Dezember 1939
Auch der Dezember brachte Maßnahmen, die nicht auf allgemeine Zustimmung trafen. Das zeigte sich am 8. des Monats - dem katholischen Feiertag „Maria Empfängnis“ -, an dem laut offizieller Anordnung in kriegswichtigen Betrieben gearbeitet werden musste. Das soll in mehreren katholischen Gebieten des Deutschen Reiches zu Arbeitsniederlegungen geführt haben.
Das NS-Regime versuchte daher immer wieder, die Bevölkerung durch drakonische Strafen von kritischen Äußerungen oder gar resistentem Auftreten abzuhalten. Das Sondergericht Düsseldorf etwa verurteilte am 15. Dezember einen Leverkusener wegen fortgesetzten Abhörens feindlicher Sender zu einem Jahr Zuchthaus. Die Presse kommentierte diesen und vergleichbare Fälle im Reichsgebiet: „Die von den Sondergerichten verhängten Zuchthausstrafen stellen eine eindringliche Warnung an die Unbelehrbaren dar, die immer noch glauben, den propagandistischen Einflüsterungen des feindlichen Auslandes aus Neugierde oder Verständnislosigkeit ihr williges Ohr leihen zu müssen.“
Durch solch systematische Abschottungsversuche blieben dem weitaus größten Teil der deutschen Bevölkerung die ersten Kriegsgräuel (noch) verborgen, etwa die Tatsache, dass seit Kriegsbeginn allein in Westpreußen über 7.200 Polen von SS-Angehörigen und deutschen Polizisten erschossen worden waren – unter ihnen vor allem Lehrer, Beamte, Geistliche und Freiberufler. Auch die Warnung im „Neuen Vorwärts“, dem Organ der Exil-SPD, dürfte im Reichsgebiet kaum wahrgenommen worden sein: „Das deutsche Volk wird am Ende des Krieges vor einer furchtbaren Bilanz stehen.“ Stattdessen wurden andere kriegsbedingte Möglichkeiten propagandistisch in den Vordergrund gerückt wie die am 8. Dezember beginnende Übersiedlung von rund 120.000 „Volksdeutschen“ aus Wolynien und Galizien ins Reichsgebiet, von denen die ersten am 20. des Monats an der Reichsgrenze eintrafen. Die Umsiedlungsaktion sollte bis zum 1. März 1940 abgeschlossen sein.
Auch Weihnachten – die erste „Kriegsweihnacht“ seit 22 Jahren - gestaltete sich im Reichsgebiet anders als in den Jahren zuvor. Als am 10. Dezember sämtliche Geschäfte von 13 bis 17 Uhr offiziell geöffnet hatten – eine Aktion, die sich an einem weiteren vorweihnachtlichen Sonntag noch einmal wiederholte – blieben viele Läden wegen Warenmangels und -rationierung jedoch geschlossen. Die Weihnachtstische waren daher zumeist nicht eben üppig gedeckt, und bei den Geschenken – insbesondere bei Textilien – war Ideenreichtum und Improvisation gefragt. Die allgemeine Warenknappheit führte zudem in vielen Fällen zu Angstkäufen und einer damit verknüpften Flucht in Sachwerte, wobei vor allem Einrichtungsgegenstände besonders gefragt waren. An Heiligabend sprach Rudolf Heß von Bord eines Zerstörers über alle deutschen Sender und rief zur Bildung einer „unüberwindlichen Kampfgemeinschaft“ auf. Hitler verbrachte die Feiertage am Westwall – und wurde von der Propaganda als „der Erste Soldat des Reiches“ gefeiert, weil er „mit seinen Soldaten, ein Kamerad unter Kameraden“ dort angeblich Weihnachten feierte.
