Vermerk des Reichsinnenministeriums zur jüdischen Massenauswanderung
Besprechung im Reichsinnenministerium am 18. Oktober 1937 über die jüdische Massenauswanderung:
Vermerk über die Besprechung am 18. Oktober 1937.
Den Vorsitz führte Ministerialdirigent Geheimrat Hering.
Zunächst gab der Direktor der Reichsstelle für das Auswanderungswesen einen Überblick über den Gesamtumfang der jüdischen Auswanderung seit 1933, über die Auswanderung nach Palästina und über den augenblicklichen Umfang der jüdischen Auswanderung: Danach kann die Gesamtzahl der jüdischen Auswanderer mit etwa 105 000 angegeben werden, von denen etwa V} Palästina als Zielland gewählt haben. Im Verlauf des letzten Halbjahres ist ein starker Rückgang der jüdischen Auswanderung festzustellen. Die Gründe dafür liegen in den Widerständen, die eine große Anzahl von Ländern der jüdischen Auswanderung entgegensetzen, ferner in den Unruhen in Palästina, in der Erweiterung der sogenannten negativen Liste des Haavara-Verfahrens und schließlich auch in dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands. Es wird darauf zu sehen sein, den Auswanderungswillen der Juden in Deutschland durch innerpolitische Maßnahmen zu erhalten. Allerdings wird man sich darüber im Klaren sein müssen, daß solche Maßnahmen in erster Linie die reichen Juden zur Auswanderung bringen werden, während die nicht vermögenden Juden in noch größerem Umfang als bisher der Fürsorge zur Last fallen werden.
Nach einer kurzen Darstellung des Haavara-Verfahrens durch den Vertreter der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung wurde in die Erörterung über den gegenwärtigen Wert des Haavara-Abkommens eingetreten. Die eingehende Aussprache hat zu dem Ergebnis geführt, daß bei dem starken Rückgang der jüdischen Auswanderung nach Palästina die Nachteile des Abkommens seine Vorteile so sehr überwiegen, daß vom Standpunkt der innerdeutschen Judenpolitik aus ein Interesse an dem Abkommen nicht mehr besteht und es nicht mehr gerechtfertigt erscheint, das Abkommen weiterhin aufrecht zu erhalten. Diesem von dem Vorsitzenden für das Reichsministerium des Innern eingenommenen Standpunkt haben sich die Vertreter des Auswärtigen Amts und des Stellvertreters des Führers einschließlich der Auslandsorganisation der NSDAP angeschlossen. Von den Vertretern des Wirtschaftsministeriums und des Preußischen Ministerpräsidenten wurde allerdings betont, daß das Haavara-Abkommen auch jetzt noch - devisenmäßig gesehen - der billigste Weg sei, um jüdische Auswanderung zu ermöglichen. Übereinstimmung bestand darüber, daß entsprechend der bereits früher getroffenen Entscheidung des Führers und Reichskanzlers weiter auf die möglichst umfassende Auswanderung der Juden hinzuarbeiten ist. Auch soll der bisherige Grundsatz, die Durchführung der Auswanderung den Juden zu überlassen, bestehen bleiben. Eine unmittelbare staatliche Organisierung der jüdischen Auswanderung soll also nicht einsetzen, dagegen ist eine staatliche Mitwirkung bei der Auffindung neuer Zielländer für die jüdischen Auswanderer erforderlich. Diese Frage wird vom Auswärtigen Amt weiter verfolgt werden. Im übrigen wird mit der Einschränkung oder dem Wegfall des Haavara-Verfahrens Palästina als Zielland nicht ganz wegfallen, denn auch bisher haben von der Gesamtzahl der jüdischen Auswanderer nach Palästina nur 37,8 % das Haavara-Verfahren in Anspruch genommen (Kapitalisten), während der größere Teil auf Arbeiter-Zertifikate dort eingewandert ist. Diese Möglichkeit wird nach wie vor bestehen bleiben. Übereinstimmung