Brief aus Genf über Lage der Juden in Deutschland
Reisebericht vom 29. November 1935 über die dramatische Lage der jüdischen Bevölkerung nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze:
I. Allgemeine Lage.
Bei der Begruendung der im September d. J. erlassenen Judengesetze hat der deutsche Reichskanzler in Nuernberg erklaert, dass diese Gesetze den Zweck haben sollen, ein ertraegliches Verhaeltnis zwischen Deutschen und Juden herzustellen. Unabhaengig davon, ob diese Erklaerung ernst gemeint war, muss festgestellt werden, dass die Lage der Juden seit Erlass der Nuernberger Gesetze von Tag zu Tag schwieriger wird, namentlich deshalb, weil schon bei Erlass der Gesetze das Erscheinen von Ausfuehrungsbestimmungen zu denselben angekuendigt wurde. Ungefaehr vier Wochen nach Nuernberg hat der Reichsinnenminister Frick in einer Rede erklaert, dass die kommenden Ausfuehrungsbestimmungen auch die Stellung der Juden in der Wirtschaft begrenzen werden. Der Zustand jedoch, der sich inzwischen ergeben hat, wird von Tag zu Tag unhaltbarer. Die Juden leben in einem Zustand groesster Unsicherheit und nervoeser Unruhe. Persoenliche und geschaeftliche Dispositionen koennen kaum getroffen werden, die Geruechte bezueglich der Ausfuehrungsbestimmungen aendern sich von Tag zu Tag. Bald heisst es, dass sie auf dem Gebiet der Wirtschaft Erleichterungen schaffen, bald dass sie eine restlose Ausschaltung herbeifuehren sollen.
Die bisher erschienenen Ausfuehrungsbestimmungen zu einem Teil der Nuernberger Gesetze haben an diesem Zustand nichts geaendert, weil sie die wirtschaftlichen Fragen unberuehrt lassen und lediglich den Kreis umgrenzen, der heute als juedisch anzusehen ist.
Ferner ist eine gewisse Klarheit zur Frage der Beschaeftigung arischer Dienstmaedchen bei Juden geschaffen worden. Es wird hier vorausgesetzt, dass diese Ausfuehrungsbestimmungen bekannt sind und dass daher auf ihren Inhalt nicht naeher eingegangen werden braucht. In diesem Zusammenhang muss jedoch das Problem der Beschaeftigung arischer Maedchen in juedischen Haushalten kurz gestreift werden. Wenn es auch ohne weiteres feststeht, dass diese Frage schliesslich keine so wesentliche Bedeutung hat, so darf dabei nicht uebersehen werden, dass sie doch einen gewissen Einfluss auf die Lage der Juden insofern hat, als sie symptomatisch ist fuer die Schwierigkeiten, denen Juden in Deutschland heute, auch in ihrem taeglichen und ganz persoenlichen Leben, ausgesetzt sind. Die Dienstmaedchenfrage hat ja nicht nur Bedeutung fuer die besitzenden Kreise, die sich heute noch Dienstmaedchen leisten koennen, sondern fuer einen sehr erheblichen Teil unbemittelter oder wenig bemittelter Personen. Infolge der veraenderten Verhaeltnisse seit April 1933 hat die Berufstaetigkeit der juedischen Frauen erheblich zugenommen, insbesondere dort, wo die Familie durch Ausschaltung des Ernaehrers aus seinem Beruf besonders hart betroffen wurde. Sehr viele Frauen von Anwaelten, Beamten, Schriftstellern, Kuenstlern haben im Laufe der letzten Jahre unter ungeheuren Muehen den Versuch gemacht, die Ernaehrung der Familie durch Ausuebung von Taetigkeiten der verschiedensten Art zu uebernehmen. Sie konnten dies tun, solange sie ihre Kinder und ihren Haushalt durch ein Dienstmaedchen versorgen Hessen. In dem Moment nun, in dem die arischen Dienstmaedchen entlassen werden, wird die ganze Familie auf das schwerste betroffen, denn die Hausfrau, die gleichzeitig Ernaehrerin ihrer Familie ist, kann nicht mehr ihrem Beruf ganz nachgehen, die Existenz vieler Familien wird dadurch auf das schwerste erschuettert. Die Schwierigkeiten sind besonders gross, dort wo es sich um aeltere Personen handelt, die nicht mehr in der Lage sind, allein ihren Haushalt zu versorgen und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Die Folge dieses Zustandes ist, dass eine Umstellung der gesamten Lebenshaltung zur zwingenden Notwendigkeit wird, Wohnungen muessen gekuendigt werden, Familien werden zusammenziehen, das Niveau der gesamten Lebenshaltung wird auch dort, wo es bereits sehr gedrueckt war, weiter gesenkt werden muessen.
