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Chronik und Quellen
1936
Dezember 1936

Bericht von über Kleinstadtleben

Walter Gottheil erzählt von seinem Leben in einer deutschen Kleinstadt im Jahr 1936:[1]

Das Jahr 1936 kam heran. Schon drei Jahre hatte Hitler das Regiment in Deutschland in der Hand. Die Nürnberger Gesetze waren erschienen. Sie bedeuteten für viele Juden eine ausserordentlich scharfe Maßnahme. Ich fiel eigentlich gar nicht darunter. Denn unsere Religionsgemeinde, zu der wir korporativ steuerlich veranlagt wurden, lag in einer benachbarten größeren Stadt. Die Juden unseres Ortes wollten aber einen eigenen Kultus sich ermöglichen und hatten darum eine Religionsgesellschaft gegründet. Um Doppelbesteuerung zu vermeiden, waren sie aus der offiziellen Religionsgemeinde, also richtig durch eine Erklärung vor dem Amtsgericht, ausgetreten. Wegen religiöser Bedenken, so wurde es genannt. Nun waren jene alle nach den Nürnberger Gesetzen Volljuden, weil sie trotz der offiziellen Dissidenteneigenschaff (sie fühlten sich trotzdem als Juden) zwei jüdische Elternteile hatten.

Ich dagegen hatte einen arischen Eltern- und zwei arische Großelternteile, war also ein Mischling ersten Grades. Ich hätte also eine Sonderbehandlung für mich haben können, was eine Trennung von der Familie bedeutet hätte. Ich kenne leider auch solche Fälle, in denen das gemacht wurde. Ich kenne aber auch genug arische Frauen, die mit ihren jüdischen Männern in die Fremde hinauszogen, und lieber das Schwerste auf sich nahmen, als sich diesen Bestimmungen zu fügen.

Ja es gab verschiedene Menschen auch im deutschen Volk, wie in jedem anderen schließlich auch. Wir haben mit unserem Nachbarn über dreißig Jahre lang gemeinsam die Butter aus Schleswig-Holstein, einem Butterversandgebiet bezogen. Die Butter fing an knapp zu werden. Göring’s Wort „Kanonen sind wichtiger als Butter“ kam auf. Was machte nun unser Nachbar. Als die Wochenpakete anfingen kleinere Quantitäten zu liefern, schloß er uns einfach von der weiteren Verteilung aus; die Erhöhung seiner Butterration wurde mit nationalpolitischen Gründen verteidigt. Mit den Juden konnte man alles machen, das kam allmählich immer mehr in die Köpfe der deutschen Bevölkerung. Sie verurteilten natürlich dies und jenes, was andere taten, aber wenn es ihren Eigennutz betraf, da haben sie weidlich dieses Motto für sich ausgenutzt. Am Anfang des nationalsozialistischen Regimes hieß es immer groß, nach Punkt 24 des Programms „Gemeinnutz vor Eigennutz“, später ist es recht still auch um diesen Punkt geworden.

Auch in der Familie mußte ich wieder den Einfluß der antisemitischen Losungen spüren. Mein Junge ging in die Quarta der höheren Schule. Fast die ganze Klasse war in der H.J., der Hitlerjugend, vereinigt. An Schulausflügen konnte er schon nicht mehr mit teilnehmen. Beim gemeinsamen Schwimmen mußte er zwar, da es die Unterrichtszeit war, anwesend sein, aber ausziehen und mitschwimmen, das durfte er nicht; das Wasser des großen Flusses konnte durch den kleinen Judenjungen scheinbar gesundheitsschädlich werden. Spötteleien und Anremplungen blieben nicht aus, diese wurden immer schlimmer, die Seelen der Kinder antisemitisch immer vergifteter, bis er eines Tages während des Unterrichts heimkam, und unter einem Strom von Tränen erklärte, lieber sterben zu wollen, als dies noch ertragen zu müssen. Was war zu tun? Schulpflicht bestand noch, in einer benachbarten Großstadt war zwar eine jüdische Schule, die aber wegen Überfüllung keine Schüler mehr aufnahm. Ich mußte also den schweren Gang zur Schule antreten und dort um Abhilfe ersuchen. Abhilfe von was? Von etwas, das der Staat jeden Tag seinen Volksgenossen als die wichtigste Tat des Lebens befahl. Ich muß allerdings ehrlich bemerken, daß die meisten Schulleiter, die ja noch aus der alten Zeit stammten, den Mißhandlungen und Anpöbelungen jüdischer Schüler den schärfsten Widerstand entgegensetzten. Die meisten sage ich ausdrücklich, nicht alle! Wir hatten Glück. Es wurde uns Abhilfe und Bestrafung der Schuldigen bei Wiederholung zugesagt. Ja, einer der Lehrer, ein alter konservativer, königstreuer Herr, hat die Schüler noch einmal besonders ermahnt, niemand seines Glaubens wegen zu schädigen und zu verachten. Mir war trotzdem die ganze Sache leid; in zwei Monaten war Ostern, ich nahm den Jungen zu diesem Termin aus der Schule und schickte ihn in ein landwirtschaftliches Lehrgut in der Nähe Berlins.

