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Chronik und Quellen
1938
Mai 1938

Bericht der SD-Abteilung II/112 für April/Mai 1938

Für die Monate April und Mai 1938 gibt die Abteilung II/112 des SD folgenden Lagebericht ab:

Auf dem Gebiet der Judenfrage wird die Lage einmal durch die auf wirtschaftlichem Gebiet erlassenen Verordnungen zur Feststellung jüdischen Vermögens bzw. gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe und auf politischem Gebiet durch das bereits im letzten Lagebericht besprochene Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen bestimmt.

Durch diese einschneidenden Maßnahmen ist bei der in Deutschland ansässigen Judenschaft auch die letzte Hoffnung auf ein Verbleiben im Reichsgebiet geschwunden, so daß die Auswanderungslust einen starken Auftrieb erhalten hat. Es darf dabei nicht vergessen werden, daß die Möglichkeiten für die Auswanderung sich im gleichen Maße vermindert haben wie der Auswanderungsdruck gestiegen ist. Der wachsende Ausschluß der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben, der unter dem Druck der aufgezeigten Verhältnisse einen sehr starken Aufschwung genommen hat, bewirkt zugleich einen Rückgang der Einnahmen der jüdischen Gemeinden, Hilfs- und politischen Organisationen, aus denen zum großen Teil gerade die Auswanderungsmittel für minder- und unbemittelte Juden bestritten wurden.

In der Erkenntnis dieser Lage standen auch die Veranstaltungen der jüdischen Organisationen, bei denen im allgemeinen ein Rückgang zu verzeichnen war, ausschließlich unter der Parole der Auswanderung. So veranstaltete die Jüdische Gemeinde Berlin am 23.5.38 in der Synagoge Prinzregentenstraße einen Gemeindeabend unter dem Motto „Liquidation und Aufbau“, in dem der Vorsitzende der Gemeinde, Heinrich Stahl, und das Vorstandsmitglied Josef Schneidler sprachen. In einer Übersicht über den Finanzstand der jüdischen Gemeinden wurde darauf hingewiesen, daß ein großer Teil der bisher in Deutschland bestehenden 1400 jüdischen Gemeinden - von denen sich allerdings ein großer Teil der Klein- und Mittelgemeinden in Auflösung befindet zw. schon aufgelöst wurde -kaum mehr in der Lage sei, seinen sozialen und finanziellen Verpflichtungen gerecht zu werden. „Die meisten jüdischen Menschen verfügen heute nicht mehr über ein produktives Einkommen: sie zehren entweder an einem kleinen Vermögen, oder sie sind auf Hilfeleistungen angewiesen“.

Trotz dieser Erkenntnis, die ausschließlich eine Auswirkung der wirtschaftlichen Maßnahmen gegen die Juden ist, wurde in beiden Vorträgen eine erhöhte Konzentration auf die Auswanderung gefordert, so daß die Zahl der im Jahre 1938 auswandernden Juden höher sein werde als in vorigen Jahren.

Im gleichen Sinne sprach sich auch der Vorsitzende des Kuratoriums des Hilfsvereins der Juden in Deutschland, Max M. Warburg, auf einer Veranstaltung in Stuttgart am 25.5.38 aus. Er sagte voraus, daß die Hauptauswanderung der überhaupt noch auswanderungsfähigen Juden in den nächsten drei Jahren vor sich gehen werde, und forderte, daß von den Juden nicht nur Spenden geleistet, sondern Teile des Vermögens an den Hilfsverein überstellt würden zur Förderung dieser Möglichkeiten. An neuen Einwanderungsländern für die Juden nannte er die Philippinen und Britisch-Guayana; wahrscheinlich käme auch Kenya in Frage.

Aus diesen Ausführungen erhellt, daß der Auswanderungswille selbst bei früher sehr stark in Deutschland verankerten Juden nie größer war als jetzt, so daß bei Vorhandensein eines ausreichenden Devisenstandes trotz der zunehmenden Einwanderungsschwierigkeiten in den hauptsächlichsten Einwanderungsländern eine erhebliche Abwanderung erzielt werden kann. Leider haben sich aber gerade in der letzten Zeit die Möglichkeiten zur Transferierung kleiner jüdischer Kapitalien, ja seihst zur Bereitstellung der Vorzeige-gelder für unbemittelte Juden in der Berichtszeit laufend verringert, so daß es die wichtigste Aufgabe ist, auf wirtschaftlichem Gebiet Möglichkeiten zur praktischen Auswirkung des Auswanderungsdrucks zu schaffen. Denn ein zu starkes Stützen auf die aus dem Ausland einfließenden Hilfsgelder für die Juden birgt die Gefahr in sich, daß die Auswanderung von dem guten Willen der internationalen Hilfsorganisationen abhängig gemacht wird. So wurde allein für die Unterstützung des Budgets der Reichsvertretung der Juden in Deutschland von Council for German Jewry, London, eine Summe von 10000 L in Aussicht gestellt. Zudem sollen Devisen zur Verstärkung der Ansiedlung jüdischer Jugendlicher in Palästina bereitgestellt werden in Zusammenarbeit mit der Jewish Agency.