Besonders schwierig ist die Lage der juedischen Schulkinder. Von ungefaehr 45 000 Kindern sind bis jetzt ca. 17 000 in juedischen Schulen untergebracht, der Rest besucht allgemeine Schulen. Zu derselben Zeit, als die Nuernberger Gesetze erschienen, erschien auch eine Verordnung des Kultusministers Rust, die die Entfernung der juedischen Kinder aus den allgemeinen Schulen und ihre Konzentrierung in juedischen Schulen zum 1. April 1936 ankuendigte. Die Ausfuehrungsbestimmungen zu diesem Schulgesetz sind noch nicht erschienen. Es herrscht daher absolute Unklarheit darueber, wie diese neuen juedischen Schulen beschaffen sein werden und wer sie erhalten wird. Der Umfang der staatlichen Beteiligung an den Kosten ist noch nicht bestimmt, die beabsichtigte Einflussnahme des Staates auf die Lehrplaene und Lehrerauswahl ist unbekannt. Fest steht jedoch, dass die Schaffung dieser neuen juedischen Schulen schon deshalb ungemein problematisch ist, weil es einfach an den notwendigen Lehrkraeften zur Betreuung einer so grossen Zahl von Kindern fehlt. Die Tatsache jedoch, dass die juedischen Schulkinder entfernt werden sollen, hat bei sehr zahlreichen Schulleitern zur Folge, dass sie einem gewissen Ehrgeiz huldigen, ihre Schule moeglichst bald judenrein zu machen, das heisst noch vor dem gesetzlich festgelegten Termin vom 1. April 1936. Dies wird mit den verschiedensten Mitteln versucht. Die juedischen Kinder werden von Lehrern und Kindern gequaelt und misshandelt, der „Stuermer“ ist zur staendigen Lektuere zahlreicher Schulen geworden, an juedischen Kindern werden die verschiedenen Rassenmerkmale, dem „Stuermer“ entsprechend, demonstriert. In einer Schule (in Dessau) hat der Schulleiter die Kinder einfach bis zum April 1936 vom Schulbesuch beurlaubt. Als die Eltern sich dagegen zur Wehr setzten, ist die Beurlaubung zwar zurueckgenommen worden, die Kinder werden jedoch nur als Gastschueler angesehen, das heisst, sie werden nicht geprueft und beim Unterricht weitgehendst benachteiligt. Die Folgen dieses Zustandes sind fuer die Kinder geradezu verheerend. Sie erleiden fast unheilbare psychische Schaeden, werden labil und unsicher und lassen auch rein wissensmaessig in ihren Leistungen enorm nach.
