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Chronik und Quellen
1941
November 1941

Brief von Cläre von Mettenheim an ihre Tochter Hildegart

Die in „Mischehe“ lebende Cläre von Mettenheim beschreibt in einem Brief an ihre Tochter am 5. November 1941 die Vorbereitungen in Frankfurt am Main für eine Deportation durch die Gestapo:

5.11. Was ist seit dem 16.9. nicht alles passiert! Dieter wurde telephonisch an die russische Front beordert, ohne sich ausrüsten zu können und Abschied zu nehmen. Er hat dann auf dem Weg nach Rußland ein Eisenbahnunglück gehabt, durch das er unversehrt kommen ist, und liegt jetzt frierend in einem Erdloch vor Petersburg, Du bist in Glasgow, ein direkter Brief von Dir von der Isle of Man war da - u. am 19.10. haben wir nun mit eigenen Augen eine „Aktion“ gegen die Juden miterleben müssen.

Der Brief von Dir war eine ganz große Freude. Und daß Du frei u. in Glasgow u. so überglücklich schreibst, wie Paul schreibt, auch. Wenn wir auch die Tage der Verbindung über Paul für gezählt erachten - liebe Hildegart, man (vielmehr: ich kann ja eigentlich nur ich sagen), also ich habe das Gefühl, man muß nur stillhalten. Was so über uns kommt wenn man da sich wehren wollte, nachdenken - unmöglich.

Das schlimmste fast war das ohnmächtige Ansehenmüssen, wie die Juden ausgetrieben wurden. Früh am Sonntag sahen wir schon die jungen SS-Männer (warum sie nicht an der Front sind in dieser Not draußen?) in das Haus Staufenstr., das so nahe vor uns liegt gehen. Es war also Wirklichkeit geworden, was ein Gerücht uns zugetragen hatte. Nachdem von Haussuchung nach Lebensmitteln, von Evakuierung der jüd. Männer gesprochen u. gemunkelt (Mundfunk) worden war, der Vorstand der jüd. Gemeinde nach Berlin telephoniert hatte, ob etwas zu befürchten sei, u. den Befehl bekommen hatte, alle Gerüchte zu dementieren - nachdem also eine Woche sich verstärkender Unsicherheit hinter uns war, erzählte beim Abendessen Amelis,7 Cora8 hat gefragt, was eigentlich aus Tante Me9 wird, weil doch morgen alle Juden in die Markthalle kommen? Quelle dieser Nachricht war die Direktorin, die an maßgebender Parteistelle wegen einer anderen Sache war u. das gehört hatte.

Also war’s ernst. Amelis per Rad in die neue Wohnung Liebigstr. 53. Und dann - bis sie einen Arzt gefunden (es war dann schließlich Frl. Dr. Tönges, eine Freundin von Margot), bis alles soweit war u. Bernhard mit seinen 86 Jahren ins jüd. Krankenhaus eingeliefert wurde - war es 1 Uhr nachts. Von Gemüse bis zur Perlenkette wurde das Zeug zu uns gebracht, im gleichen Wagen, in dem Bernhard ins Krankenhaus kam. -Am Morgen dann kam alles viel schlimmer, als die Gerüchte wissen wollten. Wahllos wurden etwa 2.000 Juden (natürlich auch getaufte) vom kleinen Baby bis zur alten weißhaarigen Großmutter, von 1-80 Jahren, Frauen, Damen, Pack u. die Blüte der Wissenschaft [mitgenommen], Caspari u. Frau, die Witwe von Geh.rat Freund, Ellingeru. Tochter, Stilling - das erzählt sich so u. zählt sich her - aber nun sehen wir es doch mit eigenen Augen. Drüben im Goldstein’schen Haus war in den 2 unteren Etagen eine jüd. Pension. Zusammengepfercht lebten sie da, wohl meist zu 2 u. 3 in einem Zimmer. Wohnungen waren ihnen ja vorher gekündigt worden, seit Wochen u. Monaten suchten sie, wurden umhergejagt. Dann kam der Stern, der ja eigentlich das Mittelalter insofern übertrifft, als ihn ja getaufte Juden auch tragen müssen. So ist die Anfrage von Lueken, ob der Kirche die christl. Seelsorge im Ghetto übertragen wird - so grotesk sie klingt, ganz richtig.

Also Stunden u. Stunden standen die Familien da drüben. Jeder ein Pappdeckelschild umgehängt (wie ein Schandschild aus dem Mittelalter), das Gepäck in der Hand, den Rucksack auf dem Rücken. Scenen, die sich nie vergessen lassen werden: eine feine, alte, schmale, blasse Dame. Persianermantel. Ein großes Schild unter dem Kinn. Als sie es tiefer hängen wollte, riefen die Umstehenden: der Stern! der Stern!, den zu verdecken ja schwere Strafen kostet. - Ein alter, schwacher Mann mußte vor dem kraftstrotzenden SS-Mann - Laufschritt üben! Weil es ihm nicht schnell genug ging. Die Mädchen von Kaufmanns im 3. Stock hatten dem Black-and-tan-Terrier, den du ja auch kennst, ein Schild umgehängt, in der optimistischen Meinung, ihn mitnehmen zu können! Aber nein: dafür gibt es ja einen von der Regierung geförderten Tierschutzverein - der darf nicht mit ins Ghetto. Er sprang an den Mädchen in die Höhe, wedelte, den Mädchen liefen die Tränen über die Backen. - Den ganzen Tag über dauerte das Warten, Packen, Warten - bis sie dann alle gesammelt in den Keller der Markthalle kamen. Unterwegs u. dort viele Todesfälle: vor Aufregung, Überanstrengung u. natürlich ungezählte Selbstmorde jeder Art. Im Main wurden am nächsten Tag viele geländet.

In der Markthalle dann: Ausziehen! Leibesvisitation. 100 M durften sie mitnehmen, davon mußten sie 90 M! für die Reise abgeben. Pelzmäntel wurden ihnen - nachdem sie erlaubt bekommen hatten, [sie] mitzunehmen, abgenommen. Morgens ½4 Uhr ging ein Zug ab, der andere am Montag Vorm. Von Tante Mé mußte die gute Emma fort. Die Zimmer, resp. Wohnungen wurden versiegelt. Das ganze Besitztum: Möbel, Wäsche etc. (nachdem sich die Gestapo genommen, was sie für persönlichen Bedarf gebraucht) verweigert. Es ist eine solche zum Himmel schreiende Grausamkeit, eine Gemeinheit, ein Sumpf – u. wenn man bedenkt, daß draußen die Männer in Scharen ihr Leben für dies Vaterland opfern!, in dem - ungeachtet der Zeit - diese Bestie Mensch sich austobt. -Hildegart - das können wir nie wieder gutmachen. - Nun soll es aber weitergehen - die Hiergebliebenen (wie viele Verwandte u. Bekannte) leben nun in Angst u. Unsicherheit: Wann steht der Häscher vor uns? U. wie viele sagen: Haben wir noch Zeit, uns das Leben zu nehmen? U. kann man ihnen abraten? Im ganzen Land war diese Aktion. Wie die Armen in Polen leben u. untergebracht sind - es kommt einem wie Diebstahl vor, in Behaglichkeit zu leben u. um solche Not zu wissen. - Frankenburger16 gefährdet, Mé wohl durch den gefallenen Offizierssohn geschützt, Arthur durch die arische Frau.

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