Bericht von Berthold Rudner von Ende Februar 1942
Berthold Rudner[1] schildert in seinem Tagebuch die Lebensumstände im Getto Minsk und Ende Februar 1942 zudem die gemeinsame Zeit mit Martha Crohn von der Deportation aus Berlin bis zu ihrem Tod im Getto.
Der Text, aus dem im ersten Teil zentrale Stellen zitiert werden, stammen aus den zweiten Teil der transkribierten Tagebuchaufzeichnungen Berthold Rudners, das sich im Archiv des Institutes für Zeitgeschichte befindet. Der erste Teil ist von Berthold Rudner zum Andenken an die ebenfalls aus Berlin stammende Martha Crohn verfasst worden. Der zweite Teil beschreibt das Leben im Minsker Ghetto von November 1941 bis Juni 1942.
Dem Andenken Martha Crohns.
Bericht über ihr letztes Jahresviertel; gest. 26.1.42., 18 Uhr.
Der folgende Tatsachenbericht über Leben und Sterben der verwitweten Frau Martha Crohn aus Berlin umfaßt die Zeit vom 12. November 1941 bis 26. Januar 42. Er soll vor allem später ihre beiden Kindern, Tochter und Sohn, die sich in Palästina befinden, über die letzten 3 Monate ihres Lebens informieren. Die folgenden Ausführungen befleißigen sich einer lakonischen Kürze, sind chronologisch, idealisieren nichts, noch verschweigen sie etwas. Dem Schreiber dieser Zeilen, ihr Lebenskamerad während dieser kurzen Zeit in Minsk, liegt jedes Motiv fern, die Wahrheit irgendwie zu trüben, so trüb auch die einzelnen letzten Stationen im Leben dieser Frau waren.
Gleich mir mußte auch Martha Crohn ihre Berliner Zelte abbrechen und sich am 10. November in der Berliner Synagoge, Levetzowstraße, einfinden. Dort wurden alle Personen und ihr Gepäck visitiert. Die Damen wurden einer peinlichen körperlichen Untersuchung unterworfen. Zwei Tage waren wir in jener Synagoge interniert, eine Zeit, die genügte, um aus einem Kulturmenschen einen Primitiven zu machen, der auf dünnen Papiermatratzen am Boden zu nächtigen hatte, sich kaum reinigen noch seine funktionellen persönlichen Bedürfnisse befriedigen konnte. Es herrschte ein richtiges Zigeunerlager; man lag kreuz und quer; Gepäckstücke dienten als Kissen und Lehnen, mit Bekleidungsstücken und Decken hüllte man sich ein. Der Morgen sah eine übernächtigte, sehr derangierte Masse Mensch. Gegessen wurde aus Blechgefäßen, welche die Gemeinde zur Verfügung stellte. Für das Essen mußten alle Berliner Juden Lebensmittelkarten bereitstellen.
Die meisten Personen wurden von Zivilbeamten der geheimen Staatspolizei abgeholt und zum Polizeirevier gebracht. Großes Gepäck mußte in Sammelstellen geschafft werden. Es erging die Aufforderung, sich warme Kleidung, Ofen, Ofenrohre, Matratzen, Nähmaschinen etc. mitzunehmen, wichtige Gegenstände, die später hier beschlagnahmt wurden! Hunderte Gepäckstücke gingen verloren, so auch meine ganze Wäsche und Kleider, die in 2 guten Koffern gepackt waren.
Alles Eigentum, das nicht mitgenommen werden konnte - über 50 Kgr. sollte das Privatgepäck nicht wiegen -, wurde beschlagnahmt. Wohnungen, auch möblierte Zimmer mit Eigentum der Evakuierten wurden versiegelt, um später für ein Trinkgeld versteigert zu werden. Alles sonstige Eigentum an Geld, Schmucksachen, Dokumenten, teilweise auch Lebensmittel etc. wurde bei der Untersuchung abgenommen, und zwar auf Grund eines Gesetzes, nach welchem den Evakuierten bolschewistische Gesinnung unterstellt wurde weshalb diese Konfiskation erfolgte. Auch alle restlichen Lebensmittelkarten hatte man abzuliefern.