Zu der allgemeinen Unruhe, zu der Sorge um die Weiterfuehrung des Haushalts ohne Hilfe, zu den Sorgen um die Kinder gesellt sich nun in den letzten Monaten fuer sehr viele Familien die neue schwierige Sorge der Wohnung. Die meisten in den letzten 15 Jahren erbauten Wohnungen sind mit Hilfe oeffentlicher Mittel erbaut, sie befinden sich im Besitz sogenannter Wohnungsbaugesellschaften, die gemeinnuetzige Gesellschaften sind. Diese gemeinnuetzigen Haeuserbau-Gesellschaften werden von den Kommunalinstanzen kontrolliert. Die Kommunalinstanzen sind, wie alle oeffentlichen Instanzen, ausschliesslich von Nationalsozialisten besetzt. In immer groesser werdendem Umfang werden nun die Vertraege der juedischen Mieter in diesen Haeusern gekuendigt. Da es sich hier zumeist um billige Wohnungen handelt, die von Angehoerigen des Mittelstandes und der Angestelltenschaft bewohnt werden, entsteht hier ein neues und ungemein schwieriges Problem, das eine besondere Erschwerung dadurch erfaehrt, dass heute schon die privaten Besitzer von Wohnungshaeusern in immer groesser werdender Zahl sich weigern, juedische Mieter aufzunehmen. Die noch im juedischen Besitz befindlichen Haeuser koennen hier als Ersatz nicht herangezogen werden, weil sie zumeist von arischen Mietern bewohnt sind und der juedische Besitzer sich scheuen muss, diesen Einwohnern zu kuendigen. Zum 1. Januar und 1. April, den Terminen, an denen die Wohnungsvertraege ablaufen, rueckt das unheimliche Problem der Obdachlosigkeit tausender Familien heran. Dies gilt auch fuer die Grosstaedte Berlin, Hamburg, Koeln, Frankfurt, wo die Juden, gemessen an den Zustaenden in den Mittel- und Kleinstaedten, bisher unter ertraeglicheren Verhaeltnissen leben konnten.
In den kleineren und mittleren Staedten wird der sogenannte passive Boykott immer haeufiger, das heisst immer groesser wird die Zahl von Lebensmittelgeschaeften, Kohlengeschaeften, Handwerkern, die es ablehnen, den Juden die erforderlichen Waren des taeglichen Bedarfs zu liefern oder Auftraege fuer sie auszufuehren. In vielen Staedten geht dies so weit, dass selbst die Milchversorgung der Kinder ausserordentlich erschwert ist. Diese wenigen Bemerkungen, bei denen bewusst von besonders schwierigen Einzel-faellen abgesehen und bei denen Uebertreibungen unterlassen wurden, sollen nur den allgemeinen Zustand charakterisieren. Im folgenden wird ueber verschiedene Einzelprobleme berichtet.
II. Wirtschaft.
Die allgemeine Unsicherheit als Folge des Fehlens der Ausfuehrungsbestimmungen, von der oben gesprochen wurde, wirkt sich in immer schlimmerer Weise auf die wirtschaftliche Lage aus. Die Zahl der juedischen Besitzer groesserer Geschaefte und Unternehmungen, die unter dem Druck der Verhaeltnisse sich gezwungen sehen, ihre Geschaefte oder Fabriken zu verkaufen, wird immer groesser. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht mehrere bedeutende Geschaefte und Fabriken in arische Haende uebergehen. Der Drang, juedische Geschaefte und Unternehmungen zu veraeussern, ist fast zu einer Psychose der bemittelten Juden geworden. Die immer groesser werdenden allgemeinen Schwierigkeiten in der Wirtschaft geben Anlass zu dem Entschluss, moeglichst rasch zu verkaufen, weil jeder befuerchten muss, dass die zunehmende Verschlechterung der Wirtschaftslage die Zahl der zahlungsfaehigen arischen Kaeufer verhindern muss. Auf Grund einwandfreier Berichte kann festgestellt werden, dass die Geschaeftsverkaeufe kaum mehr als 30 bis hoechstens 45% ihres eigentlichen Wertes erbringen, das heisst, dass dadurch eine enorme Verminderung der juedischen Vermoegen eintritt.
Der umfangreiche Verkauf juedischer Unternehmungen bedeutet nicht nur eine Vermoegensverminderung, sondern gleichzeitig den Verlust von Arbeitsplaetzen fuer juedische Angestellte und Arbeitnehmer aller Art, denn die erste Handlung der arischen Kaeufer juedischer Unternehmungen ist die Kuendigung und Entlassung der juedischen Angestellten; da juedische Arbeitnehmer, infolge der Entwicklung der letzten Jahre nur noch in juedischen Betrieben beschaeftigt sind, bewirkt die fortschreitende Arisierung der Wirtschaft eine Steigerung der juedischen Arbeitslosigkeit, ohne Aussicht fuer die Betroffenen, in Deutschland jemals wieder eine Arbeitsstelle oder Taetigkeit zu finden, da ja mit dem Ausscheiden der juedischen Unternehmer der Arbeitsmarkt fuer den juedischen Angestellten immer mehr einschrumpft.