Während sich in Auswirkung der oben genannten Verordnungen eine verstärkte Stellungnahme der Bevölkerung gegen die Juden bemerkbar macht, wird aus fast allen Oberabschnitten nach wie vor vor einer indirekten Unterstützung der Juden durch strenggläubige Katholiken und Protestanten, wie auch der Bauernschaft gesprochen.

Die Neigung der Juden zur Abwanderung in die Großstädte, in deren Gefolge sich eine Auflösung der Klein- und Mittelgemeinden bemerkbar macht, hält - wie schon in den Vormonaten - an.

Eine besondere Gefahr bildet die Auswirkung des polnischen Gesetzes über die Entziehung der Staatsbürgerschaft vom 31.111.38, aufgrund dessen heute bereits über 800 Personen allein in Berlin ausgebürgert worden sein sollen, die nun als Staatenlose galten. Die Abstellung dieser Maßnahmen gegen Juden, die nach erfolgter Ausbürgerung dem Deutschen Reich zur Last fallen, kann nur durch eine Abänderung des mit Polen getroffenen Paßabkommens erreicht werden.

Die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen die Juden haben zu Einzelaktionen in fast allen Teilen des Reiches geführt, die zumeist den Erfolg hatten, daß die Juden zurückhaltender und vorsichtiger in ihrem Auftreten wurden. [...] -führung der neuen Reichsmeldeordnung erging am 10.4. Danach ist allen geschäftsfähigen Personen gemäß Abschnitt III, 3 Auskunft darüber zu geben, „ob eine Person Jude ist, während über die Mischlingseigenschaft keine Auskunft zu erteilen ist“.

Land Österreich

Der Aufbau der jüdischen Organisationen in Österreich konnte in der Berichtszeit abgeschlossen werden. Am 2.5.38 konnte die „Israelitische Kultusgemeinde“ Wien, unter der Leitung des früheren Amtsdirektors, Josef Löwenherz, am 3.5.38 der „Zionistische Landesverband für Österreich“ unter vorläufiger Leitung Dr. Josef Rotenbergs und schließlich am 10.5.38 die „Agudas Jisroel“ unter Leitung Julius Steinfelds ihre Arbeit wieder aufnehmen. Außer diesen Organisationen wurde zur Arbeit nur noch das „Palästina-Amt“ Wien, das für die Zertifikatszuteilung nach Palästina verantwortlich ist, zugelassen. Alle anderen Organisationen bleiben verboten.

Als einzige jüdisch-politische Zeitung wurde durch den Zionistischen Landesverband die „Zionistische Rundschau“ gegründet, die die Aufgabe hat, die Auswanderungsförderung auf propagandistischem Gebiet zu unterstützen.

Der jetzige Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, sowie die Leitung des Zionistischen Landesverbandes für Österreich, haben sich verpflichtet, in der Zeit vom 1.5.38 bis 1.5.39 20000 mittellose Juden zur Auswanderung zu bringen. Zur Durchführung dieses Planes wurden dem Leiter der „Israelitischen Kultusgemeinde“ vom „Council for German Jewry“ vorerst 100000 Dollar zugesagt. Zur Beschaffung weiterer Mittel wurde Löwenherz unter Anwendung entsprechender Sicherungsmaßnahmen die Ausreise nach Paris und London genehmigt, wo er mit den leitenden Beamten der jüdischen Hilfsorganisationen um Bereitstellung weiterer Mittel verhandeln wird.

Um eine unkontrollierbare Wanderung von Juden ins alte Reichsgebiet zu verhindern, wurde den Juden im Lande Österreich die Abwanderung in das Reichsgebiet im allgemeinen untersagt. Diese Anordnung wurde in der „Zionistischen Rundschau“ Wien vom 27.5. durch die Israelitische Kultusgemeinde veröffentlicht.