Endlich, am 12. November 41, nachmittags, ging der Abtransport mit Polizeiwagen vor sich. Die Verladung erfolgte von einer abseits gelegenen Rampe des Bahnhofs Grünewald. Ein langer Zug mit uralten Beute-Waggons aus Frankreich, verdreckt, mit fehlenden oder schlecht schließenden Scheiben, wartete unser. Die Verladung nahm Stunden in Anspruch. Alles fror, Kinder weinten, die Großen stöhnten und krochen in sich hinein, wartend, endlich die schützenden Wagen besteigen zu dürfen. Erst gegen Abend, mit einfallender Dämmerung, setzte sich der Zug mit dieser Menschenfracht in Bewegung, um gen Osten zu stampfen. Wir erhielten nur unsere Kennkarten ausgefolgt, die den Stempelvermerk aufwiesen: „Evakuiert nach Minsk.“
Als endlich der Zug bestiegen werden konnte, kam ich neben einer kleinen, älteren, aber sehr lebendigen und gefaßten, alleinstehenden Frau, Martha Crohn, zu sitzen, in der ich eine sehr vielseitig interessierte, literarisch gebildete Dame kennenlernte. Der Gesprächsfaden riß nicht ab, und bald schenkten wir uns gegenseitig Vertrauen. Die Fahrt dauerte 4 Tage. Nur einmal war der Waggon während der Nacht geheizt. Sonst fror man. Da wir genügend Decken hatten, hüllten wir uns gemeinsam ein und krochen belustigt ins „Bettchen“. Die Verpflegung war schandbar. Die mitgegebenen Stullen waren bald aufgezehrt. Während der ganzen langen Zeit gab’s nicht einen warmen Tropfen. Wir waren schon glücklich, irgendwo kaltes Trinkwasser zu erlangen. Die Waggons waren überfüllt. Auf den Gängen lagen viele Personen. Mulle Crohn überließ ich den Fensterplatz. Je weiter wir gen Osten steuerten, umso kälter wurde es. Die nebenan liegende Toilette fror ein, die Jauche lief über, und wir staken teilweise mit unseren Schuhen in jener Nässe. Die Stimmung an sich war aber gehoben. Ein mitreisender Geiger gab gute Konzerte. Und wenn nachts während der Fahrt etwa die „Legende“ von Wieniawski oder hebräische Lieder erklangen, die mit Inbrunst mitgesungen wurden, so ergab sich eine Art heilige Stimmung einer von Sehnsucht und nach Erlösung dürstenden Menge.
Endlich in Minsk, am Morgen des 4. Tages angekommen, wurden wir auswaggoniert. Es formte sich ein langer Zug einer von Koffern, Säcken etc. beladenen Schar, die von lettischen Soldaten eskortiert wurde. Mit Peitschen bewaffnet, die bald genug in Aktion traten - es gab auch freundliche Helfer unter ihnen -, mußten wir uns einige Klm. zu Fuß mit unserem Gepäck abmühen, um in’s Ghetto geführt zu werden. Die Bevölkerung begaffte uns wie einen einziehenden Zirkus. Der Zug der Erniedrigten und Beleidigten kam nur langsam voran und machte einen sehr deprimierenden Eindruck.
Im Ghetto angekommen, hatten wir lange im Freien zu stehen, um endlich in’s „Rote Haus“ eine ehemalige Schule, gelassen zu werden. Bereits überfüllt, lagen wir eng gedrängt auf den Fluren. Von Vor- oder Fürsorge war keine Spur. Weder gab’s ein warmes Getränk, noch irgendein Krümchen Essen. Dafür wurden wir angeherrscht von dem Transportleiter, der schon in Berlin eingesetzt wurde. Auf Grund welcher Qualifikationen blieb unbekannt. (Jener junge Knabe entpuppte sich als Dieb und wurde vor einigen Tagen erschossen!)
Auf den Fluren blieben wir viele Tage und Nächte liegen. Da das Wasser seuchenverdächtig war, durfte es nicht ungekocht genossen werden. Die Toilettenverhältnisse waren grauenhaft. Teilweise standen offene Latrinen im Hof zur Benutzung.