Anlass fuer die Veraeusserung juedischer Unternehmungen ist auch die auf dem Verwaltungsweg versuchte Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft. Fast alle oeffentlichen Einrichtungen, wie staatliche Stellen, Reichsbahn, Reichspost, Kommunen, kommunale Gas-und Elektrizitaetswerke, Strassenbahnen, Grossbanken, haben beschlossen, Auftraege an Geschaefte, die Juden gehoeren oder mit Juden geschaeftliche Beziehungen unterhalten, nicht mehr zu erteilen. Den Beamten ist es verboten, bei Juden zu kaufen. Das fuer das Handwerk eingefuehrte Lieferbuch gibt der deutschen Arbeitsfront die Moeglichkeit festzustellen, in welchen Geschaeften die Handwerker ihr Material kaufen. Dort, wo juedische Lieferanten ermittelt werden, werden dem Handwerker oeffentliche Auftraege gesperrt. In manchen Orten haben die Bauhandwerker z. B. bereits beschlossen, dort, wo der Auftraggeber das Material selbst besorgt (Badewannen, Leitungsrohre, elektrische Lampen) die Arbeit zu verweigern, wenn diese Materialien in juedischen Geschaeften gekauft werden. All das bedeutet einen enormen Druck auf die juedischen Geschaeftsleute und Anlass zum beschleunigten Verkauf und zur Liquidation ihrer Geschaefte.
Den juedischen Buchhaendlern und juedischen Kino-Besitzern ist von ihren Fachschaffen mitgeteilt worden, dass ihnen voraussichtlich zum 31. Dezember die Erlaubnis zur Weiterfuehrung ihrer Geschaefte entzogen werden wird, es wird ihnen daher angeraten, moeglichst rasch die Ueberfuehrung dieser Geschaefte an arische Besitzer in die Wege zu leiten.
Nach der Entlassung saemtlicher Staatsbeamten, also auch der noch von frueher verbliebenen Kriegsteilnehmer, werden nunmehr auch die letzten leitenden Direktoren der Banken und Gross-Versicherungs-Gesellschaften entlassen.
Die Kuendigung der Hypotheken, die auf dem juedischen Grundbesitz lasten, schreitet fort, immer groesser wird die Zahl der juedischen Grundstuecke, die zur Zwangsversteigerung getrieben werden. Es fehlt an Kapitalkraeften in juedischen Gesellschaften, die in der Lage waeren, durch Uebernahme der Hypotheken hier helfend einzugreifen. Die Hilfeleistung fuer den juedischen Grundbesitz wird ueberhaupt zu einem schwierigen Problem, da offenbar in den wirtschaftlichen Ausfuehrungsbestimmungen zu den Nuernberger Gesetzen das Verbot des Grunderwerbs fuer Juden enthalten sein wird, was auch daraus zu schliessen ist, dass jetzt schon die Gerichte die Grundbucheintragungen fuer juedische Grundstueckkaeu-fer ablehnen. Die Verminderung des juedischen Grundbesitzes muss ihre Auswirkungen auch auf die Wohnungsverhaeltnisse der Juden haben, was in den Ausfuehrungen zu I. bereits angedeutet wurde.
Auch die wenigen Juden, die in der Landwirtschaft taetig sind, werden in harter Weise bedraengt. Die Massnahmen des Ernaehrungs-Ministeriums sehen ja bereits seit laengerer Zeit die Ausschaltung der Juden aus dem Handel mit landwirtschaftlichen Produkten vor, aber selbst die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte wird dadurch erschwert, dass den Juden waehrend der Ernte die seit Jahrzehnten ortsuebliche Hilfe versagt wird. Sie erhielten keine Arbeitskraeffe zur Einbringung der Ernte, die Benuetzung der Dreschmaschine wurde ihnen verboten, der Verleih von Gespannen, die fuer die Ernte erforderlich sind, fast ueberall untersagt. Die Folge ist, dass die Notlage dieser hauptsaechlich in Hessen, Franken und Wuerttemberg wohnenden Landjuden so unhaltbar wurde, dass in vielen Faellen der gesamte Besitz verlassen und in die benachbarten Staedte gefluechtet wird.
