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Chronik und Quellen
1936
Oktober 1936

Artikel der „Pariser Tageszeitung“ über Verdrängung deutscher Juden

Am 11. Oktober 1936 berichtet die „Pariser Tageszeitung“ über die Verdrängung deutscher Juden aus dem Wirtschaftsleben:

Geschäfts- und Immobilien-Raub wird organisiert Neue Periode der Judenverfolgung

Ein Sonderberichterstatter der Jüdischen Telegraphen-Agentur, der in den letzten Wochen in Deutschland geweilt hat, konnte feststellen, dass die Befürchtungen, dass der letzte Nürnberger Parteitag der NSDAP eine neue Periode der Verfolgung der Juden in Deutschland einleiten wird, sich bewahrheitet haben. In vielen grösseren und kleineren Provinzstädten wurden die jüdischen Inhaber von Unternehmungen, die Arbeiter in grösserer Zahl beschäftigen, von den örtlichen nationalsozialistischen Führern aufgefordert, ihre Betriebe an Arier abzugeben; für den Weigerungsfall wurden einschneidendste Massnahmen angedroht. Eine Reihe jüdischer Geschäfts- und Betriebsinhaber wurde sogar ohne vorhergegangene Warnung von der Gestapo verhaftet.

Diese Aktion geht von der Deutschen Arbeitsfront aus, deren Funktionäre die Inhaber und Leiter jüdischer Unternehmungen der Reihe nach aufsuchen und ihnen dringend nahelegen, die Geschäfte und Betriebe aus ihren Händen zu geben. Die Funktionäre er klären dabei, dass noch während des Nürnberger Parteitages an alle Mitglieder der Arbeitsfront die Instruktion erging, ihren Feldzug gegen die jüdischen Handels- und Produktionsunternehmungen zu erneuern und u. a. Boykottposten vor jedes jüdische Geschäft zu stellen; gegen Arier, denen es etwa einfallen sollte, in jüdischen Geschäften zu kaufen, sollen die schärfsten Disziplin- und sonstigen Druckmassnahmen ergriffen werden. Bevor jedoch diese neue Boykottaktion sich voll entfaltet, mögen die Funktionäre der Arbeitsfront die jüdischen Handels- und Industrie-Unternehmungen auffordern, „auf stille Weise“ ihre Tätigkeit zu liquidieren und die Geschäfte und Betriebe an Arier abzugeben.

Unter den bereits verhafteten jüdischen Unternehmern befindet sich der Direktor der Bielefelder Textilwarenfabrik Katz und Michel, Sigmund Heymann. Er wurde von Gestapo-Beamten mit der Begründung verhaftet, dass er die Deutsche Arbeitsfront „verhöhnt habe, indem er am jüdischen Versöhnungstage die Fabrik, die über 100 Arbeiter beschäftigt, anderthalb Stunden früher als gewöhnlich habe schliessen lassen.“ In Wirklichkeit aber bedeutet die Verhaftung eine Druckmassnahme, um das Uebergehen dieser Gesellschaft in arische Hände einzuleiten. Der Berliner „Angriff ‘ spricht seine Genugtuung über die Verhaftung Heymanns aus, der angeblich die „Frechheit“ hatte, in Gegenwart von Funktionären der Arbeitsfront sitzen zu bleiben.

Parallel mit der neuen Aktion gegen die Juden in Handel und Industrie wurde - unter Ausnutzung der Misstimmung wegen der wachsenden Lebensmittelknappheit - der Feldzug zur Ausschaltung der Juden aus dem Lebensmittelhandel erneuert. Mehr als 2000 jüdische Fleisch-, Fett- und Eier-Händler wurden in den letzten zwei Wochen durch das Reichsamt für Nahrungsmittelversorgung zur Liquidation gezwungen. Allein in Berlin wurden mehr als 50 jüdische Getreidefirmen, von denen einige seit mehr als einem Jahrhundert am Platze sind, zur Liquidierung gezwungen. In der Provinz wurden jüdische Lebensmittelgeschäfte von der Belieferung mit Fleisch, Butter, Fett und Eiern zum Detailverkauf ausgeschlossen.

Wie der Sonderberichterstatter der Jüdischen Telegraphen-Agentur weiter erfährt, ist zwar ein Sondergesetz über ein Verbot des Besitzes von Immobilien (Haus- und Grundbesitz) durch Juden vorderhand nicht zu erwarten; allein das gegenwärtig von der Regierung in Beratung gezogene Projekt betreffend Immobilienbesitz werde solche Durchführungsbestimmungen erhalten, die den Behörden die Handhabe bieten, den Juden die in ihrem Besitz befindlichen unbeweglichen Güter wegzunehmen. Das Reichswirtschaftsministerium hat sich gegen dieses Gesetzprojekt ausgesprochen und daraufhingewiesen, dass der Staatsschatz durch den Verlust einer grossen Reihe jüdischer Steuerzahler stark in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Andere Ministerien jedoch stehen unter dem Einfluss der extremen Nationalsozialisten, die auf einer Beschlagnahme der Immobilien von Juden bestehen. Es scheint, dass diesen Extremisten gewisse Konzessionen gemacht werden müssen.

Inzwischen erfolgte in Franken, im Machtbereich Julius Streichers, die erste Massnahme nach der Richtung der Kontrolle des gesamten Immobilienbesitzes. Es wurde dort ein Amt zur „Regelung der Beziehungen zwischen Hausbesitzern und Mietern“ geschaffen, welches Vollmachten hat, die Höhe der Mieten in jedem einzelnen Falle zu bestimmen und auch darüber zu befinden, ob gewisse Personen ihre Häuser und Grundstücke vermieten dürfen und an wen. Schon diese Massnahme gibt den Behörden in Franken die Möglichkeit, jüdische Immobilienbesitzer zu zwingen, sich ihres Besitzes zu entledigen. Die jüdischen Kunsthändler in Berlin haben soeben von der Reichskulturkammer die Weisung erhalten, sich ihrer Bestände in kürzestmöglicher Zeit zu entäussern, da noch vor Ende des Jahres Juden der Handel in Kunstgegenständen verboten werden soll. Die „Essener National-Zeitung“, das Organ Görings, fordert, dass Juden der Handel mit Börsenpapieren verboten sein soll, weil die jüdischen Händler die Aktientransaktionen in der Weise beeinflussen, dass Aktien deutscher Unternehmungen, auch wenn sie eine durchschnittliche Dividende von 4 Prozent abwerfen, nicht gefragt werden, während die Nachfrage nach Auslands-Aktien, die nur 2 Prozent abwerfen, steigt.

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