Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Auch im Dezember kehrte keine Ruhe ein. Allein am 3. Dezember sah sich die jüdische Bevölkerung gleich mit mehreren Verordnungen und Anweisungen konfrontiert, die sie im Alltagsleben erheblich einschränkten, sie völlig aus der Gesellschaft ausschlossen und zugleich noch extremer wirtschaftlich ausbeuteten. So erließ Heinrich Himmler an diesem Tag eine Polizeiverordnung, nach der die Führerscheine von Juden für ungültig erklärt und die Zulassung von deren Autos entzogen wurden, was natürlich gravierende Auswirkungen auf deren Mobilität hatte. Führerscheine und KfZ-Papiere mussten bis spätestens zum 31. Dezember zurückgegeben sein.
Bereits am 29. November hatte ebenfalls Himmler für den 3. Dezember, der zum Auftakt der Sammlungen zum Winterhilfswerk als „Tag der Nationalen Solidarität“ galt, gegen Juden eine totale Ausgangssperre zwischen 12 und 20 Uhr verhängt. In dieser Zeit durften sie ihre Wohnungen nicht verlassen, um die an diesem Tag auf Straßen und Plätzen sammelnden NS-Führer nicht durch ihre Anwesenheit zu stören. Das empfanden zahlreiche Juden sicherlich als weitere Kränkung, andere – wie der Schriftsteller Walter Tausk – aber auch als „nicht weiter schlimm, solange man nur in Ruhe gelassen wird“.
Das tat das NS-Regime natürlich nicht, denn ebenfalls auf den 3. Dezember datierte die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“, die die ohnehin bereits umfassende wirtschaftliche Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung weiter perfektionierte und vervollständigte. Sie ermächtigte die höheren Verwaltungsbehörden nämlich, Juden zum Verkauf oder zur Schließung ihrer Geschäfte und Betriebes sowie zur Veräußerung ihres Grundbesitzes und sonstigen Vermögens oder von Wertgegenständen zu zwingen. Zugleich unterlag nun jeder Grundstücksverkauf durch Juden einer allgemeinen Genehmigungspflicht. Für Wertpapiere wurde ein Depotzwang eingeführt, was bedeutete, sämtliche Wertpapiere innerhalb einer Woche in ein Depot bei einer Devisenbank eingeliefert werden mussten, womit die staatliche Kontrolle hierüber perfektioniert wurde. Künftig war es Juden gesetzlich verboten, Gold, Platin, Silber, Edelsteine und Perlen zu erwerben oder frei zu veräußern. Hierzu waren nur noch besondere amtliche Ankaufstellen berechtigt, die zudem auch die (Niedrigst-) Preise festsetzten. Das galt auch für Schmuck und Kunstgegenstände, soweit im Einzelfall der Wert von 1.000 RM überschritten wurde.
Die Ausbeutung ging mit unvermindertem Tempo weiter. Durch die „3. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 5. Dezember verloren Juden alle Ansprüche auf Renten, Pensionen und Versicherungen. Mit Jahresbeginn 1939 wurden die Ruhegehälter der ausgeschiedenen jüdischen Beamten gekürzt. Wie groß das Ausmaß der Ausplünderungen im Jahr 1938 war, geht allein schon daraus hervor, dass mindestens neun Prozent der Reichseinnahmen des Haushaltsjahres 1938/39 aus solchen „Arisierungserlösen“ stammten.
