Deportation aus Hamburg
1992 berichtet Heinz Rosenberg über seine Deportation von Hamburg nach Minsk im November 1941:
„Wir aßen zum letzten Mal Mittag miteinander, aber niemand war hungrig. Schließlich wurde es Zeit, unsere Koffer und Rucksäcke zu packen. Fräulein Fehrs, die Nachbarin über uns, gab uns warme Sachen, feste Schuhe und so viel Lebensmittel, wie sie finden konnte. Sie sagte uns, ihrer Meinung nach würde unser Transport auch in den Osten gehen, und dort sei warme Kleidung notwendig. Wir packten dementsprechend, so gut wir konnten. Zuletzt schrieben wir noch einige Briefe, die Tante Meta zur Post geben sollte. In der Nacht konnte keiner schlafen. Mutter war besonders verzweifelt darüber, all ihre Möbel, Bilder, ihr Porzellan und viele schöne Erinnerungsstücke zurücklassen zu müssen.
Am nächsten Morgen, am 8. November 1941, brachte mein Vater unseren Hausschlüssel zur Polizeistation, und als er zurückkam, erzählte er uns, daß schon Hunderte von Juden vor ihm dort gewesen seien. Das wenigstens war ein klein bißchen Hoffnung: Wir würden nicht allein sein. Wir verließen die Hansastraße 40 um zehn Uhr, warfen noch einen Blick auf das, was wir nie wiedersehen würden. [...] Die jüdische Gemeinde Hamburg hatte die leeren Säle [im Sammellager in der Moorweidenstraße 36] mit Betten und Stroh versehen, um uns die letzte Nacht so erträglich wie möglich zu machen. Heiße Bohnensuppe, Tee und Brote wurden verteilt. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dr. Plaut, sagte uns, daß der Transport dazu bestimmt sei, die Städte im Osten wieder aufzubauen, daß unsere Koffer in besonderen Eisenbahnwaggons mitkommen würden und daß außerdem drei Güterwagen mit Nahrungsmitteln, Bettzeug, Medikamenten und Werkzeug für unsere Arbeit bereitstünden. Er sagte auch, daß ein weiterer Transport mit alten Leuten, Frauen und Kindern in zwei Wochen folgen würde. Nach dem letzten Zählappell wußten wir: 971 jüdische Männer, Frauen und Kinder waren hier zusammengetrieben, um im Osten „angesiedelt“ zu werden. Die Stimmung war seltsam: Es gab Verzweiflung und Hoffnung, Weinen und Lachen, Beten und Fluchen. Daß meine Familie, daß [meine Verlobte] Erika und ich zusammen waren, war von nun an unsere größte Stärke und Hoffnung.
Um fünf Uhr am nächsten Morgen - es war der 9. November 1941 - kamen große geschlossene Polizeiwagen, man lud uns unter Polizeibewachung ein und fuhr uns zum Güterbahnhof. Dort stand ein Zug mit 20 Personen- und fünf Güterwagen. Die Personenwagen waren alt, aber sie hatten Fenster und Türen, die allerdings von innen nicht zu öffnen waren. Je 50 Personen kamen in einen Waggon, jeder Platz mußte besetzt werden. Die Prozedur dauerte viele Stunden. [...]
Die Waggons waren nicht geheizt, die Abteile mit Menschen und Gepäck überfüllt. Familien und Freunde waren zum Teil getrennt worden. Dadurch wurde die Unruhe und Nervosität der Menschen so groß, daß bei den geringsten Kleinigkeiten Streit entstand. Vater, Mutter, meine Schwester und ich saßen auf der einen Seite unseres Abteils, uns gegenüber die Kaftals mit ihren Kindern Gabi und Hermann. Gabi war die einzige Krankenschwester in dem ganzen Transport. Ich konnte ihr bei ihrer Tätigkeit helfen. Jedesmal, wenn der Zug hielt - etwa alle acht Stunden -, durften Gabi und ich den Waggon verlassen, um zu einem anderen Wagen zu gehen und Kranken und sehr alten Leuten zu helfen. Bei jedem Halt umstellten zunächst die SS-Wachen den ganzen Zug mit gezogenen Pistolen.