Als wir nach Tagen endlich in unsere eigentlichen Quartiere gebracht werden sollten, setzte sich dieser gleiche Elendszug in Bewegung. Als großer starker Mann war ich M. C. sehr behilflich, trug die großen Gepäckstücke und nahm sie unter meine Obhut, seit wir den Zug verließen.
Die Quartiere erwiesen sich als elende Holzhäuser, geplündert und demoliert, die sich zudem in einem unbeschreiblichen Zustand befanden, den sich ein Mitteleuropäer nicht vorzustellen vermag.
Die „Wohnungen“ waren leer. Da und dort befand sich ein Möbelstück, das gebraucht werden konnte. Es gab ferner weder Wasser, Licht noch Toiletten. Durch Zusammenräumen wurde der Unrat entfernt, und wir verbrachten die erste Nacht auf Stühlen in unserer neuen „Wohnung“, die zwei kleine Räume aufwies und mit 18 Personen belegt wurde. Ähnlich wie die Goldsucher ihren Platz ernannten, so eroberte ich das Haus und hatte große Mühe, einen riesigen Andrang abzuwehren. Mit vieler Arbeit wurden die Räume einigermaßen hergerichtet, Betten gesucht und gefunden und so wenigstens Nachtlager errichtet. Da auf eine Person nur 1 Quadratmeter Raum kam, ergab sich die Notwendigkeit, für je 2 Personen nur ein Bett zu haben. So kam ich in allerengste Wohngemeinschaft mit M. C. Wir vertrugen uns gut, hatten den besten Platz und das beste Bett, genügend Matratzen, Decken, ja Daunendecken, Kissen, die sogar weiß bezogen wurden!
Hier nun lernte ich M. C. noch genauer kennen. Wir hielten beide auf peinlichste Sauberkeit in allen Belangen und versuchten, diesem Leben einige rosige Seiten abzugewinnen. Da wir beide nachts nicht gleich schlafen konnten, unterhielten wir uns stundenlang und schufen uns so schöne Stunden. M. C. betätigte sich in der Folge als Haus-Samariterin und Masseurin und pflegte Hinz und Kunz. Sie besaß schöne gepflegte weiche Hände, die den vielen Hilfsbedürftigen zugute kamen.
„Die Verpflegung“ im Lager spottete jeder Beschreibung. (Bis auf den heutigen Tag.) Von ihr allein zu leben, ist unmöglich. Deshalb setzten bald viele Krankheiten ein, die wieder eine Menge Todesopfer forderten. „Tante Mulle“, wie M. C. allgemein gen' wurde, war unermüdlich Tag und Nacht tätig.
Ich selbst fand bald Beschäftigung und brachte genügend Lebensmittel nach Hause, so daß M. C. - für Minsker Ghetto-Verhältnisse - keine Not litt, ja, gut lebte. Die Nächte an sich waren grauenhaft. Schlechte Luft, Gestöhne der Kranken, Kälte und Ratten machten das Schlafen zur Qual. M. C. blieb aber unangefochten und der rettende Engel in der Wohngemeinschaft von 18 Personen. Sie war körperlich und geistig sehr frisch und lebendig. Zu Sylvester 1942 verfaßte sie mit 2 anderen Damen ein sehr launiges Versspiel, das zu dritt aufgeführt [wurde] und viel Beifall fand. M. C. kostümierte sich als Mann und agierte ebenso temperamentvoll wie lieblich. Das Spiel selbst verulkte die Hausgenossen, von denen einzelne sich [als] sehr schrullenhaft etc. erwiesen, Jene Stunden waren Höhepunkte im Leben von M. C., in denen sie über sich selbst hinauswuchs.
