine unabhängigen Richter mehr in Berlin gibt, so gibt es sie in Den Haag zum Glück durchaus noch, und sogar mit größerer Autorität als jene, an die einst der Müller von Sanssouci appelliert hat.

Auch in diesem Fall könnte es sich erweisen, dass das Völkerrecht zu einer Karikatur wird, wenn man dessen gesunde Prinzipien nicht entschlossen aufrechterhält. Handelsverträge enthalten oft die Bestimmung, dass die Vertragspartner völlige Freiheit der Niederlassung, des Handels und des Gewerbes im anderen Land genießen sollen, gleichberechtigt mit den eigenen Staatsbürgern. Derartige Bestimmungen resultieren sämtlich aus der stillschweigenden Annahme, dass die eigenen Untertanen vor dem Gesetz alle gleich sind. Beim Zustandekommen solcher Vertragsbestimmungen geht nie eine der beiden Parteien von eventuellen Diskriminierungen eigener Untertanen aus.

Wenn dann später auch der Rechtsstaatsgedanke in dem Sinne verzerrt wird, dass bestimmte Gruppen entrechtet oder in einen Rechtszustand der Minderwertigkeit versetzt werden, kann dies niemals zur Rechtsfolge führen, dass fortan automatisch auch die Untertanen der Gegenpartei durch dieselbe Diskriminierung getroffen werden. Gegenüber Ausländern gilt ohne Unterschied die Forderung nach gleichberechtigter Behandlung mit den normalen Staatsbürgern.

Es geht mit dem Recht allerdings schnell bergab!

Aber da sich Deutschland nun auf diesem Weg durch widerrechtliches Einbeziehen auch fremder Völker in seinen Rassenwahn erneut am Völkerrecht vergreift, darf meines Erachtens ein Protest nicht unterbleiben.

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