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Chronik und Quellen
1941
Oktober 1941

Leitartikel des Jüdisches Nachrichtenblatts

Ein Leitartikel von Leo Kreindler im Jüdischen Nachrichtenblatt vom 24. Oktober 1941 berichtet über die mangelnde Unterstützung aus Übersee für die Juden in Deutschland:

Haben sie nicht genug getan?

L.I.K. Haben die Juden in Übersee und ihre Hilfsorganisationen in den vergangenen Jahren in der Tat alles ihnen Mögliche zur Schaffung von Einwanderungsgelegenheiten getan? Diese Frage wurde und wird vielfach von Lesern an uns gestellt, und wir haben sie zu keiner Zeit in völlig bejahendem Sinne beantworten können. Die Juden in Übersee haben gewiß manches getan, um die Einwanderung zu fördern, beispielhaft war insbesondere das Verhalten vieler ausgewanderter Familienmitglieder, die sich um die Nachwanderung ihrer Angehörigen eifrig bemüht haben. Auch aus der Familiennachwanderung ist nicht alles herausgeholt worden, was sich hätte erreichen lassen, aber man konnte immerhin zufrieden sein. Weniger befriedigend war schon die Gesamthaltung der jüdischen Wanderungsorganisationen in Übersee, die ihre Kräfte und Mittel zersplittert haben, ohne in ausreichendem Umfang einen wirklich großen und konstruktiven Plan gefördert zu haben. Wahr ist allerdings, daß sie manchen Plänen und Projekten ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben, sie haben auch Verständnis für die Notwendigkeit der Verbreiterung der Einwanderungsbasis bekundet, aber nur in ganz wenigen Fällen ist es zu positiven Entscheidungen gekommen. Was ist nicht alles an Einwänden gegen die großzügigen von unserer Seite gemachten Lösungsvorschläge vorgebracht worden, und wie wenig stichhaltig waren diese Gegenargumente. Man hatte förmlich Angst, die Großeinwanderung in ein überseeisches Land zu fördern, weil man fürchtete, jede Zuwanderung neuer jüdischer Massen könnte zu einer grundsätzlichen Versagung der Einwanderungserlaubnis führen. Vielleicht waren diese Befürchtungen nicht grundlos, aber dann hätte es doch nahegelegen, Pläne zu realisieren, die die Seßhaftmachung von jüdischen Einwanderern in solchen Gebieten zum Gegenstand hatten, die erst für die Bebauung erschlossen werden mußten.

Die zwei Kategorien

Wie häufig haben wir in unseren Aufsätzen eine Unterscheidung zwischen den Auswanderern gemacht, die mit Hilfe ihrer vorgewanderten Verwandten im Wege der individuellen Einwanderung in ein Überseeland kommen können, und der anderen Kategorie von Auswanderungsaspiranten, die mangels verwandtschaftlicher Beziehungen nach Übersee und wegen des Fehlens eigener Mittel nur durch eine gemeinschaftliche Maßnahme der jüdischen Wanderungsorganisationen in Übersee zu einem Einwanderungsziel hätten gelangen können. Mit welchem Aufgebot an Einzelheiten haben wir diese Pläne verfochten, mit welcher Beharrlichkeit haben wir sie immer wieder vorgetragen, und wie sehr haben wir selbst den Vorwurf der steten Wiederholung der gleichen Gedanken in Kauf genommen, um den Juden in Übersee klarzumachen, was sie zur Lösung des Wanderungsproblems der Juden in Deutschland beitragen können. Man sagte uns von drüben, es seien die Geldmittel nicht vorhanden, um wirklich große und für zahlreiche Einwanderer in Frage kommende Projekte durchzuführen, und wir antworteten darauf mit Gegenvorschlägen, wie sich Mittel beschaffen ließen. In frischer Erinnerung wird den Lesern dieses Blattes noch der Hinweis auf die mehrere hundert Millionen Dollars betragenden Sozialetats der Juden in den überseeischen Ländern sein, und unvergessen ist wohl auch unser Aufruf an die jüdischen Wanderungsorganisationen und an die Juden in Übersee, einen wirklich großzügigen einmaligen Drive zu veranstalten, mit dem einzigen Ziele, eine erhebliche Summe für die Finanzierung von Einwanderungsprojekten zu gewinnen. Große Ländereien in Übersee, so sagten wir, stehen bereit, die Menschen brauchen, und die Menschen, so fügten wir hinzu, sind vorhanden, die danach Verlangen tragen, in diese Gebiete zu gehen, wenn man ihnen nur die Chance gewährt hätte.

