Schreiben des CV-Landesverbands Nordwestdeutschland an den CV Berlin
Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens berichtet am 22. März 1935 über antijüdische Vorfälle in mecklenburgischen Gemeinden:
Betrifft: Mecklenburg.
Wir geben Ihnen nachstehend eine grössere Darstellung über die in den einzelnen mecklenburgischen Orten auftauchenden Schwierigkeiten:
1. Crivitz: Unser dortiger Vertrauensmann teilt uns mit, dass in allen Versammlungen der Partei und ihrer Unterorganisationen in heftigster Weise gegen ihn und das von ihm betriebene Geschäft gehetzt wird und dass die Einwohner von Crivitz darauf hingewiesen werden, nicht mehr bei unserem Freunde zu kaufen.
2. Neubukow: Ebenso wie aus Crivitz teilt uns der Vertrauensmann aus Neubukow mit, dass in jeder Parteiversammlung immer und immer wieder der Boykott gepredigt wird und dass die Mitglieder der NSDAP mit dem Ausschluss bei Zuwiderhandlung bedroht werden.
3. Lübz: Aus diesem Ort teilt uns unser Freund mit, dass er sich mit Rücksicht auf die neuen Verhältnisse gezwungen sah, sein Geschäft im Jahre 1934 an einen Arier zu verkaufen.
4. Stavenhagen: Wie Ihnen bereits durch den Vorsteher der Israelitischen Gemeinde in Stavenhagen mitgeteilt wurde, wird in jeder Parteiversammlung durch den Ortsgruppenführer darauf hingewiesen, dass es verboten sei, in jüdischen Geschäften zu kaufen. Der Umsatz der wenigen in Stavenhagen befindlichen jüdischen Geschäfte ist ausserordentlich stark zurückgegangen, da die Käufer nicht wagen, bei unseren Freunden zu kaufen.
5. Wismar: Auch diese Ortsgruppe berichtet uns, dass infolge der allgemeinen Stimmung, die in der Presse und durch Kaufverbote hervorgerufen wird, ein erheblicher Umsatzrückgang eingetreten ist.
6. Ludwigslust: Nachdem dieser Ort bislang von jeglichem Boykott verschont gewesen war, sah sich die Inhaberin des einzigen am Platze befindlichen jüdischen Geschäfts auf Grund der neuen Boykottbestrebungen gezwungen, ihr seit 108 Jahren in derselben Familie befindliches Geschäft kurzerhand zu verkaufen. Ausserdem wurde ihr ohne jeglichen Grund der Kredit der Sparkasse der Stadt Ludwigslust gekündigt.
7. Neustrelitz: In letzter Zeit wird eine verschärfte antisemitische Hetze betrieben. Beim Ausgeben der Kohlengutscheine des Winterhilfswerks wurde jedem Bedürftigen gesagt, dass derjenige, der die Scheine zum Juden bringe, von einer Weiterbelieferung durch das Winterhilfswerk ausgeschlossen werde. - Die Schaufensterscheiben der meisten jüdischen Geschäfte sind mit dem Wort „Juden“ beschmiert worden, und zwar wurde hierzu eine ätzende Flüssigkeit benutzt. - Unser Vertrauensmann, der ein Kohlengeschäft betreibt, wird bespitzelt, und die Käufer seiner Waren werden, falls sie weiter bei ihm kaufen, dahingehend bedroht, dass sie boykottiert werden und keinerlei öffentliche Lieferungen mehr erhalten. Eine derartige Maßnahme ist bei den meisten Bäckermeistern bereits durchgefliihrt worden.
8. Schwaan: Auch hier wird eine ausserordentlich aktive antisemitische Propaganda betrieben. In allen öffentlichen Versammlungen wird von den Leitern der einzelnen politischen Organisationen nachdrücklichst betont, nicht mehr beim Juden zu kaufen. - Insbesondere werden dem in Schwaan wohnenden jüdischen Arzt, Dr. Marcus, erhebliche Schwierigkeiten in jeder nur erdenklichen Weise bereitet.
9. Parchim: Den Detailgeschäften dieses Ortes werden ausserordentliche Schwierigkeiten bereitet, da die Kundschaft Angst hat, die jüdischen Geschäfte zu betreten. Am zweiten Sonntag vor Weihnachten stand der Kreisleiter der NSDAP während der Hauptgeschäftszeit gegenüber dem Kaufhaus Ehrlich. Bis zum Weihnachtsfest selbst stand an jedem Nachmittag ein uniformierter SA-Mann an der gleichen Stelle. Ausserdem wird in den letzten Parteiversammlungen die Judenfrage behandelt.