In den letzten Tagen ist auch den wenigen, bei den Boersen zugelassenen juedischen Kursmaklern die Ausuebung ihrer Taetigkeit untersagt worden. Diese Massnahme betrifft zwar nur noch ungefaehr 30 Familien, sie ist aber symptomatisch dafuer, wie selbst der letzte Jude aus einer Taetigkeit ausgeschaltet wird, in der die Juden frueher sehr zahlreich waren.
III. Freie Berufe.
Die Verdraengung der Juden aus den freien Berufen schreitet fort. In diesen Tagen finden Beratungen ueber [eine] weitere Ausschaltung der juedischen Anwaelte statt. Wenn auch zur Begruendung dieser Massnahmen die allgemeine Notlage der Anwaltschaft angefuehrt wird, so werden die in den naechsten Tagen erscheinenden Ausschaltungsmassnahmen ausschliesslich die juedische Anwaltschaft treffen. Der Fuehrer des nationalsozialistischen Juristenbundes, Dr. Frank, hat ueberdies in einer Rede vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass die logische Folge der Nuernberger Gesetze die restlose Saeuberung der Rechtspflege von den Juden ist. Hunderte jetzt schon schwer um ihre Existenz ringende aeltere juedische Rechtsanwaelte sehen diesen Massnahmen mit bangen Sorgen entgegen.
Auch fuer Aerzte scheinen weitere Ausschaltungen aus den Krankenkassen geplant. Wenn dies nicht sofort, wie von vielen Nationalsozialisten gefordert, geschieht, so deshalb, weil die Heranziehung des deutschen aerztlichen Nachwuchses eine gewisse Zeit erfordert, ueberdies hat auch die neugeschaffene Wehrmacht erheblichen Bedarf an Aerzten. Trotzdem sollen auf Grund von sicheren Informationen weitere Massnahmen gegen juedische Aerzte erfolgen. Wie unsicher die Aerzte selber ihre Lage empfinden, ist daraus zu ersehen, dass auf Grund der Nachricht der Lizenzsperre fuer Aerzte in Palaestina in wenigen Wochen ca. 400 juedische Aerzte Deutschland verlassen haben, zum Teil auch solche, die bisher noch eine sehr gute Praxis hatten.
IV. Kulturelle Taetigkeit.
Auch die Schwierigkeiten auf dem Gebiet der kulturellen Taetigkeit werden immer groesser. Das Verbot, juedische Zeitungen im Strassenhandel oder [an] Kiosken zu verkaufen, beeintraechtigt die wirtschaftliche Lage der juedischen Presse ueberaus schwer. Auch die redaktionellen Schwierigkeiten werden immer groesser. Die immer schaerfer werdende Zensur zwingt die Redaktionen zur groessten Vorsicht; unbedeutender Bemerkungen wegen erfolgen langfristige Verbote. So war die C.V.-Zeitung drei Monate verboten, spaeter das Israelitische Familienblatt ebenfalls drei Monate. Es ist klar, dass eine derartig lange Verbotszeit derart grosse materielle Schaeden zur Folge hat, dass das Wiedererscheinen der Zeitungen nach einem nochmaligen Verbot sehr in Frage gestellt wird. Am 21. November hat der nationalsozialistische Kommissar fuer das juedische Kulturwesen, Herr Hinkel, in einer der weiten Oeffentlichkeit bekannt gewordenen Aeusserung mitgeteilt, dass die juedischen Kulturbuende ueber 100000 Mitglieder haben und dass 650 juedische Kuenstler beschaeftigt waeren. Abgesehen davon, dass diese Zahlen weit uebertrieben sind, ist festzustellen, dass die Notlage der juedischen Kuenstler, Schauspieler und Musiker sowie der Bildhauer und Maler ausserordentlich schwer ist. Nur ein Teil der darstellenden Kuenstler und Musiker kann ueberhaupt beschaeftigt werden, wobei sie kaum mehr als zwei bis dreimal im Monat auffreten und nicht einmal soviel verdienen, als es erforderlich ist, um den Lebensunterhalt fuer eine Woche zu bestreiten. Auch die Kulturbuende, die [ein] festes Ensemble haben, fuehren einen schweren Kampf um ihre Existenz, da die Zahl der Juden, die es sich noch leisten koennen, Mitglieder der Kulturbuende zu sein, immer geringer wird.
