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Chronik und Quellen
1942
Mai 1942

Brief von Hermann Samter aus Berlin an Karolina Stadermann und Lisa Godehardt in Breitenholz

Hermann Samter schildert am 11. Mai 1942 die Gerüchte über das Schicksal der Deportierten und die Folgen des Verbots, öffentliche Verkehrsmittel zu benutz:

Liebe Frau Stadermann, liebe Lisa,

vielen Dank für die schönen Sachen, die mich ganz besonders erfreuten, erstens weil ganz unerwartet kam und zweitens weil man nach 2 ½ Jahren Krieg schon wirklich ganz schön ausgehungert ist. Na, und das Obst! Das war was für mein Gemüt, ich meine meinen Magen! Recht herzlichen Dank!

Also wie Sie sehen, sind wir noch hier, trotz Lisas dunklen Ahnungen, wie lange noch ist natürlich eine andere Frage. Seit Ende Januar sind von Berlin 2 Transporte abgegangen, einer Ende März, der andere am Karfreitag. Damit sind aus Berlin 12.000 Leute fortgekommen. Es sind noch übrig: 43.000 Leute mit Stern, 13.000 ohne Stern, im Altreich außerhalb Berlins wohnen etwa noch die gleiche Anzahl. Das Schicksal der einzelnen ist offenbar ganz verschieden: Von Minsk, Kowno, Riga hört man nichts, allgemein wird geglaubt, daß die Behandlung in Riga anständig sein soll. Aus Litzmannstadt kommen nur gedruckte Karten, worin Geldsendung[en] mit eigenhändiger Unterschrift bestätigt werden. Neulich erfuhr eine Frau hier den Tod ihres Vaters nur dadurch, daß die Mutter in Litzmannstadt auf die Quittung vor den Namen ein „Wwe“ gesetzt hatte. Sonstige Post kommt von dort gar nicht mehr. Warschau: Die Leute sind in der ehem. Bibliothek außerhalb des Ghettos untergebracht. Es scheint dort sauber u. geordnet zuzugehen. Weit über 1.000 Leute wohnen in einem Gebäude, je 2 liegen auf einer Holzpritsche. Die Trauringe wurden abgenommen. Die meisten haben ihr Gepäck mitbekommen. Seife u. Seifenpulver fehlte überall. Verpflegung: 125 gr. Brot pro Tag, Kaffee, Gemüsesuppe, kein Fett, kein Fleisch, wer zur Arbeit vermittelt wird, bekommt etwas mehr. Ein Teil der Männer ist in Arbeitslager gekommen, von wo aus er an seine hörigen in Warschau nicht mehr schreiben kann. Geld- u. Päckchensendungen – sind möglich - man darf sich nur nicht dabei erwischen lassen, da Geschenke an Leute, die die Grenze überschritten u. infolgedessen ausgebürgert sind, bei Strafe von bis zu 2 Jahren Gefängnis verboten sind. Piaski bei Lublin: Hier lebten seit 2 Jahren Stettiner, die größten Teil vor Ankunft des letzten Berliner Transports nach Osten – unbekannt wohin - fortgekommen sind. Hier herrscht der größte Schmutz u. fürchterliche Not. Die Leute schrieben noch nach Wochen, daß sie noch nicht aus den Kleidern gekommen wären. Tagesration: 50 gr Brot, ½ Liter Kaffee, ¾ Liter Suppe (ohne Fett). Wer hier also nicht in Arbeit kommt u. dadurch mehr erhält, ist verloren. Kranke u. alte Leute sind dem Hungertod preisgegeben. Auf das Gepäck (außer Rucksack) wurde noch nach vielen Wochen gewartet. Mit dem Hinschicken von Päckchen + Geld ist es ebenso wie nach Warschau. -

