Erinnerungen an das Pogrom in Köln
Ein anonymer Berichterstatter schildert seine Erlebnisse und Beobachtungen am 9. November 1938 in Köln:
„Am 9. November hatten wir Besuch zum Abendessen: einen deutschen Nichtjuden, der mit einer Amerikanerin verheiratet war. Er verabschiedete sich ungefähr um elf Uhr. Als wir ihn zur Haustür begleiteten, sahen wir, daß die Straße sehr belebt war. Es fuhren viele Lastwagen mit Männern in Naziuniform vorüber, und gegenüber, im Haus der Presse, war ein ständiges Kommen und Gehen. Unser Freund bot sich an, bei uns zu bleiben, für den Fall, daß wir Schutz brauchten, aber mein Mann hielt dies nicht für notwendig. Wir gingen nach oben zurück und räumten Obst und Zigaretten vom Tisch. Da hörten wir in der Nähe Schüsse fallen und sahen in der Entfernung Feuer brennen. Um dreiviertel zwölf schellte es an unserer Wohnungstür. Es war Frau B., die Frau des Besitzers eines jüdischen Restaurants, das sich einige Häuser von dem unsrigen entfernt befand. Sie suchte Behandlung und Zuflucht. In unklaren Sätzen berichtete sie, daß Nazihorden in ihr Haus eingedrungen waren. Ihr Mann hatte die Flucht ergriffen. Die uniformierten Männer hatten ihre große Kaffeemaschine umgestürzt; diese war auf sie gefallen, und sie war für einen Augenblick unter der Maschine zusammengebrochen. Als es ihr mit Hilfe ihrer Angestellten gelungen war, aufzustehen, hatte sie Wunden auf der Stirn, und mehrere Zähne waren ausgebrochen.
Mit ihr kamen ihre Köche, ein altes jüdisches Ehepaar, das irgendwo nahebei in einem dritten Stock wohnte. Nachdem mein Mann ihre Wunden verbunden hatte, erbot er sich, Frau B. zum Übernachten in die Wohnung dieser Leute zu bringen. Sie flehten uns jedoch an, sie bei sich zu behalten, und obgleich ich der Ansicht war, daß sie bei den anderen sicherer wären, stimmte ich zu.
Wir bereiteten ihr ein Lager auf einem Diwan in dem im Erdgeschoß befindlichen Sprechzimmer meines Mannes, stellten ihr etwas Obst und Wasser hin, zeigten ihr, wie sie uns im zweiten Stock am Haustelephon erreichen könnte und begaben uns nach oben. Kaum waren wir dort angelangt, als es heftig an unserer Haustür schellte. Ein Blick durch die Fenstergardinen zeigte uns, daß sich eine große Anzahl schwarz-uniformierter Männer vor unserem Haus ansammelte. Wir beschlossen, nicht zu öffnen. Kurz darauf wurde die schwere Haustür mit Schaftstiefeln eingetreten. Wir gingen daraufhin hinunter, um möglichst zu verhindern, daß sie alles beschädigten. In der Eingangshalle zählte ich 34 Männer in SS-Uniform, und trotz meiner entsetzlichen Angst konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß dies ein unübertreffliches Bild für einen Film über Nazigreuel abgeben würde. Die Szene steht mir noch immer lebhaft vor Augen. Der Führer der Gruppe fing an, Fragen zu stellen: als erstes, ob das Haus uns gehöre oder ob wir nur Mieter seien.
Die Männer kamen alle mit uns nach oben. Als sie an unserem Dachgarten vorbeigingen, traten sie ein, zerstörten alle Holzteile und die Glasfenster einer kleinen Hütte und nahmen die Gans, die ein Patient meinem Mann zum Martinstag geschickt hatte.
In unserer eigenen Wohnung öffneten sie einige Schränke, zerbrachen alles Porzellan und Glas, das sie fanden, sowie die Zierstücke in unserem Wohnzimmer.
