Erlass des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft an die Landesregierungen, Preußischen Oberpräsidenten
Das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft entzieht Juden am 18. September 1942 die Fleisch-, Milch-, Raucher- und Weißbrotkarten:
Betrifft: Lebensmittelversorgung der Juden.
Es hat sich als notwendig herausgestellt, die Lebensmittelversorgung der Juden neu zu regeln. Unter Aufhebung aller bisherigen einschlägigen Bestimmungen wird folgendes angeordnet:
1. Judenbegriff
Für die Zwecke der ernährungspolitischen Verbrauchsregelung gilt der § 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 (RGBl. I, S. 1333)5 mit folgender Maßgabe:
Die nachbenannten Personen, die in sogenannten privilegierten Mischehen leben, werden von der Sonderregelung ausgenommen:
a) Der in einer Mischehe lebende jüdische Ehegatte, sofern Abkömmlinge aus der Ehe vorhanden sind und diese nicht als Juden gelten (§ 5 Abs. 2 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14-11-1935 - RGBl. I, S. 1333 -). Dies gilt auch für den Fall, daß die Ehe nicht mehr besteht. In diesem Falle oder bei Getrenntleben der Eheleute gilt die Ausnahmeregelung zugunsten des jüdischen Teils aber nur so lange, wie die nicht als Juden geltenden Abkömmlinge zu seinem Haushalt gehören oder die Kosten ihres Lebensunterhalts ganz oder überwiegend von ihm bestritten werden. Die Ausnahmeregelung gilt jedoch immer zugunsten des jüdischen Elternteils, wenn der Nachweis geführt wird, daß ein Abkömmling trotz seiner Mischlingseigenschaft deutscher Wehrmachtsangehöriger ist. Sind die Abkömmlinge verstorben, so ist die Ehe als kinderlos zu betrachten; der in einer Mischehe lebende jüdische Ehegatte bleibt jedoch von den Sonder-malinahmen ausgenommen, wenn der einzige Sohn, der nicht als Jude galt, als deutscher Wehrmachtsangehöriger im Kriege gefallen ist;
b) bei kinderloser Ehe die jüdische Ehefrau, sofern der Ehemann deutschblütig oder Mischling zweiten Grades ist, d. h. von nicht mehr als einem jüdischen Großelternteil abstammt. Nach dem Tode des Ehemannes, nach der Auflösung der Ehe und bei Getrenntleben fällt die Frau wieder unter die Sondervorschriften für Juden.
Die Bestimmungen dieses Erlasses finden auf alle Juden ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit Anwendung. Als Juden gelten auch Personen, die, ohne der Rasse nach Juden zu sein, der jüdischen Religionsgemeinschaft angehören.
2. Rationssätze
Juden erhalten von der 42. Zuteilungsperiode (19. Oktober 1942) ab folgende Lebensmittel nicht mehr: Fleisch, Fleischwaren, Eier, Weizenerzeugnisse (Kuchen, Weißbrot, Weizenkleingebäck, Weizenmehl usw.), Vollmilch, entrahmte Frischmilch, desgleichen solche Lebensmittel, die nicht auf reichseinheitlich eingeführte Lebensmittelkarten, sondern auf örtliche Bezugsausweise oder durch Sonderaufrufe der Ernährungsämter auf freie Abschnitte der Lebensmittelkarten abgegeben werden. Jüdische Kinder und Jugendliche über 10 Jahre erhalten die Brotration der Normalverbraucher. Jüdische Kinder und Jugendliche über 6 Jahre bekommen die Fettration der Normalverbraucher, keinen Kunsthonig, kein Kakaopulver und ebenfalls nicht die den Altersstufen von 6-14 Jahren zustehende Zulage an Marmelade. Jüdische Kinder bis zu 6 Jahren erhalten täglich ½ Liter entrahmte Frischmilch.
Dementsprechend sind an Juden keine Fleisch-, Eier- und Milchkarten sowie keine örtlichen Bezugsausweise auszugeben. Die jüdischen Kinder und Jugendlichen über 10 Jahre erhalten die Brotkarten und die über 6 Jahre die Fettkarten der Normalverbraucher. Die an Juden ausgegebenen Brotkarten berechtigen nur zum Bezug von Roggenmehlerzeugnissen. An jüdische Kinder bis zu 6 Jahren ist der Bezugsausweis für entrahmte Frischmilch auszugeben. Dieser ist mit dem Vermerk „Gültig für täglich ½ Liter“ zu versehen. Wen können keine Selbstversorger im Sinne meiner Erlasse sein.
3. Regelung für Kranke usw.
Die Bestimmungen für Kranke, gebrechliche Personen, werdende und stillende Mütter und Wöchnerinnen gelten nicht für Juden.
Die Regelungen dieses Erlasses gelten auch für jüdische Insassen von Krankenanstalt.
4. Regelung für besondere Arbeitergruppen
Juden, die als Lang-, Nacht-, Schwer- und Schwerstarbeiter anerkannt sind, erhalten die Zulagekarten für Lang- und Nachtarbeiter. Jüdischen Arbeitern, die in besonderem Maß der Einwirkung von Giften ausgesetzt sind (vgl. Erlaß vom 27. September 1939 - II/1 4616 -), haben die Ernährungsämter im Rahmen der durch den vorbezeichneten Erlaß festgelegten Richtlinien täglich ½ Liter entrahmte Frischmilch zuzuteilen.
5. Sonderzuteilungen
Juden sind von Lebensmittelsonderzuteilungen ausgeschlossen.