Das neue Jahr begann mit widrigen Plackereien. Alle Pelze mußten unter anderem abgeliefert werden, Drangsalierungen setzten ein, und die Mitbewohner sanken in der Not von Stufe zu Stufe. Menschliches und tierisches Ungeziefer (Ratten und Wanzen) machten zuweilen das Leben unerträglich. Badegelegenheit gab’s nicht. Sich gründlich zu reinigen, war nur beschränkt möglich. Gekocht wurde auf einem offenen Herd. Alle Gefäße verrußten. Wäsche zu machen war eine große Plackerei. Es fehlten Gefäße und vor allem Seife. Ließ man ein Stück liegen, so verschwand sie im Handumdrehen. Die „Ratten“ hatten sie verschlungen. Meistens waren es aber die „lieben Mitbewohner“, die den Raub begingen! -
Man war also dem Schmutz verfallen. Nur mit Mühe konnte man ihn abwehren. Darunter litt M. C. ungeheuer. Die groben Arbeiten wurden ihr abgenommen, wie Wasser holen vom Brunnen, Feuer machen, Wäsche waschen etc. Dafür fütterte ich einen Stubengenossen durch, der ihr diese Hilfsdienste leistete. M. C. nannte mich deshalb ihren „Kümmerer“, da ich mich auch um diese Dinge kümmerte. Und in ihrem Sylvesterspiel wurde ich folgendermaßen glossiert:
Doch wenn Rudner kommt nachhaus,
Ist’s mit unserer Ruhe aus,
Denn er flucht und wettert nur:
„I hab von dem Saustall g’nua.“
Doch wenn ausgebullert er,
Sorgt er für uns alle sehr,
Zank und Streit hört man dann nicht,
Er läßt leuchten uns sein Licht.
Unsere Zwiegespräche in den langen Nächten, wir gingen schon um 7 Uhr abends zu Bett (des Lichtmangels und der Kälte wegen) bewegten sich auch in der Richtung, daß wir uns gegenseitig zum Vollstrecker unserer Wünsche und Habe machten, falls einer von uns vom Leben abberufen werden sollte. Wir hegten aber starke Lebenswünsche, und M- C. freute sich darüber, eines Tages wieder in Freiheit zu sein und ihre Lieben, vor allem ihre Kinder, wiederzusehen. M. C. wollte ihre diesbezüglichen Wünsche schriftlich fixieren. Dazu kam es aber nicht.
Anfang Januar ging sie eines Tages mit einer Hausgenossin spazieren. Ihr war aber plötzlich nicht ganz wohl, und so brach sie vorzeitig den Rundgang im Ghetto-Lager ab und ging zu Bett. Ich hatte damals Nachtdienst und kam erst jeden 2ten Tag auf einige Stunden heim. M. C. wurde richtig krank. Sie wurde von der stark grassierenden Lagerkrankheit befallen. Ich scherzte mit ihr und sandte ihr fast täglich kleine Mitteilungen, von denen ich eine folgen lasse, die ich später nach ihrem Tode zerknüllt fand. Eine Hausgenossin nahm sich ihrer sehr an und pflegte sie. Erneut verlangte sie von mir einen Bogen Papier, um ihre Wünsche festzulegen. Ich verulkte sie und ließ sie warten. Nach ihrem Tode fand ich den unbeschriebenen Bogen Papier, den ich ihr dann doch brachte, an. Aber ihr Zustand verschlechterte sich. Sie fiel ab und hatte keinen Appetit. Was menschenmöglich war und für sie beschafft werden konnte, geschah.
Der Lagerarzt Dr. Kreyn bemühte sich sehr um sie, bis zur letzten Minute. Fleisch wurde besorgt, um ihr kräftige Brühe zu reichen. In den ersten Tagen ihrer Krankheit war sie geistig ganz auf der Höhe und beschäftigte sich wohl sehr mit mir. Dann eines Tages ließ sie mir durch einen Arbeitskameraden folgendes Gedicht zukommen, das mich sehr überraschte. Der Antwortbrief, den ich in ihrem Bette fand, soll hier ebenfalls festgehalten werden.
Akrostichon
Bewunderungswürdig ist Deine Kraft,
Erhobenen Hauptes verließt Du die Haft
Regsam blieben Geist und Körper Dir,
Trotzig Dein Mut hinter Kerkers Tür
Herbes und Unrecht hast Du erfahren,
Oft nur mit Müh’ kannst die Ruh’ Du bewahren
Leid, Druck und Knechtschaft hast Du erlebt,
Du, dessen Sinn nach Höherem strebt.
Reckest dir Arm und dehnest die Brust
Und denkst an die Zukunft voll Hoffnung und Lust.
Denn stärker als je kannst Du Dich beweisen.
Nerven von Stahl, Körper wie Eisen,
Eisern die Muskeln, Schädel wie Erz
Recht hart auch Dein Wille, stark ist Dein Herz.