Sie gingen wieder nach unten, aber ein Mann kam zurück und forderte uns auf, sie in die Arbeitsräume meines Mannes zu begleiten. Ich sehe noch das verängstigte Gesicht der Frau B. vor mir, als wir mit all den SS-Männern in das Sprechzimmer kamen. Sie gingen jedoch wieder hinaus, ohne etwas anzurühren. Inzwischen - es war kurz vor eins - war Frau B. sehr ängstlich über das Verbleiben ihres Mannes geworden, und obgleich ich dringend riet, bis zum frühen Morgen zu warten, bestand sie darauf, daß mein Mann bei ihrem Schwager anrief, um dort nachzufragen. Ihre Vermutung war richtig: ihr Mann war dort und wollte dort über Nacht bleiben, aber obwohl sie nicht selbst ans Telefon ging, konnte er hören, wie sie weinte und bat, er möge sofort kommen. Er ging also zu Fuß den ganzen Weg vom Rande der Stadt und kam gegen halb zwei Uhr früh bei uns an. Wir machten auch ihm ein Bett auf einem zweiten Diwan und gingen wieder nach oben. Da sahen wir, daß der Himmel ganz rot war - die Syngoge brannte. Wir legten uns auf die Betten, ohne uns auszuziehen. Es war natürlich ausgeschlossen, daß wir auch nur für einen Augenblick einschliefen.
Das nächste Mal kamen sie um halb vier in der Frühe. Diesmal waren es nur fünf Männer in SS-Uniform, zwei in Zivil. Niemals sonst sind mir menschliche Wesen vorgekommen, die so aussahen: ihre Augen waren weit offen, das Haar stand in der Höhe - der Ausdruck von Männern in Raserei.
Sie kamen mit uns ins Wohnzimmer, der Führer der Gruppe nahm eine Pistole aus dem Gürtel, richtete sie auf meinen Mann und kommandierte: „Raus aus dem Zimmer!" Sofort trat ich zwischen ihn und meinen Mann, so daß die Pistole auf mich gerichtet war, und sagte: „Sie können mit dem Mann da nicht allein sprechen, er ist schwerhörig; aber ich werde ihm weitergeben, was Sie zu sagen haben." Es folgte eine Minute ängstlicher Spannung. Er hätte uns beide auf der Stelle erschießen können, aber langsam, sehr langsam, ließ er seinen Arm und die Pistole sinken. Unsere sechzehnjährige Tochter mußte aufstehen und aus ihrem Schlafzimmer kommen. Dann machten sie sich daran, die Küchenschränke umzuwerfen und alles zu zerbrechen oder zu zerreißen, was in ihre Finger kam. Ehe sie fortgingen, wandte sich der Führer an mich: „ Was auch immer Sie diese Nacht hören werden: gehen Sie nicht hinunter - es würde Sie das Leben kosten." Wir blieben, wo wir waren. Ich hörte Schüsse, konnte nicht feststellen, woher sie kamen - und rührte mich nicht. Um sechs Uhr morgens ging mein Mann in das Badezimmer, um sich zu rasieren. Kurz danach kam unsere alte Köchin herunter - wir hatten für sie ein Zimmer am Eingang zum dritten Stock behalten - und erklärte, sie hätte es für klüger gehalten, während der Nacht nicht hinunter zu kommen, da sie fürchtete, man würde sie aus dem Hause weisen. Aber jetzt ging sie nach unten. „Vielleicht kann ich dem Herrn Doktor einen Schock ersparen." Sie kam zurück. Ihr Schritt auf der Treppe klang wie der einer sehr alten Frau. Sie setzte sich auf das Fußende meines Bettes: „Etwas Fürchterliches ist geschehen. Auf dem Teppich in Herrn Doktors Sprechzimmer liegt ein Toter und eine Frau, die schwer verwundet zu sein scheint, sitzt auf dem Teppich, mit dem Rücken an den Diwan gelehnt." Und so fanden wir sie auf.