Erika und ihre Pflegeeltern waren im Wagen Nr. 8. Ich konnte sie dort sehen und sprechen, sie aber nicht in unseren Wagen herüberholen. Immerhin wußten wir, daß wir im gleichen Zug waren. Der Zug fuhr durch Berlin, durch Polen an die russische Grenze und von dort nach Minsk, wo wir am Abend des 11. November ankamen. Wir waren drei lange Tage und Nächte unterwegs gewesen. Da es spät am Abend war, beschloß die SS, den Zug nicht vor dem Morgen auszuladen. So mußten wir noch eine Nacht in dem kalten Zug verbringen. Wasser und Lebensmittel waren inzwischen knapp geworden. [...]
Um fünf Uhr früh konnten wir endlich aussteigen. Ein SS-Offizier gab die Befehle. Jeder mußte sein Handgepäck nehmen und sich am Waggon aufstellen. Wir wurden abgezählt und mußten warten. Plötzlich rief der SS-Offizier nach dem jüdischen Transportleiter. Dr. Frank ging sofort zu ihm, nahm Haltung an und sagte: „Ich melde 971 Männer, Frauen und Kinder aus Hamburg.“ Der Offizier sah ihn an und sagte: „Du dreckiger Jude, wenn du mit einem Offizier sprichst oder mit irgendeinem anderen Deutschen, nimm den Hut ab und warte, bis du angesprochen wirst!“ Bei diesen Worten nahm er seine Lederpeitsche und schlug Dr. Frank mit solcher Wucht mitten ins Gesicht, daß dieser auf den Boden fiel und man ihm helfen mußte aufzustehen. [...]
Als erste wurden Dr. Frank und die zwanzig Waggonführer, zu denen ich gehörte, in das Getto gebracht. [...] Es war rundrum mit Stacheldraht eingezäunt und hatte nur einen einzigen Ausgang. In der Mitte lag ein aus roten Ziegeln gebautes, unfertiges Schulhaus und gegenüber ein weißes Gebäude, das möglicherweise auch eine Schule war. Wir erhielten den Befehl, das rote Gebäude sofort auszuräumen. Als wir das Haus betraten, erwartete uns ein [...] entsetzlicher Eindruck von Minsk: Hunderte von Leichen bedeckten den Boden ... Überall war Blut, und auf den Öfen und Tischen stand noch das Essen. Alle Räume waren in einem vollständigen Durcheinander. [...] Endlich standen alle auf dem großen Hof vor dem Schulgebäude, erschöpft, nervös, frierend und hungrig. [...] Die Toten wurden auf einen Platz in den Hof getragen, das Inventar wurde einfach aus den Fenstern geworfen und später auf dem Hof verbrannt. Da alle Sachen verschmutzt und verlaust waren, dachten wir, sie wären unbrauchbar. Später haben wir diesen Fehler noch oft bereut, denn die verbrannten Sachen waren gebrauchsfähige Gegenstände, die man nur hätte reinigen müssen. [...] Um fünf Uhr fing es an zu dunkeln, jedoch gab es im Haus weder Licht noch Wasser, weder Fenster noch Feuer, weder Stühle noch Betten und auch keine Tische. Aber nach allem bis jetzt Erlebten waren wir schon froh, daß wir ein Dach über dem Kopf hatten und erst mal auf dem Fußboden sitzen konnten. So verteilte sich nach und nach der Transport auf ungefähr dreißig Säle, die die Größe von normalen Klassenzimmern hatten. [...]
Die wenigsten hatten in der ersten Nacht schlafen können, und alle waren früh am Morgen wach. [...] Um neun Uhr erschien SS-Sturm-führer Müller und gab neue Befehle aus. [...] Anschließend wurde die Lagerleitung in den russischen Teil des Gettos geführt. [...] Die SS [hatte] am 9. November 1941 eine sogenannte Großaktion durchgeführt, der viele tausend Juden zum Opfer gefallen waren. Die Leichen lagen noch da [...]. Müller sagte uns, daß wir diesen Teil des Gettos ebenfalls zu säubern hätten, um hier Platz zu machen für neue Transporte.“