M. Cr.
Minsk, im Januar 1942.
Liebe Frau Crohn!
Zunächst „Gott“ zum Gruß, dem sich der Wunsch anschließt, Ihr Gesundheitszustand möge sich zum Guten wenden. Dann gibt’s wohl wieder Sonnenschein, Frohsinn und Lust und Zuckererbsen nicht minder. Ich hoffe dann auch, Ihre Dichtkunst regt sich wieder, um ebenso gute wie gehaltvolle Proben abzulegen! Jedenfalls, ich war sehr erstaunt über die, sicherlich gutgemeinte, Austrudelei - wie wir solche Anhimmelei nennen - und die etwas zu gut gemeint ist. Jedenfalls vielen Dank. Und um ein Zeitdokument, lyrischer Art, bin ich reicher.
Ob ich morgen komme, ist zweifelhaft. Trotz grimmiger Kälte und vieler Arbeit bei Tag und Nacht bin ich wohlauf.
Herzlichen Gruß
Ihr R.
Poem und Brief ist wohl ein Beweis der gegenseitigen Wertschätzung und inneren Verbundenheit.
Durch M. C.[s] Krankheit meiner Bleibe beraubt, schlief ich außerhalb während ihrer ganzen Krankheit. Vierzehn Tage machte ich laufend Nachtdienst. Dann nahm mich eine Familie auf, bei der ich sehr primitiv nächtigte. Da ich an Mulles Ableben nicht dachte, nahm ich ihre Krankheit nicht weiter tragisch. Dies umso weniger, als auch andere Hausgenossen sie überstanden. Was war das für eine Krankheit? Typhus - nichts anderes.
M. C. aber verfiel von Tag zu Tag. Sie atmete schwer, nahm nur Tee und etwas Brühe zu sich, wurde apathisch und redete kaum noch. Etwa 3-4 Tage vor ihrem Ableben erkannte ich das Nutzlose aller ärztlichen Kunst, die mit Spritzen versuchte, das fliehende Leben dieser Frau zu bannen. Die Nacht vom 24.-25. Januar verbrachte ich an ihrem Bett. Sie röchelte schwer die ganze Nacht. Ich hatte das Gefühl, es wird die letzte Nacht sein. Die Nacht selbst war furchtbar. Während die Hausgenossen schliefen und teilweise stark schnarchten, saß ich auf einer Kiste, fröstelte und horchte in der Finsternis auf Tante Mulles Atemzüge. Aber auch die schrecklichsten Nächte nehmen ein Ende. Am Morgen war M. C. etwas besser. Sie schlief ruhig und Arzt und Pflegerin meinten, ihr Zustand sei besser.
Es kam der 26. Januar 1942. Ich kam vom Dienst. Und während ich ein bescheidenes Mahl einnahm, entschlief um ca. 6 Uhr abends M. C.
Der herbeigerufene Arzt stellte den Tod fest. Leichenträger kamen noch abends, hüllten die Tote ein und legten sie in einen Vorraum. Am nächsten Tag wurde sie abgeholt. -Da bei der Kälte an eine Bestattung nicht zu denken war, wurde M. C. mit vielen anderen Leichen in einen Schuppen gelegt; am 8.II.42 wurde sie in einem Massengrab von ca. 300 beigesetzt.
Laut Lagerbestimmung verfällt alle Habe von Abgeschiedenen der Gemeinschaftsleitung. Da durch den Lagerhunger die Habe vieler Toter mißbraucht und auf Umwegen, durch Tausch, in die Magen gelangte, so bestand bei mir die Absicht, ich fühlte mich ja als moralischer und rechtlicher Erbe, nur Wertloses abzugeben, Wäsche und Kleider aufzuteilen und den Rest unserer eigenen Wohngemeinschaft zukommen zu lassen. Ich wähnte, M. C. war in guten Händen, zumal sie von allen engeren und weiteren Hausgenossen geliebt wurde. Darin wurde ich schmählich enttäuscht. Ein schwerer Gepäckkoffer ward geöffnet und ganz seines Inhalts beraubt. M. C. besaß auch eine goldene Armbanduhr, die ich auch nicht wiedersah. Ferner soll sie Geld und Schmucksachen in ihren Kleidern eingenäht gehabt haben. Nichts wurde gefunden, denn die Kleider waren ja weg. Im Verdacht standen sofort bei mir gewisse Personen, denen ich aber keine vollgültigen Beweise für ihre Leichenfledderei nachweisen konnte. Hehler und Stehler plünderten wahrscheinlich schon während M. C.s Krankheit, sie aus. Sie soll auch einer befreundeten Frau, die sie öfters besuchte, Geld gegeben haben.
