Tagebucheintrag von Jochen Klepper vom 23. Oktober 1941
Jochen Klepper notiert am 23. Oktober 1941 in sein Tagebuch, dass sich viele Juden vor der Deportation das Leben nehmen:
Donnerstag, den 23. Oktober 1941
Du bist gekommen zu dem Herrn, daß du unter seinen Flügeln Zuversicht hättest.
Ruth 2,12
Renerle [Tochter von Jochen Klepper] ging wieder in den Dienst. Ich war zur Audienz bei dem Innenminister.5 Zum mindesten kein rein negativer, sondern ein problematischer Eindruck; was am meisten für ihn spricht, ist, daß Frick gequält aussieht. Die Formen beherrscht er sehr sicher, ob die Haltung einer gewissen Menschlichkeit mehr ist als eine Pose, läßt sich nicht entscheiden; auch nicht, ob ihn die Dinge so beschäftigten, wie er es wirken ließ. Die persönliche Artigkeit war groß; und dieser Weg ist nicht endgültig abgeschlossen, abgeschnitten.
Hinter den Maßnahmen steht der entschiedene Wunsch des Führers, und ohne ihn - wie ich erwartete - läßt sich nichts tun. Er sei aber bereit, meine Sache in Verbindung mit Renerle vor dem Führer zu vertreten, sobald meine militärische Sondergenehmigung positiv entschieden wäre; dies wäre ein Anknüpfungspunkt, wo sonst keiner ist. Was die Deportation, als das Entscheidende, angeht, so hat die „Aussiedlung“ zum Ziel die Schaffung von Wohnraum angesichts der Wohnungsknappheit und der Bauschwierigkeiten. Minister Frick hält Renerle, als zu meinem Hause gehörig, nicht für bedroht, aber er ist bereit, zur Befreiung von diesem Druck „im Interesse meiner Arbeit“ zu veranlassen, daß sie davor auf weitere Sicht - das Beste sieht er in der Auswanderung nach Schweden - bewahrt bleibe. Dies könne er auf sich nehmen. Ich habe nun mein Anliegen noch einmal schriftlich vorzutragen, darf nur die Bitte um Befreiung von dem Gelben Stern nicht äußern, der eben der „entschiedene Wunsch des Führers“ sei; von dem das Gesetz keine Ausnahmen über die Mischehen hinaus vorsehe. Ich habe in meinem nachträglichen Schreiben zu betonen, daß - so wie auch das Gespräch geführt war -schriftstellerische Sondergenehmigung und Antrag auf mil. Sondergenehmigung beweisen, daß man mich und meine Arbeit will; nur nach den Bedingungen, unter denen meine Arbeit erfolge, sei nicht gefragt, und da gehe ein allmählich nicht mehr tragbarer, lähmender Druck auf die Schaffensfreudigkeit aus. - Nur um die Arbeit, die das Dritte Reich wünscht, darf es ja in solcher Audienz und solchem Antrag gehen.8 Wesentlich war mir aber, daß Minister Frick mit keiner Silbe andeutete, daß Renerles Anwesenheit in meinem Hause eine zu starke Belastung für mich bedeute. Bei aller großen Zurückhaltung und Vorsicht erklärte Minister Frick doch noch, daß „wir es damit“, Renerle „aus dem Arbeitseinsatz und der Dienstverpflichtung herauszubekommen“, im Falle einer Einwanderungserlaubnis nach Schweden schaffen würden. Irgendein Schritt außerhalb des Gesetzesrahmens kann aber also nicht getan werden. Ich glaube, heute würde man ihn auch in puncto Sondergenehmigung für uns Künstler nicht mehr tun.
Unterdes war Hanni bei der alten Talka Gerstel, deren 70jährige Schwester Nanni nun - nachts um 3 Uhr aus ihrem Zimmer abgeholt - nach Litzmannstadt (Lodz) deportiert ist. Fräulein Anni, gestern abend aus, sah wie spät alte Juden mit Polizeiautos aus ihren Wohnungen abgeholt wurden. - Die Selbstmorde sollen sich so gehäuft haben, daß den Juden in den „Sammel“-Synagogen Scheren, Nagelfeilen etc. abgenommen werden. Auch sonst, noch in den Wohnungen, viele Selbstmorde. Weithin bringt die arische Bevölkerung den Juden Lebensmittel; vor der Synagoge in der Levetzowstraße soll es zum ersten Mal nahezu Demonstrationen gegeben haben.
So kalt Fräulein Anni ist - dies alles nimmt sie in der Erinnerung an das, was sie seit Jahren in jüdischen Häusern erfahren hat, sehr mit, und sie ist von großem Wert für uns als Hausgenosse.
Um ½7 kam Renerle heim, sehr bedrückt, weil aus ihrem Betrieb nun auch wieder einer verschwunden und fortgebracht ist. Renerle, Hanni und ich sind heute - indes all dies verzweiflungsvolle Unheil weitergeht - doch viel ruhiger. Das Entsetzlichste steht nicht so unmittelbar vor einem. So führt Renerle zwar ein Leben ohne alle Freude - aber doch in behütendem Elternhause, nicht so furchtbarer Trennung und Gefahr preisgegeben.
In die Auswanderung nach Schweden, gelänge sie, - obwohl sie auch dann noch keine endgültige Lösung darstellt -, haben wir drei ja nun auch innerlich eingewilligt, ja, hof- I fen auf sie als letzte irdische Hoffnung. -
Der Abend brachte eine kleine Abwechslung für Renerle, obwohl auch solcher Abendbesuch nur in unserer Begleitung sich wagen läßt. Nachdem ich früh auf dem Wege Frau Foelsche zum Geburtstag einbeschert hatte, was wir für Heinz in seinem Auftrag besorgt hatten, waren wir des Abends bei ihr in ihrem hübschen Häuschen. Als Reiterin ist sie ja Renerle besonders verbunden, obwohl ja auch diese Gespräche, nun es für sie aufgehört hat, sehr schmerzlich für Renerle sind. Waren auch gesinnungsmäßig ordentliche Leute da, saß man auch bei Wein und einer Schallplatten (leider)-Sinfonie am Kaminfeuer, sah Hanni auch besonders schön aus - für sie und mich war solch belanglose, dabei mühsame Konversation doch recht qualvoll und für das Kind nach seinem Dienst zu anstrengend. Wir gehören eben einfach nicht mehr zu alledem.
Immer wieder muß ich mich fragen; Bedeutet der beharrliche Wunsch zu sterben einen „Bruch“ im Glauben, einen Bruch mit Gott? Und immer wieder, ohne etwas zu beschönigen, muß ich sagen: Nein. Denn was auf Erden war mir mehr als das Evangelium? Was auf Erden habe ich mehr geliebt, verehrt, an was mich mehr gebunden gefühlt, an was mehr geheftet als an alles, was Glaube und Kirche heißt? So ist es auch bei Hanni. Und bei Renerle fordert, in aller Schwere der Erfahrungen und so auch dem Ernst ihres Glaubens, ihre Jugend ihr Recht. Das quält so. -