bestand auch darin, daß die Bereitstellung von Devisen zur Förderung der jüdischen Auswanderung bei der jetzigen Lage der Devisenwirtschaft nur im allerbeschränktesten Umfang in Frage kommen kann, weil die lebenswichtigen Interessen des deutschen Volkes dem Interesse an der jüdischen Auswanderung vorgehen müssen. Es wird daher in erster Linie darauf auszugehen sein, die Auswanderung der unbemittelten Juden zu fördern. In dieser Hinsicht kommt vor allem die handwerkliche und landwirtschaftliche Ausbildung und Umschulung jüngerer Juden in Betracht. Die Einrichtung der notwendigen Schulen und Lager soll wie bisher den Juden überlassen bleiben. Ihnen sollen jedoch von Staat und Partei keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden. Der Vertreter des Stellvertreters des Führers erklärte sich bereit, in diesem Sinn auf die örtlichen Parteidienststellen und die Organisationen des Handwerks einzuwirken. In Anbetracht des Mangels an jüdischen Lehrlingsstellen und mit Rücksicht darauf, daß deutschen Betriebsinhabern die Ausbildung jüdischer Lehrlinge nicht zugemutet werden kann, sagten die Vertreter des Wirtschaftsministeriums eine Prüfung der Frage zu, inwieweit die Zulassung jüdischer Gewerbetreibender zur Ausbildung jüdischer Lehrlinge erweitert werden kann. In allen Fällen soll Vorsorge gegen die Möglichkeit getroffen werden, daß die ausgebildeten oder umgeschulten Juden ihr Gewerbe später in Deutschland ausüben. Außerdem bestand Übereinstimmung, daß auch der Errichtung von Sprachschulen zur Vorbereitung der jüdischen Auswanderer keine Schwierigkeiten bereitet werden sollen. Das Reichsministerium des Innern wird wegen dieser Frage an das Erziehungsministerium herantreten. Die Vertreter des Hauptamts Sicherheitspolizei erklärten sich bereit, eine Änderung der Bestimmungen über die Behandlung jüdischer Rückwanderer zu erörtern in dem Sinn, daß solchen Juden, die als Lehrer, insbesondere als Sprachlehrer an jüdischen Auswanderer-Schulen tätig werden sollen, die Einreise nach Deutschland in geeigneten Fällen gestattet werden soll.
Von den Vertretern der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung wurde angeregt, diejenigen Juden, die als Kapitalisten auswandern, zu veranlassen, jeweils eine gewisse Zahl armer Juden mitzunehmen. Dem wurde zugestimmt.
Anerkannt wurde, daß die Reichsfluchtsteuer auswanderungshemmend wirkt. Dazu teilten die Vertreter der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung mit, daß im Finanzministerium zurzeit eine Lockerung der Reichsfluchtsteuer geprüft wird. Der Stichtag für die Höhe des Vermögens soll von 1933 auf 1935 verlegt werden. Außerdem wurde vom Reichsministerium des Innern angeregt, auch eine Ermäßigung der Schenkungssteuer für Zuwendungen ausländischer Juden zur Förderung der jüdischen Auswanderung zu erwägen, da diese Steuer schenkungshemmend wirkt. An möglichst hohen Zuwendungen aus dem Ausland besteht jedoch ein Interesse. Das Reichsministerium des Innern wird in diesem Sinne an das Finanzministerium herantreten. Der Vertreter des Stellvertreters des Führers stellte seine Zustimmung für diese steuerrechtlichen Neuerungen in Aussicht. Übereinstimmung bestand auch darin, daß sich die Regelung der Paßausstellung an Juden nicht auswanderungshemmend auswirken soll. Die Vertreter des Hauptamts Sicherheitspolizei sagten eine nochmalige Überprüfung der bereits seit längerer Zeit in Vorbereitung befindlichen Vorschriften in diesem Sinne zu. Die Veröffentlichung dieser Vorschriften wird beschleunigt betrieben werden.