6. Umtausch von Lebensmittelkarten in Reise- und Gaststättenmarken
Der Umtausch der Lebensmittelkarten in Reise- und Gaststättenmarken darf bei Juden nur in besonders gelagerten dringenden Ausnahmefällen erfolgen.
7. Kartenfreie Lebensmittel
Bei dem Bezug von Lebensmitteln, die nicht auf Lebensmittelkarten abgegeben werden unterliegen die Juden so lange grundsätzlich keinen Beschränkungen, wie diese Erzeugnisse der arischen Bevölkerung ausreichend zur Verfügung stehen. Kartenfreie Lebensmittel, die nur zeitweise und in beschränktem Umfange verteilt werden, wie z. B. Gemüse- und Heringssalat, Fischpasten usw. dürfen an Juden nicht abgegeben werden. Die Ernährungsämter werden ermächtigt, die Juden zum Bezuge von Kohlrüben, einfachen Kohlarten usw. zuzulassen.
8. Kennzeichnung der Lebensmittelkarten
Die an Juden auszugebenden Lebensmittelkarten sind in schräger Anordnung durchgehend (also auch über sämtliche Einzelabschnitte) mit dem sich ständig wiederholenden Überdruck „Jude“ zu versehen. Hierfür ist eine Druckfarbe zu wählen, die sich deutlich von der Untergrundfarbe der Karten abhebt. Die mit dem Aufdruck „Jude“ versehenen Karten und Kartenabschnitte berechtigen nicht zum Bezüge etwaiger Sonderzuteilungen. Eine Entwertung dieser Abschnitte vor der Kartenausgabe ist deshalb nicht erforderlich.
9. Besondere Einkaufszeiten für Juden
Zur Vermeidung von Unzuträglichkeiten bei der Versorgung der arischen Bevölkerung wird den Ernährungsämtern empfohlen, für die jüdische Bevölkerung besondere Einkaufszeiten zu bestimmen.
10. Lebensmittelgeschenksendungen für Juden
Die Ernährungsämter haben Lebensmittelgeschenksendungen aus dem Ausland, die für Juden bestimmt sind, voll auf die Rationen des Empfängers anzurechnen. Wenn es sich um Erzeugnisse handelt, die zwar bezugsbeschränkt sind, aber nicht regelmäßig zugeteilt werden (z. B. Bohnenkaffee, Kakao, Tee usw.), ist über die ganze Sendung oder bei verspäteter Meldung des Posteingangs über den noch nicht verbrauchten Teil zugunsten von Großverbrauchern, wie z. B. Lazaretten, unter Anrechnung auf die diesen zustehenden Bezüge zu verfügen.
Der Herr Reichsminister der Finanzen hat durch den abschriftlich beigefügten Erlaß vom 29. April 1941 die Zollstellen angewiesen, ohne Rücksicht auf die Menge der eingehenden Waren den zuständigen Ernährungsämtern wöchentlich die Geschenksendungen zu melden, bei denen bekannt ist oder die Vermutung besteht, daß der Empfänger Jude ist. Die Anrechnung kann auch dann noch erfolgen, wenn die Meldung der Zollstelle so spät bei den Ernährungsämtern eingeht, daß die in der Geschenksendung enthaltenen Lebensmittel bereits verzehrt worden sind.
Soweit die Staatspolizeileitstellen Kenntnis von Lebensmittelsendungen an Juden aus dem Auslande erhalten, werden sie die Pakete sicherstellen und dem Ernährungsamt zur Verfügung stellen.
11. Ausnahmen
Juden, die nachweislich am Weltkriege oder an innerdeutschen Kämpfen als Zeitfreiwillige usw. teilgenommen und hierbei eine Verwundung erlitten haben, können auf Antrag die Lebensmittelversorgung wie die deutschstämmige Bevölkerung erhalten. Voraussetzung hierfür ist das Einverständnis der zuständigen Dienststelle der Geheimen Staatspolizei, damit die Sonderstellung nicht in solchen Fällen zugebilligt wird, in denen sie, etwa wegen staatsfeindlicher Betätigung usw., dem gesunden Volksempfinden widersprechen würde. Andere Kriegsbeschädigungen als Verwundungen bleiben unberücksichtigt. Für den Fall der Bewilligung gilt diese nur für den verwundeten jüdischen Kriegsteilnehmer selbst, nicht für seine Angehörigen, auch nicht für Witwen gefallener oder an den Folgen einer Verwundung verstorbener Weltkriegsteilnehmer.
Die von den Sonderregelungen für Juden ausgenommenen Personen sind bei der Lebensmittelversorgung der deutschstämmigen Bevölkerung gleichzustellen; sie erhalten also nicht gekennzeichnete Lebensmittelkarten und die etwaigen örtlichen Bezugsausweise.
12. Schlußbestimmungen
Dieser Erlaß tritt mit Wirkung vom 19. Oktober 1942 (Beginn der 42. Zuteilungsperiode) in Kraft. Zugleich treten außer Kraft meine Erlasse vom 11. März 1940 - II C 1-940 -, vom 24. Oktober 1940 - II C 1-4795 ~> vom 6. Dezember 1940 - II C 1-5600 (Dritter Abschnitt), vom 26. Mai 1941 - II C 1-2200 (Dritter Abschnitt), vom 30. Mai 1940 -II D 4-710 -, vom 7. August 1941 - II C 1-3225 - und vom 18. Juni 1942 -HD 4-1260 (Teil II).11
Die Ernährungsämter sind durch Übersendung eines Abdruckes dieses Erlasses zu unterrichten.
Abdrucke sind beigefügt.