Um sieben Uhr rief mein Mann die Polizei in unserem Bezirk an. „Ja, Herr Doktor. Wir wissen, daß schreckliche Dinge geschehen sind. Aber wir haben strikten Befehl, keine Anrufe zu berücksichtigen; wir können nichts tun." Verzweifelt rannte unsere Köchin auf die Straße und kam zurück mit einem Polizisten, der sagte, seine Frau sei einmal Patientin meines Mannes gewesen. Dieser Mann weinte von Herzensgrund und blieb während der ganzen schweren Prüfung dieses Morgens bei uns. Zunächst sorgte er telefonisch dafür, daß die Leiche des Herrn B. abgeholt wurde. Um acht Uhr wurde ein Sarg aus unserem Hause getragen. Dadurch entstand das Gerücht, daß mein Mann tot sei. Dann mußte ein Krankenhaus für Frau B. gefunden werden. Nach mehreren Ablehnungen setzte sich mein Mann mit Professor W. in der Städtischen Krankenanstalt in Verbindung, der sofort zusagte, daß er ihre Aufnahme veranlassen und sich selbst um sie kümmern würde. Um halb neun kamen drei recht unauffällig aussehende Männer im Auto bei uns an. Sie waren alle jung, trugen Regenmäntel und zeigten die Gestapoabzeichen vor, die sie unter ihren Aufschlägen trugen. Nach einem kurzen Verhör in der Eingangsdiele erklärten sie meinen Mann für verhaftet. Als er nach oben ging, um Mantel und Hut zu holen, begleiteten ihn zwei mit der Pistole in der Hand.
Die Männer erklärten mir sodann, ich sei ebenfalls verhaftet und müßte mit ihnen kommen. Ich sagte ihnen, ich müßte eine Tasse Kaffee haben und mich umziehen, niemand dürfe mit mir nach oben kommen; wieviel Zeit würden sie mir geben? 15 Minuten. Ich sagte zu meiner Tochter, sie solle zu unserem Nachbarn, Justizrat U., gehen und dort auf uns warten. Falls wir bis fünfzehn Uhr nicht zurück wären, sollte sie versuchen, einen Zug zu erwischen und zu meiner Mutter fahren.
Ehe ich in das Polizeiauto einstieg, stand der Polizist, der während dieser ganzen drei Stunden nicht von der Stelle gewichen war, stramm: „Frau A. hat sich heute morgen mit beispielhafter Selbstbeherrschung betragen. Ich hoffe, daß sie dementsprechend behandelt wird." Keine Antwort.
Wir fuhren schweigend in dem dunstigen Licht des Novembermorgens. Der Eingang zur Gestapozentrale im Oberlandgericht, am Flußufer*, war mir nicht neu. Ich war vor sechs Wochen dahin bestellt worden, weil ich einem unhöflichen SS-Mann, der mir bei meiner Rückkehr von England an der Grenze meinen Paß abgenommen hatte, wider¬sprochen hatte. Aber im Geiste höre ich noch den unheimlichen Laut der Türen dort; unwiderruflich fallen sie hinter einem zu; sie haben keine Klinken und können nur von den Gestapoleuten selbst mit besonderen Schlüsseln geöffnet werden.
Im Verhörzimmer nahmen sie gerade eine Jüdin vor, die im Augenblick meiner Ankunft ohnmächtig wurde. So kam ich also dran. „Frau A. wird nicht ohnmächtig werden, die kann etwas aushalten." „Ja", sagte ein anderer, „sie hat die typisch jüdische Frechheit." Ich sah ihn nicht einmal an, aber obwohl ich für meine schlechte Haltung bekannt bin, saß ich ganz aufrecht und beantwortete ihre dummen Fragen so kurz wie möglich. Die große Angst, die ich an jenem Morgen hatte, stellte sich als unnötig heraus; ich fürchtete nämlich, sie würden den Tod des Herrn B. meinem Manne in die Schuhe schieben. Aber weit entfernt davon: an dem Morgen war die Tötung eines Juden eine solche Kleinigkeit, daß sie nicht einmal versuchten, dafür einen Sündenbock zu finden. Ich wurde mit ein paar zynischen Bemerkungen über meinen Stolz entlassen.