Berlin: Seit dem 1. Mai besteht ein Verbot für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Erlaubnis haben nur: 1) Leute, die in Arbeit stehen u. einen Weg von mehr als 7 km haben oder krank sind, 2) Schulkinder, die einen Weg von 5 km haben oder krank sind, ü Ärzte, Krankenschwestern, Konsulenten. Diese Leute dürfen aber nun nicht etwa private Besuche per Bahn machen. Tante Nellys Weg ist erfreulicherweise über 7 km, und ich habe ganz großes Glück: Ich bekam einen Dienstausweis für sämtliche Verkehrsmittel, da ich oft in die Druckerei muß. Natürlich muß ich bei Kontrollen jederzeit nachweisen können, daß es sich um eine dienstliche Fahrt handelt. Also spätabends, Sonnabendnachmittag oder Sonntag ist da nichts zu machen. - Die Folgen sind schlimm: Abgesehen davon, daß nun viele einen Weg von über 1 Stunde von u. zur Arbeit zu gehen haben, hört doch auch der private Verkehr weitgehend auf. Eltern können ihre Kinder oft nicht mehr besuchen, Ausflüge kommen schon gar nicht mehr in Frage, Krankenhausbesuche sind auch für die meisten nicht mehr möglich (bezügl. des Krankenhauses hofft man allerdings, daß die nächsten Angehörigen eines Kranken in absehbarer Zeit eine Fahrgenehmigung erhalten), und wer soll noch zum Friedhof nach Weißensee laufen? Das Betreten des Tiergartens u. sämtl. Parkanlagen wurde verboten, ferner darf man an folgenden Straßen nicht mehr entlanggehen (kreuzen darf man sie): Tauentzien- u. Hardenbergstr. von Zoo - Wittenbergpl., Linden vom Brandenburger Tor bis Kaiser-Wilhelm-Str., Kurfürstendamm u. Budapester Str. von Bleibtreu- bis Kurfürstenstr. Besonders das Verbot des Tiergartens verlängert die Wege oft ganz enorm.

Natürlich führt das nur dazu, daß Leute ohne Stern herumlaufen, was zur Folge hat, daß sie mit dem nächsten Transport fortmüssen, wenn sie geschnappt werden. Andere wieder versuchen, doch noch über die Grenze zu kommen: So kenne ich ein Mädel, die immer sehr vorsichtig war, im Winter nie nach 8 nach Haus kam, nie den Stern verdeckte, der ist es nun auch zuviel geworden, sie schloß sich einer Gruppe von Leuten an, die nach Belgien wollten. Die Sache kam raus: Vor einigen Wochen hat man am Potsdamer Platz die Leute verhaftet, nun heißt es wohl KZ oder Abtransport. - Allgemein wurde auch ein Ausgehverbot für Sonntage erwartet, bisher ist es aber noch nicht ausgesprochen worden. - Körperbehinderte, auch Schwerkriegsbeschädigte, müssen jetzt ihr Selbstfahrer abgeben, auch wenn sie sich nicht allein fortbewegen können. Sie werde dafür ins Hospital aufgenommen, wo sie aber - wegen des Fahrverbots - nur von wenigen besucht werden können. - So, das genügt wohl für heute, und Sie werden begreifen daß man eiserne Nerven haben muß, um das alles heil zu überstehen. –

Neulich bekam ich von Onkel Paul einen Gruß über die Schweiz. Dort scheint noch alles einigermaßen in Ordnung zu sein. Tante Nelly gefällt die Arbeit weiter sehr gut Übrigens hat man ihr, wie allen anderen städtischen Pensionären, die Pension gestrichen. Mit ihrem glücklichen Temperament freute sie sich darüber, weil dadurch die Aussichten einer Evakuierung geringer geworden sind. Da sie einschl. meiner 6 Untermieter hat, kann sie ja mit Hilfe ihres Wochenlohns u. der Miete auskommen. Wollten Sie nicht im Frühling nach Berlin kommen, Lisa? Wie ist es denn damit? Vielleicht kann Roswitha schon mitreisen? Schreiben Sie doch mal wieder einen ausführlichen Brief!

Herzliche Grüße u. nochmals vielen Dank!

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