Zeitungsbericht über Verfolgung und Bestrafung von „Rassenschande“
Am 28. Januar 1937 berichtet die „Pariser Tageszeitung“ über die Praxis der Verfolgung und Bestrafung von „Rassenschande“-Fällen in Deutschland:
Ein Jahr „Blutschutz“-Justiz...
Todesstrafe für „Rassenschande“. Neue „Blutschutzkammern“ als Ausnahmegerichte gegen die Juden. Die genaue Zahl der Gesetzes-Opfer des ersten Jahres
Als vor einigen Wochen das eine Jahr um war, in dem, in Verfolg der „Nürnberger Gesetze“ von 1935, der „deutsche Blutschutz“ durch die Justiz praktisch durchgeführt wurde, sind zum ersten Mal genaue Ziffern über die Zahl der - in fast allen Fällen – jüdischen Opfer dieses Rassewahns bekanntgegeben worden. Das Reichsjustizministerium selbst informierte die juristisch interessierte Welt innerhalb seiner Reichweite, dass bis zum Stichtag, nämlich dem 25. November 1936, insgesamt genau 299 rechtskräftig abgeurteilte „Rassenschande“-Fälle ihm bekannt geworden seien, weitere 125 Fälle schwebten ferner bereits bei den zuständigen Gerichten. Nicht eingerechnet in diese einjährige „Ausbeute“ seien aber alle die Fälle, die sich am genannten Tag erst im Vorstadium der polizeilichen oder staatsanwaltlichen Recherchen befanden.
Dieser reichsamtliche Zahlenaufschluss deckt sich ungefähr mit den Angaben des letzten (Dezember-)Monatsberichts des emigrierten Vorstands der Deutschen Sozialdemokratischen Partei, der etwa 100 Fälle mit genauen Namen der Verurteilten und Ortsangaben der Gerichte nennt, und zwar solche Fälle, die nur in den letzten vier Monaten in Prag bekannt geworden sind.
Bei allen diesen Aburteilungen wegen „Rassenschande“ bewegten sich die Urteile durchschnittlich zwischen ein und zwei Jahren Gefängnis oder Zuchthaus. Besonders harte Urteile, die freilich nicht selten sind, lauteten auf drei Jahre Zuchthaus, die ganz „milden“, dafür aber um so selteneren, auf vier oder sechs Monate Gefängnis.
Widerstrebende Richter
Gerade anlässlich dieses Ein-Jahres-Jubiläums des hitlerdeutschen gerichtlichen „Blutschutzes“ kam es an den Tag, wie wenig die Entwicklungen innerhalb dieses abscheulichsten aller Neo-Barbarismen bereits als abgeschlossen gelten können, und welch wahrhaft „ungeahnte Möglichkeiten“ sich hier das nationalsozialistische Regime gegen eine - zum Teil - aus Selbsterhaltungstrieb renitente und mindestens passiv resistente Gerichtsbehördlichkeit noch vorbehält. Dieses eine Jahr nämlich, in dem der „Blutschutz“ durch den Talar praktiziert wurde, war, gerade wenn man den nervösen und aufgeregten innerdienstlichen Aeusserungen des Reichsjustizministeriums zur Sache genauer folgt, eigentlich ausgefüllt durch einen harten und zähen Kampf zwischen der obersten Justizbehörde unter dem unmittelbaren Antrieb des „Führers“ selbst und seiner hohen Fachmandatare, wie des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium, „Staatsrats- und Reichstagsabgeordneten“ Roland Freisler einerseits, die fortwährend und unermüdlich auf die Verschärfung des nun schon einmal hergerichteten „Rechts“-Zustands drängten, und andererseits den unteren Justizdienststellen, vor allen den Richtern selbst, die aus Selbstachtung, aus Rücksicht auf die Volksstimmung, die sie vor allem in den westlichen Grosstädten umgibt, und sicherlich noch aus manchem anderen guten Grund eher das Gegenteil zu realisieren trachteten. Schon nach kaum viermonatiger „Blutschutz“-Gerichtsbarkeit, am 2. April 1936 bereits, verfügte ein Runderlass des Reichsjustizministers Gürtner an alle Staatsanwaltschaften, dass „nunmehr die Uebergangszeit vorüber“ sei. Weiter hält sich diese Dienstanweisung ausdrücklich bei der Praxis der Gerichte auf, da, wo das „rassenschänderische“ Verhältnis bereits vor Erlass der Nürnberger Gesetze angeknüpft gewesen sei, generell Milde walten zu lassen; das erscheine jetzt „unter keinen Umständen mehr angängig“. Die Rundverfügung schliesst mit dem drakonischen Befehl: „Alle Durchschnittsfälle sind zuchthauswürdig!“
Im Verlauf des Jahres 1936 ist dann diese „Dressur auf den Mann“, wie sie Hitler und sein Freisler und wohl auch der Reichsjustizminister Gürtner selbst, vor allem aber auch die lokalen Nazistellen betreiben, die ja in den meisten Fällen selbst als Denunziatoren gegenüber den „Rassenschändern“ auftreten, angesichts der offenkundigen passiven Resistenz innerhalb der deutschen „Reichswahrerei“ weiter gegangen, und zwar in immer unzweideutigeren Formen, die auch vor massiven Drohungen gegenüber der „Justizreaktion“ nicht zurückschreckten. Ein eigenes Ministerial-Rundschreiben ordnet zum Beispiel an, was zu unternehmen ist, wenn „das Pärchen sich zur Begehung seiner Tat ins Ausland begeben hat“, also ein „typischer Versuch der Umgehung der Gesetze“ vorliege, was vor allem die Grenzgerichte zu beschäftigen habe.