In ihrem Besitz fand ich nichts von Belang. Ihre Schuhe, Wäsche etc., was noch übrigblieb, erhielt ihre Pflegerin. Ihre Brieftasche, die keinen Pfennig enthielt, [bekam] ihr Vetter, Herr Alexander. Selbst behielt ich einen Koffer, ihren Füllfederhalter und etliche Kleinigkeiten, u. a. ein Bild älteren Datums. Dem Arzt gab ich etliche Ampullen, Pillen und eine Spritze von M. C. für seine Bemühung und beglich Mk 70.- für besorgte Lebensmittel.
[Wann M. C. bestattet wurde, konnte ich nicht erinnern.] Der beiliegende Totenschein bezeugt nur ihr Ableben.
Am 27. Januar hielt ich eine intime Trauerfeier ab, der auch M. C.’s Vetter beiwohnte. Ein Violinsolo rahmte Beginn und Schluß der Feier ein. Ich sprach, verwies auf das Los der Evakuierten, zählte unsere Opfer (kurz vorher starb im Bett nebenan ein Mann), würdigte die Verstorbene, trug ihr Gedicht vor und schloß mit Arno Holz: „Mein Herz schlägt laut!“
Berthold Rudner
geb. 20.4.85 zu Wien, z. Zt. im Ghetto Minsk
Lager Berlin
Ende Februar 1942
Seit 1911 in Berlin, wo ich 20 Jahre als selbständiger Handwerksmeister im Autofach tätig war.
Allfällige Zuschriften an mich beliebe man zu adressieren:
c/o M. Ziehten
S.W. 87, Lessingstr. 50. v. II.
(P.S.) Ihr einziges Dokument, die Kennkarte (Judenpaß), wurde eingefordert. Aus ihm ersah ich, daß M. C. erheblich älter war, als ich annahm.
Leben im Ghetto
10. XII. 41. Die langen Nächte sind schrecklich. Alles hustet, stöhnt, die schlechte Luft reizt, die man in Stücke schneiden könnte, Kranke jammern und ringen nach Luft, Männer, und auch Frauen schnarchen entsetzlich, wachen zuweilen mit Schreck auf und hungrige Ratten huschen über Betten, werfen von Regalen Gegenstände auf die Schlafenden, ängstliche Frauen schreien auf, ich liege eng, schwitze, meine Haut juckt mich entsetzlich, und ich warte mit Sehnsucht auf den Morgen. Bin meist der Erste auf. Liege ich wach, rezitiere ich im Kopf und überdenke meine Lage. Und / Auch die meiner Umgebung.
Hier lernt man erst den wahren Menschen kennen. Alle Kultur und Zivilisation fällt ab wie die Blätter im Herbst; übrig bleibt der kahle Stamm. Und was nicht sturmfest ist, fällt.