Wo war mein Mann? Man konnte es mir nicht sagen. Jemand führte mich durch alle Zimmer, Korridore und Treppen, und dann stand ich auf der Straße. Es war ungefähr halb 10 Uhr. Das Licht war immer noch grau; es hatte begonnen, leicht zu regnen; es waren keine Leute da. Just ein paar Sekunden stand ich still. Das also war das Ende; so etwas war in unserem Jahrhundert möglich: kein Heim mehr, keine Arbeit, keine Bürgerrechte - alles war hin.
Ich ging zur Straßenbahnhaltestelle und fuhr nach Hause. Vor unserer zerbrochenen Haustür stand mein Mann, aschgrau im Gesicht. Ich werde nie den Ausdruck der Erleichterung auf seinen Zügen vergessen, als er mich sah. Wir standen einen Augen-blick in unserer Eingangsdiele, und ich sagte, wir müßten fort; es hätte keinen Sinn, Widerstand gegen diese Hunnen zu versuchen. In der gleichen Minute kamen sie an: eine große Menge, eine ganze Reihe Kinder darunter, keine Männer in Uniform - dieser Haufen war Abschaum der Menschheit. Ein Mann fragte, wo das Sprechzimmer meines Mannes sei und ob er die Absicht hätte, dort noch weiterhin Patienten zu behandeln. Er riet ihm, niemanden zu behandeln, sondern sofort wegzugehen, sonst würde man mit ihm verfahren, wie er es verdiene.
Wir gingen zur Hintertür, die wir öffnen konnten, weil ich den Schlüssel eingesteckt hatte. Wir wagten nicht in ein Taxi zu steigen, sondern gingen eine Strecke zu Fuß. Dann fuhren wir in einem Taxi zu Freunden, die in einem Vorort wohnten. Sie machten gerade Besorgungen in der Nähe. Als man sie zurückholte, fanden sie mich auf dem Rücken ausgestreckt vor; ich konnte mich nicht mehr auf den Füßen halten.
Am späten Nachmittag wagte es mein Mann, in die Stadtmitte zurückzugehen. Vor unserem Haus war ein riesiger Abfallhaufen, bewacht von SS-Leuten. Die ganze Einrichtung des Hauses hatte man vernichtet und das meiste zum Fenster hinausgeworfen. Ich ging erst am nächsten Nachmittag hin und kam gerade zur richtigen Zeit, um zu sehen, wie eine der Frauen den Staubsauger fortschleppte.
Wir betraten das Haus erst wieder nach einigen Tagen. Es war unfaßbar. Wie sie es fertiggebracht hatten, unsere zwei großen Bronzelampen, die an zwei schweren Bronzeketten hingen, herunterzunehmen, konnten wir uns nicht erklären. Alle Bilder -Werke deutscher Maler - waren in kleine Stücke gerissen. Alles Holz war in so kleine Teile zerhackt worden, daß man kein Möbelstück erkennen konnte.
Uns wurde bestellt, wir sollten eine Dame aufsuchen, die einige Häuser entfernt auf unserem Platz wohnte. Sie war die Witwe eines Notars, die ich nur vom Sehen kannte. Nach dreimaliger Aufforderung suchte ich sie auf und fand all unser Silber, fast alle unsere Teppiche und den großen Teil unseres Leinenvorrats in ihrem Speicher. Die Putzfrauen in der Gegend hatten sich nach dem Tag der Zerstörung um fünf Uhr nachts getroffen und unsere Sachen in Abwesenheit der SS-Männer gesammelt. Jegliche Bezahlung für diesen Dienst, sagte man mir, müßte abgelehnt werden; sie würden es als Kränkung betrachten.“