Die von nationalsozialistischer Seite aus Deutschland kommenden Nachrichten ueber die kulturelle Freiheit der Juden sowie ueber die Beschaeftigungsmoeglichkeiten fuer juedische Kuenstler sind daher weitgehende Uebertreibungen.
V. Lage der auslaendischen Juden.
Auch die Lage der noch immer sehr grossen Zahl auslaendischer Juden, die in Deutschland leben, wird immer schwerer. Neben den allgemeinen, gegen Juden gerichteten Massnahmen auf allen Gebieten des Lebens sind die auslaendischen Juden besonderen Bedrueckungen ausgesetzt. Auf Grund geltender gesetzlicher Bestimmungen beduerfen Auslaender einer besonderen Genehmigung, wenn sie als Arbeiter oder Angestellte taetig sein sollen. Frueher erhielten Auslaender, die laenger als zehn Jahre in Deutschland lebten, ohne weiteres die Genehmigung, jede Stelle anzunehmen. Diese Bestimmungen sind heute sehr verschaerft und werden mit rigorosester Strenge durchgefuehrt. Immer haeufiger werden die Faelle, in denen juedische Auslaender, die in Deutschland geboren oder bereits 20 und mehr Jahre hier leben, keine Arbeitserlaubnis erhalten. Sie werden dadurch gezwungen, arbeitslos zu bleiben und oeffentliche Unterstuetzung in Anspruch zu nehmen. Diese wird ihnen jedoch mit dem Hinweis darauf verweigert, dass sie fuer den Arbeitsmarkt nicht zur Verfuegung stehen, denn sie duerfen ohne Erlaubnis keine Arbeit annehmen und die Erlaubnis wird ihnen nicht erteilt. Das heisst also, erst werden die Menschen arbeitslos gemacht, dann verweigert man ihnen die Unterstuetzung, daraufhin werden sie ausgewiesen, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht selbstaendig bestreiten koennen. Diese Faelle haeufen sich in erschreckendem Umfang. Ebenso die Faelle, in welchen Personen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, aus nichtigen Gruenden die Verlaengerung ihrer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland verweigert wird; Ausweisungen und Bestrafungen wegen Nichtbefolgung dieser Ausweisungen haeufen sich in enormem Ausmasse. Ebenso werden die Schwierigkeiten und Schikanen gegen Auslaender, die auf oeffentliche Unterstuetzung angewiesen sind, immer groesser, immer mehr staedtische Verwaltungen gehen dazu ueber, den juedischen Auslaendern jede Unterstuetzung zu versagen. Von diesen Massnahmen werden besonders hart die staatenlosen Auslaender betroffen, da ihnen ja nicht einmal der primitive konsularische Schutz zur Verfuegung steht. Unter diesen staatenlosen Auslaendern befinden sich tausende von Personen, die die deutsche Staats-angehoerigkeit bereits besessen haben, aber ausgebuergert worden sind. Die Lage dieser Menschen wird geradezu tragisch. Sie haben keine Lebensmoeglichkeit, geniessen keinen wie immer gearteten Schutz, koennen Deutschland nicht verlassen, da sie auf Grund ihrer Staatenlosigkeit neben den allgemeinen Auswanderungserschwernissen kaum die Einreise-Erlaubnis nach irgendeinem Land erhalten koennen.
Auch jene sehr zahlreichen Auslaender, die bisher ihren Lebensunterhalt als Hausierer und Haendler fanden, befinden sich in groesster Notlage, da ihnen die Erlaubnis zum Handel entzogen wird. Tausende juedischer Familien, die sich bisher kuemmerlich, aber selbst erhalten konnten, werden dadurch gezwungen, oeffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese wird ihnen, ebenso wie bei den Arbeitslosen, abgelehnt und ihre Ausweisung verfuegt.