[...] Die primitivsten hygienischen Begriffe sind ausser Kurs gesetzt. Die Gier nach Essen überschattet alle anerzogene, aber nur äußerlich gebliebene „Kultur“. [Bl. 11]
11. XII 41. [...] Ein weiteres russisch-deutsches Bild aus den letzten Tagen: ein mir unterstellter älterer jüdischer Mann aus Berlin geht über den Garagenhof, mit Werkzeug bepackt. Ein fremder Hüne von einem SS-Mann fühlt sich nicht genügend respektiert. Da gibt er dem alten Mann, der den Hut gar nicht ziehen konnte, einen Tritt. Auf dem gefrorenen Boden fällt der Arbeiter schwer hin und empfängt im Liegen einen zweiten schweren Tritt. Damit wurde der Mann fast eine Woche arbeitsunfähig. Ich erstattete Meldung beim Vorgesetzten. [Bl. 13]
21. XII. 41: Grosse Aufregung im ganzen Getto! Warum? Ein Zivilist mit einem Judenstern mischt sich unter den tauschenden und feilschenden Juden und schoss eine Frau nieder. Der Mann, von kleiner Figur und Linkshänder, wurde von meinen Kameraden erkannt, der hier als SS-Fahrer tätig ist und der nach wie vor seinen Dienst verrichtet. Der Mann fiel schon am Bahnhof bei den Transporten der ankommenden Juden auf. Er liess sich Schneiderbürsten aufstellen und schoss nach ihnen linkshändig. Dieser Mann also zog sich nach der Tat [den/seinen???] Zivilmantel aus und ging als Oberscharführer Schmiedl heim. [Bl.19]
Über Minsk
18. XII. Nun ich Minsk räumlich kennen lernte, stelle ich fest: der Teil, der modern, gemauert 3-4 stöckige Häuser aufweisst, ist zum grössten Teil zerstört. Flugwaffe und Artillerie haben glänzend gearbeitet. Dazwischen – in der entsetzlichen Ruinenstadt – gibt es noch vereinzelte sehr schöne Bauten. Viele Häuser – nach den Fronten der Ruinen zu urteilen – hätten jeder modernen Stadt zur Zierde gereicht. [Bl. 14]
Hunger
18. XII. Alle edlen menschlichen Triebe versacken, der nackte Hunger regiert die Stunde. Ein Koch ist heute eine umschwärmte [?] Gestalt, der weniger für Geld, desto mehr für Seidenstrümpfe, Pelze etc. empfänglich ist. [Bl. 15]
21.XII. 41: Hunger, Hunger, Hunger! Die Verpflegung des Lagers ist grauenhaft. Mal erhalten die Lagerinsassen um 9 Uhr eine Wassersuppe und abends etwas Brot. Mal gibt’s solch „Essen“ erst spät nachmittags. Es fiel auch schon ganz aus. Dafür gab´s nächsten Tag etwas Kartoffel. Zuweilen empfangen diese Hungernden eine Handvoll Graupen, die sie sich selber kochen sollen. Es fehlt aber an Zutaten, sogar Salz. Brennmaterial ist knapp. Und so erlebte ich heut´ folgendes: „Unsere“ abgeschlossene „Toilette“ fehlte die Seitenwand! Aber die Tür mit Eckpfeilern stand noch. Und das Schloss baumelte dran. - Aus Hunger wird alles irgendwie Entbehrliche verhökert, resp. [?] eingetauscht, trotz strengem Verbot, das Phalanbinden, Auspeitschen und Entzug des Essens auf drei tage vorsieht. Zudem werden Sachen [?] und Lebensmittel eingezogen.
Essen und „Preise“, sowie „Verbindungen“ sind Gesprächsthema, sind das A und O fast aller Unterhaltungen. So [???] der Hunger auf die Ghettomenschen. [Bl. 20 – 21]
Hygiene
Der Mangel an Seife, vor allem an „zivilisierten“ Einrichtungen wie Bäder und Toiletten zeitigt Zustände, die entsetzlich sind. Die Männer lassen ihr – Brünnlein fliessen, wo sie stehen. Im Ghetto ist der ganze Boden verseucht. Der Küchenausguss wird zur Latrine; dies weil es in der Kälte, Finsternis und bei vereistem Boden draussen ein Wagnis ist, auszutreten. Bei Tauwetter bleibt man buchstäblich in dem klebrigen Boden stecken.