10. Schwerin: Nachdem bereits im vergangenen Jahre einige Nichtarier ihre Geschäfte aufgegeben haben, sind jetzt wiederum einige Glaubensgenossen gezwungen worden, ihre Betriebe zu schliessen. Es wird aus den anliegenden Zeitungsausschnitten ersichtlich, wie in jeder Versammlung gegen die Juden gehetzt wird und diejenigen als Verräter bezeichnet werden, die noch heute in jüdischen Geschäften kaufen. Insbesondere können die jüdischen Geschäfte nicht mehr die Beamten zu ihrer Kundschaft rechnen, da diesen Strafversetzung und Entlassung aus dem Dienst angedroht wird. Es geht in Schwerin sogar so weit, dass Leuten, die vor jüdischen Geschäften stehen, von Strassenpassanten die Frage vorgelegt wird: „Wollen Sie ein Deutscher sein, dann gehen Sie weiter und bleiben hier nicht stehen.“ Der Inhaber eines grösseren Goldwarengeschäfts fand die beiliegende anonyme Karte in seinem Postschhessfach vor. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass dieses Geschäft seit dem Jahr 1888 besteht, sich des besten Rufes erfreut und heute noch ca. 20 Angestellte beschäftigt. Die Namen der jüdischen Geschäfte sind an den schwarzen Brettern der Schweriner Kasernen sowie im Staatstheater angeschlagen. Wie verlautet soll jedoch eine neue Aktion gegen die nichtarischen Geschäfte in Vorbereitung sein.
Bei den gelegentlich des Weihnachtsfestes 1934 vorgekommenen Boykottbestrebungen wurde den jüdischen Firmen der Polizeischutz offiziell versagt. Die Polizei erklärte ausdrücklich, dass sie höheren Ortes angewiesen sei, nicht einzugreifen.
Ausserdem sind vor einiger Zeit die Schaufenster der jüdischen Geschäfte mit Zetteln beklebt worden, die die Aufschrift trugen „Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter“.
Einem Kreditgeschäft in Schwerin, das bereits seit 22 Jahren besteht, wurde plötzlich von der Bank der Kredit gekündigt. Die Bank verschaffte sich sofort einen Titel, so dass die Angelegenheit vor dem Landgericht in Schwerin verhandelt wurde. Das Landgericht war jedoch der Ansicht, dass von derartigen Zwangsmassnahmen Abstand genommen werden müsse. Der jüdische Kaufmann, der der Bank beste Sicherungen gegeben hatte, wurde durch die Stellungnahme des Gerichtes vor dem Ruin bewahrt, xi. Waren, Hagenow, Rostock, Penzlin, Dargun, Neubrandenburg, Grabow:
Unsere dortigen Freunde können auf Grund der uns zugegangenen Mitteilungen nicht über Schwierigkeiten klagen.
Zusammenfassend bemerken wir, dass, nachdem bereits früher sich starke antisemitische Bestrebungen in ganz Mecklenburg bemerkbar gemacht haben, gerade in der letzten Zeit eine verstärkte Boykottbewegung eingesetzt hat. Die Wirtschaftslage unserer Freunde hatte sich bereits in den letzten beiden Jahren ausserordentlich verschlechtert, so dass ein grösser Teil gezwungen war, das Mecklenburgische Land zu verlassen, um zumeist in den Grosstädten eine neue Existenz aufzubauen. Auch in allerletzter Zeit werden uns in einigen Fällen Geschäftsverkäufe alteingesessener Firmen, die zum Teil seit Jahrhunderten in derselben Familie sind, gemeldet. Die wirtschaftliche Lage und die Leistungsfähigkeit gehen auf Grund der neuerlichen antis. Welle so stark zurück, dass in kürzester Zeit mit Zusammenbrüchen in vielen Fällen zu rechnen ist.
Neben dem zum Teil fast 75%igen Umsatzrückgang, der in vielen Fällen zu einer Entlassung von Angestellten zwang, ist ein starker Rückgang der Einwohnerzahl, insbesondere in den kleinen, in früheren Jahren und Jahrzehnten blühenden Gemeinden zu verzeichnen; ein Rückgang, der bis zu 50 % der Gemeindemitglieder beträgt. Ausser den schulpflichtigen Kindern ist eine berufstätige Jugend in fast keiner Gemeinde, auch nicht in der grössten, Rostock, vorhanden. Diese Jugend ist fast 100%ig ins Ausland oder in die Grossstädte abgewandert.