VI. Auswanderung.
Diese nur kurz skizzierten Verhaeltnisse haben eine ungeheure Steigerung des Auswanderungsbeduerfnisses der Juden zur Folge, und zwar sind es jetzt nicht nur die juengeren und wenig bemittelten Menschen, die sich zur Auswanderung entschliessen, sondern auch die sehr wohlhabenden und heute noch gut fundierten Familien sehen sich zur Auswanderung gezwungen. Es gibt keine Gruppe im deutschen Judentum, die heute nicht davon ueberzeugt ist, dass Auswanderung die einzige Rettungsmoeglichkeit bedeutet. Die Palaestinaaemter sind von Auswanderungswilligen derart ueberlaufen, dass sie die Anzahl der ihnen zustroemenden Menschen kaum bewaeltigen koennen. Der Hilfsverein der deutschen Juden, der die Auswanderung nach allen anderen Laendern bearbeitet, hat ebenfalls eine so grosse Anzahl von Auswanderungswilligen zu beraten, dass er seinen Apparat bedeutend vergroessern und ungefaehr 15 Provinzstellen einrichten muss. Diesem gesteigerten Auswanderungsbeduerfhis stehen nur geringe Auswanderungsmoeg-lichkeiten gegenueber. Die Zahl der in diesem Jahr noch zur Verfuegung stehenden Einwanderungszertifikate ist noch nicht zu uebersehen, die Auswanderungsmoeglichkeiten nach anderen Laendern sind sehr gering. Die ICA hat jetzt einen Versuch mit der Kolonisierung von 20 juedischen Familien in Argentinien eingeleitet, der Transport dieser besonders ausgewaehlten Leute duerfte in den naechsten Tagen die Ausreise nach Argentinien antreten. Ihm soll in wenigen Wochen eine Gruppe von 60 Jugendlichen, die ebenfalls fuer landwirtschaftliche Ansiedlung in Argentinien bestimmt ist, folgen. Es ist zu hoffen, dass, wenn diese Versuche sich bewaehren, eine groessere Auswanderung nach Argentinien erfolgen kann. Diese geringen Moeglichkeiten bedeuten jedoch angesichts des enormen Umfangs der Auswanderungswilligkeit nur eine sehr geringe Hilfe. Falls nicht bald neue und grosszuegige Einwanderungsmoeglichkeiten erschlossen werden, ist zu befuerchten, dass die an Deutschland grenzenden Laender von neuen Fluechtlingswellen ueberflutet werden. Die juedischen Organisationen bemuehen sich zwar, die aufgeregten, uebernervoesen und aengstlichen Menschen zu beruhigen und vor unbesonnener Flucht ins Ausland zu warnen; bei der katastrophalen Verschlechterung der Verhaeltnisse werden diese Warnungen fuer die Dauer keine Wirkung haben.
VII. Schlussbemerkung.
Angst, Unsicherheit, nervoese Unruhe sind die Kennzeichen, die heute den Zustand der Juden in Deutschland charakterisieren. Der wirtschaftliche Niedergang, die Steigerung der Zahl der Hilfsbeduerftigen erfordern von den juedischen Gemeinden groesste Anstrengung und groesste Opfer, um den enormen Bedarf an Hilfsmitteln aufbringen zu koennen. Die immer groesser werdende Zahl der bemittelten und wohlhabenden Auswanderer, die bisher zur Erhaltung der juedischen Gemeinden beitrugen, bedeutet eine ausserordentliche Schwaechung der Leistungefaehigkeit der Gemeinden. Den neuen schweren Lasten steht eine von Tag zu Tag aermer werdende Gemeinschaft gegenueber. Es gibt bereits zahlreiche Gemeinden, die nicht in der Lage sind, die primitivsten Erfordernisse des religioesen und sozialen Lebens zu erfuellen, Gemeinden, die ausschliesslich aus Beduerftigen bestehen, die ihren Lebensunterhalt nur noch aus den Zuwendungen bestreiten koennen, die sie aus den zentralen juedischen Stellen erhalten.