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Chronik und Quellen
1942
Mai 1942

Deportation aus Hauau

Im Jahr 1944 berichtet Robert Eisenstädt (damals allerdings anonym) über seine Deportation von Hanau über Kassel nach Lublin im Mai/Juni 1942:

Mittwoch, den 27. Mai [1942], überraschte uns die Nachricht, daß wir am 30. Mai abtransportiert würden. Alle jüdischen Arbeiter, es waren vier Männer und drei Frauen außer mir, verließen sofort den Betrieb. [...] Wir, meine Frau [zu diesem Zeitpunkt noch seine Verlobte] und ich, gingen zu den Leuten, bei denen ich mich verstecken sollte. Hier mußte ich eine schwere Enttäuschung erleben. Die Leute hatten von dem Entschluß, mich versteckt zu halten, Abstand genommen und ließen sich nicht mehr beeinflussen. Ich hatte die Kraft nicht mehr, mich weiterhin gegen das Schicksal aufzubäumen und entschloß mich kurz, mit der Mutter und den jüngeren Geschwistern nach Polen zu gehen. Die Leute versprachen mir noch, meine Kleider und mein Fahrrad aufzubewahren. [...]

Ich erklärte meinen [älteren] Geschwistern, daß sie ganz unabhängig von mir ihre Pläne weiter durchführen sollten. [...] Der Standpunkt meiner Geschwister war, daß, wenn ich auch ginge, sie mitgehen würden. Mein Bruder Willi - wir waren alle äußerst erregt - behielt sich seinen Entschluß vor. Er fuhr mit seiner Braut nach Frankfurt. Unserer Mutter hatten wir schon vor einiger Zeit erzählt, daß wir flüchten wollten, bevor wir abtransportiert würden. Jetzt sagten wir, daß dieser Plan nicht durchführbar sei. Diese Nachricht ergriff sie sehr. Sie weinte, aber mehr aus Freude, daß ihre großen Kinder weiterhin mit ihr sein wollten. Martha hatte schwere innere Konflikte, da sie doch Hans [ihr nicht-jüdischer Partner und Vater ihres vierjährigen Sohnes Heinz, der zu diesem Zeitpunkt als Soldat an der Front kämpfte] versprochen hatte, da zu bleiben. Sie wollte sich im Laufe des Abends vergiften, wovon ich sie mit Mühe zurückhalten konnte. Nachts ging sie - zum letzten Male - zu ihren Schwiegereltern und kam, in Tränen aufgelöst, nach Hause. Sie brachte das Notwendigste mit, und es wurde die ganze Nacht gepackt. [...] Gegen Morgen legten wir uns noch etwas zur Ruhe. Als es Tag wurde, kam mein Bruder, zum Mitgehen bereit. Meine Frau [seine Verlobte war, da sie Ausländerin war, von der Deportation ausgenommen] verabschiedete sich. Über diese Szene will ich nicht viel schreiben, da mir heute noch das Weinen nahe ist, wenn ich daran denke. Nur Wiedersehen, das war unser letzter Wunsch. Um ca. 11 Uhr kamen Leute von der Gestapo und Polizei. [...] Jeder durfte einen Rucksack oder Koffer sowie Handgepäck mit Decke und für 3 Tage Proviant mitnehmen. [...] Die Wohnungen bzw. Zimmer wurden abgeschlossen und versiegelt. Zur Bahn wurden wir von der Polizei und weinenden Juden, die zurückbleiben mußten, begleitet. Unweit unseres Hauses stand die Schwiegermutter Marthas mit ihrem zweiten Sohn, der von der Ostfront auf Urlaub war. Sie weinte und mußte oft den Blick von uns abwenden. Auch andere nahmen trüben Blickes Abschied von uns, doch waren viele, die durch spöttische Bemerkungen ihrer Freude Ausdruck gaben. [...] An dem Hauptbahnhof angekommen, gesellten sich weitere Transportteilnehmer aus der Umgebung zu uns. [...] An einen Personenzug angehängt, fuhren wir bis nach Kassel [...]. Nachdem wir mit dem Gepäck fertig waren, wurden [...] wir zum Sammelplatz - eine Schule - gebracht. [...] Nachts mußten wir auf dem Fußboden der Turnhalle schlafen. [...]