Mangel an Entschlußfähigkeit

Wir erörterten die mannigfachen Gesichtspunkte einer rein sachlich fundierten Wanderungspolitik und wiesen auch auf die Notwendigkeit hin, durch eine zweckmäßige Propaganda die Juden in Übersee für die Durchführung von Großeinwanderungsprojekten zu gewinnen. Es war in den letzten Jahren angesichts der wechselnden Einwanderungsbestimmungen in Übersee und im Hinblick auf die Tendenz fast aller Länder, sich gegen die Zuwanderung von Juden abzuriegeln, ziemlich schwierig, Einwanderungsmöglichkeiten in großem Umfange zu schaffen. Es war nicht leicht, aber es wäre doch keineswegs unmöglich gewesen. Sehr viele Dinge im Leben sind nicht leicht durchzuführen, aber bei Geschicklichkeit und voll einsetzender Hilfsbereitschaft glücken sie letzten Endes doch. Bei allem Respekt vor den anerkennenswerten Einzelleistungen auf dem Gebiete der Wanderung kann man doch nicht allen in Frage kommenden jüdischen Stellen das Zeugnis ausstellen, sie hätten das Problem als solches so behandelt, wie es seiner Natur nach hätte gelöst werden müssen. Können sie zu ihrer Entlastung anführen, man hätte ihnen die Tragweite und den Umfang der Frage nicht genügend deutlich zur Kenntnis gebracht? Sie können es ganz gewiß nicht, wenn man nur halbwegs objektiv die Veröffentlichungen in diesem Blatte würdigt, die in den letzten Jahren diesem Thema gewidmet waren. Vielleicht muß man zu dem Schlüsse kommen, es säßen in den Gremien, die über die großen Projekte zu entscheiden hatten, nicht immer die richtigen Menschen auf den Plätzen, auf die sie gehören, vielleicht sähe es auch auf dem Gebiete der Wanderung anders aus, wenn dort, wo die endgültigen Entschließungen getroffen worden sind, die jüdischen Persönlichkeiten vorhanden gewesen wären, die über den Tag hinaus die Dinge zu beurteilen vermochten. Wir sind nicht im geringsten von dem Bedürfnis nach Kritik an der jüdischen Wanderungsarbeit berührt, wir haben häufig genug Worte des Dankes und der Anerkennung in diesem Blatte an die Adresse der jüdischen Wanderungsorganisationen in Übersee gerichtet, nicht etwa nur deshalb, weil wir ja doch wußten wie sehr wir auf ihre Hilfsbereitschaft bei der Regelung aller finanziellen Fragen angewiesen sind. Nur dachten und denken wir, wie wir es einmal schrieben, daß auch diejenigen, denen die Hilfe gewidmet wird, ein gewisses Anrecht haben, mit den Helfern die Methode der Hilfeleistung zu erörtern.

Pflichterfüllung ist Opferbereitschaft

Wir rufen die Argumente, die wir hier gestreift haben, nicht in Erinnerung, um etwa ein Verzeichnis von verpaßten Gelegenheiten zusammenzustellen, wir haben diese Fragen lediglich Revue passieren lassen, um denen Antwort zu geben, die uns gefragt haben, ob unserer Meinung nach die Juden in Übersee auch wirklich alles in ihrer Möglichkeit Befindliche getan haben, um Einwanderungschancen ausfindig zu machen und zu finanzieren. Dies gilt nicht etwa nur für die Großeinwanderungspläne, es bezieht sich auch auf die Möglichkeiten der individuellen Einwanderung, zumal für Menschen älterer Jahrgänge, die draußen keine Verwandten haben, aber auch solcher, deren Angehörige in Übersee leben. Erst vor ganz kurzer Zeit haben wir unter Hinweis auf verschiedene Briefe von Kindern an ihre Eltern von den Pflichten gesprochen, die die Kinder in Übersee gegenüber den noch nicht ausgewanderten Eltern haben.6 Inzwischen sind uns wieder einige solcher Briefe zu Gesicht gekommen, in welchen die Kinder in Übersee an ihre alten Eltern schreiben, aus welchen Gründen sie die Mittel nicht beschaffen können, die zur Finanzierung der Elterneinwanderung erforderlich wären. Daß in vielen Fällen die Argumente keineswegs überzeugend sind, man vielmehr den Eindruck gewinnt, es seien nicht alle verfügbaren Möglichkeiten ausgeschöpft, braucht wohl nicht erst betont zu werden. Pflichterfüllung gegen andere bedingt sehr häufig, daß man sich selbst ein Opfer auferlegt, und eben das ist es, was manche, Organisationen und Einzelpersonen, nicht gern tragen wollen. Sie möchten tun, was sich in den Grenzen der eigenen Bequemlichkeit schaffen läßt, was aber darüber hinausgeht, scheint ihnen über ihre Kraft zu reichen. Deshalb war es notwendig, die Frage zu überprüfen, ob die Juden in Übersee auf dem Gebiete der Wanderung ihre Pflicht voll erfüllt haben, und jeder Leser wird sich nach seinen Erkenntnissen leicht seine Meinung bilden können. Es gibt auch heute noch Einwanderungsmöglichkeiten in Übersee, die ausgenutzt werden könnten, und die fortlaufende Erfahrung lehrt zur Genüge, wie einzelne Menschen drüben diese Chancen in der Tat für ihre alten Angehörigen nutzbar machen. Hätten alle, die es konnten, ihre Pflicht bis zur Höhe des Opfers gesteigert, manche hätten dann wohl ihre Auswanderungspläne längst reifen sehen. Würden jetzt die Zwischenwanderungsgelegenheiten die wir in der vorigen Woche an dieser Stelle erörtert haben, bis zur letzten Möglichkeit ausgenutzt, manche könnten ihre Auswanderung nach den in Betracht kommenden überseeischen Ländern sehr bald durchführen.

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