Tauschgeschäfte
Hungernde Lagerinsassen drängen sich an den Zäunen entlang, um mit den Russen zu tauschen. Dieser Handel wird aber gewaltsam verhindert. Dabei spielen sich widerliche Szenen ab. Mit Stöcken, Knüppeln und Fäusten wird gedroschen und abgewehrt, die Menschen vertrieben, das verhandelte Gut eingezogen, Geschrei und Jammern hebt an, es dreht sich mir manchmal das Herz im Leibe um. [Bl. 31]
1. III. 42 Kopf- und Bauchschüsse. Dauernd wird versucht, den Handel auf der Straße zu verbieten. Da die Lagerinsassen hungern, nimmt der Tauschhandel kein Ende. Patrouillenfahrten der SS schiessen einfach in die Menge. Gestern gab´s einen Bauchschuss, den eine Frau erhielt, heute´empfing ein Russe einen Kopfschuss. -
Man hält auch russische und deutsche Juden getrennt. Besuch zu machen, ist unmöglich. Die gegenseitigen Ghettos dürfen von Ghettofremden nicht betreten werden. [Bl. 47]
Gewalt im Ghetto
Menschen werden gefangen, gefesselt, nachts weggebracht und morgens sind die ausgeliehenen Spaten und Picken – blutig. [Bl. 32]
14. II. 42. Sah einen [Tropfnasser???????]stuhl, ein Inquisitionsmarterinstrument, das kaum Nürnberg in seinem Schlossmuseum aufzuweisen hat. Der Stuhl wurde in unseren Werkstätten gebaut. Ein ganz enger Sitzstuhl, hoch, mit Armlehnen. Beine und Hände werden durch eiserne Schellen angefesselt. Der Stuhl ist so eng, dass ich mit meinem schlanken Gesäss kaum Platz fand. Die Rückenlehne ist ca. 2 ½ [?] hoch. Aus einem runden Gefäss tropft nun (aus jener Fallhöhe) dem Gefolterten dauernd Wasser auf den Schädel, das durch einen kleinen Hahn reguliert werden kann. [Bl. 43]
2. III. 42. „Aktion!“ Als der Befehl erging, die Häuser im Ghetto nicht zu verlassen, war man im unklaren, was der Inhalt dieser Massnahme sei. Nachmittags hörte man ununterbrochen Schüsse! Ganze Straßenzüge wurden gewaltsam geräumt. Von russischen Juden. Frauen und Kinder, 3jährig, lagen tot auf den Strassen. In einer ausgebrannten Tapetenfabrik trieb man viele Juden zusammen, die dort erschossen und verbrannt sein sollen. Ca. 5000 Menschen sollen vernichtet worden sein. Ich konnte meinen Nachtdienst nicht antreten. Die Trupps kamen erst spät nachts nachhause. Man wollte wohl den Heimkehrern von der Arbeit, die vielen Leichenhügel nicht sehen lassen. - Das ist die 3. Aktion hier in Minsk. Die Menschen, vor allem die russischen Juden, sind sehr bedrückt.
Heut´ am 3. findet im Saal der S.S. Ein bunter Abend statt.
Erfahre eben nachts: Auf v. Papen fand in Ankara ein Attentat statt, dass von Juden entriert [?] sein soll. Als Gegenmassnahme sei die gestrige „Aktion“ zu betrachten. 7. und 20. November 41 war ebenfalls eine „Aktion“. [Bl. 47-48]
31.III. -1. IV. 42 Gestern früh grosse Aufregung. Alle Mann mussten Hof und Arbeitsräume aufräumen wie noch nie. Es kam nämlich, wohl zur Inspektion Heydrich.
Passahfest und Pogrom. Nachts wurde eine kleine „Aktion“ unternommen. Ca. 70 russische Juden, Frauen, Männer und Kinder wurden erschossen und heut´ bündelweise auf Schlitten weggebracht. Damit wurden die jüdischen Ostern, die heut´ beginnen, eingeläutet. [Bl. 51]
10.V. 42 Generalappell durch einen sächsischen Polizeimeister der die Nummerierung an Brust und Rücken ankündigte, damit wir, ebenso wie ein Auto, dabei lachte er triumphierend, bei einem Vergehen erkannt und der Sühne zugeführt werden können, z.B. beim Tauschhandel. - In den letzten Tagen wurden auf öffentlichen Plätzen ca. 35 Partisanen, darunter auch Frauen, an Lichtmasten gehenkt. Haken und Treppengerüst mit nach unten öffnender Fallklappe wurden bei uns von Juden angefertigt. [Bl. 54-55]
3.VI. 42 Wieder „Aktion“ im russischen Judenghetto. Ca. 60 erschossen. Einen 2ten Wiener Transport wurden wieder Lebensmittel und Koffer abgenommen. Wir erhielten jeder einen Laib Brot aus – Wien und haben vorübergehend auch besseres Essen. Auf Kosten der – Wiener. [Bl. 56 letzter Tagebucheintrag]