In den Vormittagsstunden mußte sich jeder einzeln zur Gepäck- und Körpervisitation begeben, wo Kleider und Gepäck einer gründlichen Untersuchung unterzogen wurden. Wenn jemand mehr als zehn Mark bei sich hatte, wurde er geschlagen. Nach der Untersuchung mußten wir uns wieder in die Turnhalle begeben. Unser kleiner Heinz hatte seit morgens Schmerzen in der Blinddarmgegend. Auch unsere Mutter fühlte sich nicht wohl. Ich ging mit beiden zum Arzt und wurde einem SS-Kommissar vorgeführt. Ich stellte ihm die Sachlage dar und bat ihn, er möge die Mutter und das Bübchen nach Hause zurückschicken. Dies fand der SS-Kommissar so fatal, daß er in lautes Lachen ausbrach. Während des Tages legten wir die Mutter und das Kind auf eine Matratze [. ]. Wir durften keine Post mehr absenden. Trotzdem ließ ich von Helfern der jüdischen Gemeinde Post herausschmuggeln. Ich schrieb an meine Frau, meine Geschwister, an ihre Angehörigen. [...]

Am nächsten Morgen, Montag, den 1. Juni 1942, mußten wir uns zum Abmarsch bereitmachen. [...] Jede Person bekam einen Platz zugewiesen. Es waren durchgehende Wagen mit je zwei Abteilungen; unsere Familie war in einem Abteil mit anderen fremden Leuten zusammen. In jedem Wagen waren vierundsechzig Personen [...]. In jedes Abteil wurde eine Korbflasche mit ca. 30 Liter Wasser gestellt. Die SS-Polizei besetzte das erste und letzte Abteil. Die Türen wurden verplombt, und um 1 Uhr mittags fuhren wir los. Die Fahrt ging über Halle, Dresden; in der Nacht passierten wir Chemnitz. Den Kindern - es waren acht unter zehn Jahren in unserm Abteil - ließen wir je eine Bank, damit sich wenigstens die Kinder ausruhen konnten. Am Dienstagmittag waren wir an der deutsch-polnischen Grenze angelangt; die letzte deutsche Station war Lissa. Hier sollte nochmals Wasser gefaßt werden. Der Aufenthalt war jedoch so kurz, daß die meisten Flaschen leer blieben. [...] Um wichtige Transport- und Militärzüge vorbei zu lassen, hatten wir an den Ausweichstellen lange Aufenthalte. Es war sehr heiß. Die Fenster durften nicht mehr geöffnet werden. Wenn der Zug hielt, patrouillierten an beiden Seiten SS-Polizisten. Durch dauerndes Stehen und Sitzen hatten wir geschwollene Füße und Beine. Meine Geschwister und ich warfen Briefe aus dem Fenster, die an die zurückgelassenen Lieben gerichtet waren. Wir schrieben: „Noch sind wir nicht am Ziele angelangt und wissen nicht, wie es heißt und wo es ist, aber wir fahren gen Osten der Sonne entgegen.“ [...] Am nächsten Morgen waren wir tief in Polen. [...]

Vorbeifahrende Soldaten sangen Schmählieder auf uns. Eines hieß: Der Jud’ zieht hin und her, er zieht durchs rote Meer, die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh’. Das Wasser war aufgebraucht, so auch die Eßvorräte und der Kaffee. Da die Fenster nicht geöffnet werden durften, war ein erstickender Geruch in den Wagen. [...] Durch die drückende Hitze, den Hunger und Durst und die aussichtslose Lage wurden die Leute völlig mutlos. Martha und Willi machten mir Vorwürfe und gaben mir die Schuld, daß sie mitgegangen waren. [...] Wir waren alle derart übermüdet, daß sich in dieser Nacht jeder ein Plätzchen suchte. Meine zwei Brüder und ich legten uns zwischen zwei Bänken auf den Fußboden. Durch scharfes Bremsen des Zuges wurden wir plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Wir vernahmen, daß die Türen aufgerissen wurden und hörten Rufe: „Alle Männer von 15 bis 50 Jahren heraus.“ Durch die geschwollenen Füße kamen wir kaum in die Stiefel. Die SS kam in die Wagen und half mit Peitschen nach. Wir mußten uns, mit dem Rücken zum Zuge, in Viererreihen aufstellen und zählten 98 Männer. Auf dem Bahnhofgebäude lasen wir: Lublin.

Nach ein paar Minuten setzte sich der Zug mit den Lieben in Bewegung - keiner durfte sich umdrehen. Ein SS-Offizier sagte: „Ihr werdet jetzt in eure neue Heimat geführt.“ Viele SS-Männer mit dem Gewehr unter dem Arm umstellten uns. Plötzlich hieß es: los. Im Marsch-marsch-Tempo rannten wir durch Lublin. Wer nicht recht konnte, bekam mit dem Gewehr Rippenstöße. Zwei Männer brachen unterwegs zusammen und blieben liegen. Nach ca. 20 Minuten waren wir außerhalb der Stadt auf einer Landstraße. In der Mulde sahen wir ein großes Barackenlager.“

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