Ruhiger als in den Jahren zuvor verlief, nachdem Reichsführer-SS Heinrich Himmler ausdrücklich zu Feiern in „würdiger Form“ aufgefordert hatte, auch die Silvesternacht. So war insbesondere das Abbrennen von Feuerwerk zu unterlassen; gegen Betrunkene sollte polizeilich eingeschritten werden. Die Bevölkerung erhoffte für 1940 den vielfach beschworenen „sieghaften Frieden“. Hitler selbst äußerte in einem Aufruf an die NSDAP-Mitglieder: „Wir kämpfen für den Aufbau eines neuen Europas. Möge das Jahr 1940 die Entscheidung bringen. Sie wird, was immer auch kommen mag, unser Sieg sein.“ Und an die Soldaten gerichtet teilte er mit: „Das Jahr 1939 war für die großdeutsche Wehrmacht ein Jahr stolzer Bewährung.“ Nun aber liege „der schwerste Kampf um das Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes“ vor den Truppen. „Mit stolzer Zuversicht blicken ich und die ganze Nation auf Euch. Denn: Mit solchen Soldaten muss Deutschland siegen.“
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Wohl nicht zuletzt, um die Ruhe an der „Heimatfront“ zu gewährleisten, erging am 1. Dezember ein „nicht zur Veröffentlichung in der Presse“ bestimmter Erlass des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, in dem festgelegt wurde, dass im Zeitraum vom 18. Dezember bis zum 14. Januar 1940 an die jüdische Bevölkerung keine Lebensmittel-Sonderrationen auszugeben waren. Außerdem sollten ihr weniger Fleisch und Butter sowie kein Kakao und Reis zugeteilt werden.
Ansonsten konzentrieren sich die die Zukunft der jüdischen Bevölkerung betreffenden Planungen und Aktivitäten des NS-Regimes auch im Dezember auf die neu eroberten polnischen Gebiete. So entwarf der für Lodz zuständige Regierungspräsident am 10. Dezember einen ersten Plan zur „Zusammenfassung sämtlicher Juden in einem geschlossenen Ghetto“. Wenn er eine „sofortige Evakuierung“ auch als unmöglich erachtete, ließ er am endgültigen Ziel keinerlei Zweifel: „Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme. Zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Mitteln das Ghetto und damit die Stadt Lodz von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muß jedenfalls sein, daß wir diese Pestbeule restlos ausbrennen.“
Derweil legten die Umsiedlungsbehörden in Posen am 13. Dezember den Beginn für den „2. Nahplan“ auf den 21. Dezember fest. Bis Februar 1940 sollten - nach Abschluss der im „1. Nahplans“ vorgesehenen Deportation von 80.000 Menschen - 220.000 weitere Polen und Juden ausgesiedelt werden. Um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Massenverschiebungen zu gewährleisten bestellte Heydrich am 19. Dezember Adolf Eichmann zum „Sonderreferenten für die Räumung der Ostprovinzen“ und „für die zentrale Bearbeitung der sicherheitspolizeilichen Angelegenheiten bei der Durchführung der Räumung im Ostraum“.
Bereits zwei Tage später konnte Heydrich am 21. Dezember seinen Mitarbeitern dann den von Eichmann veränderten „2. Nahplan“ vorstellen. Anders als noch in der Fassung vom 13. Dezember sollen statt 220.000 Polen und Juden nun 600.000 ausschließlich Juden „abgeschoben“ und ihre Vermögen vollständig beschlagnahmt werden. Die „Räumungsaktion“ sollte laut Heydrich „die neuen deutschen Ostgaue gleichsam durchkämmen“. Die Vertreibungen sollten Mitte Januar 1940 beginnen und bereits im April abgeschlossen sein. Dafür hatte das Reichsverkehrsministerium Züge „zum Abtransport von täglich etwa 5.000 Juden aus den Ostgauen zur Verfügung“ zu stellen.
Die Deportierten sollten nun nicht mehr - wie noch zwei Tage zuvor beabsichtigt - in ein „Judenreservat Lublin“ verschleppt, sondern auf alle Distrikte des Generalgouvernements verteilt werden, wo die Männer zwischen 18 und 60 Jahren möglichst in Arbeitskommandos zusammengefasst werden sollten. Den weiteren Ablauf skizzierte Heydrich so: Da die „Säuberung des deutschen Ostens“ nach einem „in allen Einzelheiten klar durchdachten Plan durchgeführt“ werde, sei in der „Räumungsangelegenheit ein Fernplan erstellt“, der „von Fall zu Fall in mehrere Nahpläne aufgeteilt“ werde.