Ich kenne andere Beispiele, von Eltern und Kindern, die keine so guten Erfahrungen gemacht haben. Die Haltung der Bevölkerung war, wie auch der Behörden, immer uneinheitlich. Das konnte man so recht in der Behandlung der aus Polen stammenden Juden sehen. Das Dritte Reich brauchte Freunde, und die fand es im polnischen Staat. Die Freundschaft Polens mit Deutschland kam nun dessen Staatsangehörigen im Reich zugute. Und dies waren fast nur Ostjuden; jene Ostjuden, Galizier, Planjes und Pollacken, zu deren Bekämpfung soviel oratorische Kraft aufgewendet worden war. Die Ostjuden haben dieses Privileg auch weidlich ausgenutzt und auch diejenigen entpuppten sich als solche, die vorher immer ihre Herkunft verleugnet hatten. Man trug das rot-weiße Bändchen mit dem weißen polnischen Adler stolz im Knopfloch. Und wie vorher die Mehrzahl der deutschen Juden es nicht zugeben wollte, daß auch in Deutschland einmal der Antisemitismus ihnen zu schaffen machen werde, so glaubten nun umgekehrt die polnischen Juden, sie wären die allein Gesicherten. Welche schmähliche Enttäuschung sollten aber gerade sie erleben. In den ersten Jahren der Hitlerregierung hatten sie es gut. Zwar wurde ihnen das Leben auf den Jahrmärkten, einer geschäftlichen Domäne von ihnen, wie ich schon einmal schrieb, schwer gemacht, aber sie blieben doch. Ausschreitungen erfolgten. Die Ware wurde aus den Ständen gerissen, mit den Füssen zertrampelt, in die Gossen geworfen, die Buden kurz und klein geschlagen. Ein Anruf beim nächsten polnischen Konsul genügte. Die Ruhe wurde wieder hergestellt, die Gemeinde leistete vollen Schadensersatz. Nur nichts nach oben dringen lassen. Hitler ließ sich in seinen ersten Regierungsjahren die polnische Freundschaft etwas kosten. Ich kannte einen Schwerkriegsbeschädigten jüdisch-polnischen Markthändler, der im Weltkrieg als österreichischer Soldat, seine Heimat war Galizien, seine Verwundung als Bundesgenosse davongetragen hatte. Diesem Mann wurde die Plane seines Standes zerschnitten und auch sonst wurde ihm schwer zugesetzt. Auf Vorstellung bei der Polizei wurde ihm folgender Vorschlag gemacht, auf den er auch einging. Er solle seinen Stand aufgeben, da sind die ändern arischen Händler zufrieden, man wird ihm eine anständige Unterstützung aus Wohlfahrtsmitteln zahlen, er kann leben. Alle sind zufrieden. Aus! Ein Jahr später pfiff es schon anders. Da hat man bei einem Betrieb, der Rohstoffe aufkaufte, alle Lieferer zusammengetrommelt und ihnen erklärt, daß sie ihre Gewerbescheine entzogen bekommen, wenn sie dem Juden noch etwas liefern. Da wars auch aus, nämlich mit dem Juden, aber weniger schmerzlich.

Allmählich belebte sich das Bild der deutschen Städte, mit etwas, was den Deutschen, sei er jung oder alt, immer wieder mit Begeisterung erfüllt - mit Militär. Jeder Deutsche ist ein geborener Soldat, nicht nur die Männer oder Knaben, auch Frauen und erst recht die weibliche Jugend schwärmt dafür, und wenn eine Militärkapelle kommt, marschieren alle Geschlechter unterschiedslos im strengen Marschtakte mit. Der Bau der Kasernen, der dazu gehörigen Verwaltungsgebäude, alles dies trug zu einem merklichen geschäftlichen Aufschwung bei. Man konnte dies auch an der steigenden Anzahl der Kraftwagen merken.

Nur mein Ladenmieter, der entweder die Zeit verschlief oder glaubte, den Juden eins auszuwischen, war unzufrieden und quälte mich dauernd mit einer Herabsetzung der Miete. Ich nehme an, er hat geglaubt, einmal, wenn er erst im Haus sitzt, wird er das Haus über nehmen, und nun ging ihm als alten Pg., Parteigenossen, die Entwicklung zu langsam. Jedenfalls versuchte er alles Mögliche. Er meldete mich bei der Polizei, wegen Mietwucher, wurde aber abgelehnt. Dann wieder beim Mietseinigungsamt. Auch ohne Erfolg, dann kamen die Instanzen der Partei; ich wurde vorgeladen und einmal wurde mir von einem Manne entgegengehalten, ich solle doch nachgeben, weil ich als Jude doch nicht Recht bei Gericht bekäme. Ich wies dieses Ansinnen entrüstet zurück und sagte ihm, ich hätte mir diese Behauptung nicht erlauben dürfen. Aber diese dauernden Belästigungen machen mürbe, und das war ja auch schließlich der Zweck.

Viele der früheren Bekannten profitierten von dem Aufblühen. Manche fanden Anstellung, oder ihre Kinder; kurz jede Bindung an das Regime veranlaßte wieder einen mehr, uns auf der Strasse nicht mehr zu grüßen, und so viele Kleinigkeiten dazu. Viele Juden zogen weg. Auch uns war der Aufenthalt verleidet. In kein Dorf der Nachbarschaft konnten wir mehr gehen, überall wurden wir durch Schilder begrüßt: „Juden unerwünscht“, „Juden ist der Zutritt verboten“, „Für Juden ist kein Platz hier“ und welche Nuancen es alles noch gab.

Die alte Heimat, in der ich geboren, fast fünfzig Jahre gelebt, geachtet und angesehen, in der ich Freud und Leid erlebte, mit der ich gelebt, gefühlt und gedacht hatte, die hatte keinen Platz mehr für mich und die Meinen, wir waren überflüssig geworden. Wir lösten unsere Wohnung [auf], machten es wie so viele Juden, die ihre Wohnungseinrichtung verschleuderten, der erste Vier jahresplan war bald um, er vertrieb uns aus unserem bisherigen Domizil, wir zogen nach Berlin.

Fußnoten

[1] Der Kaufmann Walter Gottheil (*1888) emigrierte Ende 1938/Anfang 1939 mit seiner Ehefrau und seinem sechzehnjährigen Sohn nach Palästina.

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