Ein letzter Runderlass des vergangenen Herbstes bemängelt dann sogar höchst abfällig die „durch nichts begründeten auffallenden Unterschiede der Strafhöhe in den verschiedenen Gebieten des Reichs“. Er verfügt aber auch gleichzeitig das, was dem ungeheuerlichen Sachverhalt zur Stunde das neue Gepräge gibt, das auch die Zukunft noch charakterisieren wird:
In allen grösseren Städten des Reichs sind nunmehr durch diese Ministerialverfügung besondere „Blutschutzkammern“ - so der amtliche Ausdruck! - bei den Landgerichten eingerichtet worden. Jede „Blutschande“ kommt also jetzt vor ein Ausnahmegericht!
Das war die - bisher - letzte Antwort des Regimes auf die Erscheinung, dass es hier doch immerhin auf einen letzten Rest von Rechtsmoral innerhalb seiner Juristenwelt, auf ein verhalten-vorsichtiges Sich-Aufbäumen des letzten Anstands der äusserlich „Gleichgeschalteten“ stiess. Auf jeden Fall hat sich auf diese Weise die Lage für die vom Gesetz hauptsächlich betroffenen Juden erheblich verschlimmert.
Vor neuer Verschaerfung
Das geht auch aus folgendem hervor: In einer ihrer letzten Sitzungen hat die sogenannte „Strafrechtskommission“, die jetzt unter dem Vorsitz des schon genannten Staatssekretärs Freisler steht, ausdrücklich beschlossen: „Mit Rücksicht auf die Fortdauer der Rassenschande in Deutschland ist eine Verschärfung des bisherigen Strafrahmens vorzunehmen.“ Nun geht aus dem halbamtlichen Kommentar zu diesem Beschluss, den Freisler selbst in der von ihm geleiteten Fachzeitschrift „Deutsches Strafrecht“ jetzt gibt, hervor, unter welcher Betrachtungsweise die Kommission zu diesem Beschluss gekommen ist, so dass sich daraus auch alle logischen Folgerungen eben über die Höhe des geplanten verschärften Strafmasses ergeben. Die „Rassenschande“ soll nunmehr unter den von Hitler ins strafrechtliche Denken erst eingeführten, reichlich konfusen Komplex des „Volksverrates“ Einreihung finden. Die Konfusion hindert allerdings nicht, dass dieser Komplex mit dem Begriff des „Landesverrats“ verkoppelt wurde. Auf Landesverrat wie Volksverrat steht im Hitlerreich bei erschwerenden Umständen die Todesstrafe. „Rassenschande“ würde dann als ein erschwerter Fall von „Volksverrat“ angesehen werden.
Zuneigung ist keine Zuneigung
Prozessual hat sich jetzt jeder angeklagte jüdische „Rassenschänder“ vor einem Ausnahmegericht zu verantworten. Es ist das mit fast völliger Rechtlosigkeit für ihn als Angeklagter verbunden. Wie soll man es sonst nennen, wenn eben jener mächtige Freisler für zwei verschiedene Arten der Selbstverteidigung des Angeklagten folgende Generalanweisungen an die Gerichte gibt:
1. Es tritt der Fall ein, dass der angeklagte Jude behauptet, er habe nicht aus Leidenschaft, sondern aus Zuneigung gehandelt, also ein menschlich anständiges Motiv als mildernd für seine Missetat geltend machen will. Freisler belehrt da folgendermassen die zuständigen „Blutschutzkammern“: „Solche „Zuneigung“ ist nach allein massgeblicher Auffassung des Gesetzgebers (!) unnatürlich. Sie ist also keine Zuneigung. Die Feststellung, dass ein Dauerverhältnis vorliegt, erscheint daher immer als Strafverschärfungs- und nicht als Strafmilderungsgrund. „
2. Der angeklagte Jude behauptet zu seiner Entlastung, er habe nicht aus Zuneigung, sondern wirklich aus Leidenschaft, etwa in einem leichtsinnigen Akt mit einer Prostituierten, so gehandelt. Für diesen Fall hat nach Freisler das Ausnahmegericht folgende Dienstanweisung zu befolgen: „Mögen die Staatsanwaltschaften und Gerichte verhindern, dass der Rassenschandeprozess auf dem Rücken der missbrauchten deutschen Frau ausgetragen wird. Mögen die Gerichte daran denken, dass kaum etwas widerlicher ist, als dem Juden, der die deutsche Frau geschändet hat, auch noch zu gestatten, zu Zwecken des Beweises ihrer Unglaubwürdigkeit als (meist einzige Belastungs)-Zeugin in ihrer Vergangenheit herumzuwühlen, um etwas zu finden, das man ihr anhängen kann.“