Auch das Verdrängen der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Straßenbild wurde ungehemmt fortgeführt. Hierbei tat sich auch Berlin unter seinem Gauleiter Joseph Goebbels besonders hervor, wo – wohl auf der Grundlage der „Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit“ vom 28. November 1938 – ab dem 6. Dezember vom Polizeipräsidenten ein „Judenbann“ verhängt wurde. Eine Reihe von Straßen, Plätzen, Anlagen und Gebäuden durften von Juden nun künftig nicht mehr betreten oder befahren werden. Diejenigen von ihnen, die zu diesem Zeitpunkt noch innerhalb eines „Banngebiets“ wohnten, benötigten einen Erlaubnisschein. Zugleich wurde angekündigt, dass solche Passierscheine ab Mitte 1939 nicht mehr erteilt würden, was nichts anderes bedeutete, dass die hier wohnenden Jüdinnen und Juden ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen hatten. Wie tief der Berliner „Judenbann“ in das Leben der zahlreichen noch in der Reichshauptstadt lebenden Juden eingriff, belegt allein schon die Tatsache, dass von ihm unter anderem sämtliche Theater, Kinos, Kabaretts, Konzert- und Vortragsräume, die Ausstellungshallen am Kurfürstendamm und das Ausstellungsgelände am Funkturm, die Deutschlandhalle, der Sportpalast, öffentliche und private Badeanstalten, Hallenbäder und Freibäder sowie einige Straßen betroffen waren.
Auch die Auswanderung wurde immer weiter erschwert. So bestimmte das „Gesetz über Devisenbewirtschaftung“ vom 12. Dezember, dass jüdische Auslandsreisende (auch fremder Staatsangehörigkeit) nur noch zum persönlichen Gebrauch unbedingt erforderliche Gegenstände mitnehmen durften. Für alle anderen war ab sofort eine Genehmigung einzuholen, wobei die stark einschränkenden Vorschriften zur Ausfuhr von Geld, Wertpapieren und Schmuck eine Emigration wegen der extremen Reduzierung der finanziellen Ressourcen oft unmöglich machten.
Am 20. Dezember ordnete der Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für die zahlreichen durch das Pogrom und die folgenden Maßnahmen arbeitslos gewordenen Juden den sogenannten „Geschlossenen Arbeitseinsatz“ an. In dessen Rahmen wurden die – oft bereits älteren - Betroffenen zumeist in Kolonnen und streng von „deutschblütigen“ Arbeitskräften getrennt, zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen.
Nach Weihnachten hielt Hermann Göring am 28. Dezember nach einem Vortrag vor Hitler dessen Entscheidungen fest. Demnach lehnte er es zwar ab, den Mieterschutz für Juden gänzlich aufzuheben, wünschte aber, dass Juden möglichst „in einem Haus zusammengelegt“ würden, „soweit die Mietverhältnisse dies gestatten“. Damit war der erste Schritt in Richtung der damals so genannten „Judenhäusern“ getan. Um das zu gewährleisten sollte die „Arisierung“ jüdischen Hausbesitzes auch erst ganz am Ende des gesamten Enteignungsprozesses erfolgen.
Hitler stimmte bei gleicher Gelegenheit zwar zu, Juden die Benutzung von Schlaf- und Speisewagen zu untersagen, lehnte jedoch ein Verbot für die Benutzung von Eisenbahnen, Straßenbahnen, Vorort-, Stadt- und Untergrundbahnen, Omnibussen und Schiffen vorerst noch ab. Seine allgemeine Zustimmung fand der „Judenbann“, der zunächst aber nur für bestimmte öffentlich zugängliche Einrichtungen auszusprechen sei. „Dazu gehören solche Hotels und Gaststätten, in denen vor allem die Parteigenossenschaft verkehrt.“ Außerdem konnte er nun reichsweit „für Badeanstalten, gewisse öffentliche Plätze, Badeorte usw. ausgesprochen werden“. Er habe, so betonte Göring, die Meinung Hitlers zu diesen Punkten eingeholt, u so eine klare, nicht zu diskutierende Richtlinie für das Verfahren vorzugeben. „Alle Reichs- und Landesbehörden haben sich strikte an diese Willensmeinung zu halten.“
Nach den Zeitungen und Zeitschriften nahm man der jüdischen Bevölkerung zum Ausklang des Jahres 1938 auch noch die Bücher. Laut einer am 30. Dezember 1938 im „Jüdischen Nachrichtenblatt“ veröffentlichten Anordnung des Propagandaministeriums waren jüdische Verlage und Buchhandlungen bis zum 31. Dezember 1938 zu schließen und aufzulösen.