Die Zurückdrängung der Judenschaft aus den Lebensgebieten wird nunmehr in planmäßiger Weise durchgeführt. Auf dem Gebiete des Schulwesens wurde eine vorläufige Regelung getroffen. So hat der Bürgermeister der Stadt Wien angeordnet, daß die jüdischen Kinder der Wiener Volks- und Hauptschulen von den arischen abgesondert und in eigenen Schulen zusammengefaßt werden. Zur ausschließlichen Benutzung durch Juden wurden zur Durchführung dieser Maßnahmen 16 Volks- und Hauptschulen, sowie 7 Mittelschulen bereitgestellt. In gleicher Weise soll mit den Fortbildungsschulen verfahren werden.

Die Regelung des Studiums von Juden an Hochschulen des Landes Österreich wurde durch eine Verfügung des Österreichischen Unter[richts]ministeriums durchgeführt. Danach werden Juden österreichischer Staatsangehörigkeit nur nach Maßgabe einer Verhältniszahl von 2% für die einzelnen Fachgebiete zugelassen.

Von einschneidendster Bedeutung für die Struktur des Judentums in Österreich war eine Anordnung des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei, daß die gesamte Judenschaft in Wien konzentriert wird. Aus diesem Grund wurden mehrere Aktionen in der Provinz unternommen.

Mit Wirkung vom 24.5.38 wurde aufgrund des Artikels II des Gesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13.3.38 die Einführung der Nürnberger Rassengesetze vorgenommen (RGBl. I vom 23.5.38, S. 594ff.). Dabei gilt der 16.9.35 als Stichtag. Die vorgenommenen Veränderungen sind im allgemeinen auf dem Verordnungswege den Bestimmungen im Altreich angeglichen worden. Das Blutschutzgesetz wird ebenfalls mit Wirkung vom 24.5. mit einigen nicht grundsätzlichen Veränderungen in Österreich in Kraft gesetzt. Als Stichtag gilt hierbei der 17.9.35.

Der § 3 der Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze im Lande Österreich hat seine Erledigung durch die Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums, die am 31.5.38 in Kraft tritt, gefunden. Ausgeschlossen von der Befähigung zur Bekleidung öffentlicher Ämter werden danach im allgemeinen: Jüdische Beamte, Anwärter, Aspiranten, ehrenamtliche Mitarbeiter, Angestellte und Arbeiter, die Juden oder Mischlinge sind bzw. mit einer Jüdin (Juden oder einem Mischling ersten Grades) verheiratet sind.

Nicht betroffen werden von dieser Regelung Lehrer und Bedienstete von Religionsgesellschaften. Für Beamte, die mit einer Jüdin oder einem Mischling ersten Grades verheiratet sind, und solche jüdischen Mischlinge, die am 1.8.1914 angestellte Beamte oder Frontkämpfer waren, können mit Genehmigung des Stellvertreters des Führers oder der von ihm bestimmten Stelle für Beamte Ausnahmeregelungen getroffen werden. Die Bezahlung von Ruhegehältern, Entschädigungen, Abfindungen usw. wird in der Verordnung ebenfalls geregelt. Bei der Ausdehnung der im Reichsgebiet gültigen Bestimmungen über die Reichsfluchtsteuer wurde für auswandernde Juden eine Sonderbestimmung getroffen.

Danzig

Grundlegende Veränderungen hinsichtlich des Bevölkerungs- und Besitzstandes haben sich in Danzig im Berichtsabschnitt nicht ergeben. Die Hauptarbeit der Synagogengemeinde verlagert sich mehr und mehr auf die Erledigung der mit der Wirtschaftshilfe verbundenen Fragen, wobei der größte Teil der einkommenden Synagogengemeindesteuern für assimilatorische Zwecke Verwendung findet. Als Neugründungen sind die Bildung eines Schiedsgerichtes bei der Synagogengemeinde, zur Regelung jüdischer Rechtsstreitigkeiten, und die Bildung einer „Hebräischen Gesellschaft“ (20.5.38) zur Förderung der Sprachkenntnisse im Hebräischen zu verzeichnen.

Zur Abstellung der zahlreichen Reisen von in Danzig ansässigen Juden durch das Reichsgebiet trat am 20.4.38 die auf hiesige Veranlassung erwirkte Anweisung des Auswärtigen Amtes an das Generalkonsulat in Danzig in Kraft, nach welcher Juden ausländischer Staatsangehörigkeit keine Durchreisevisen für das Reichsgebiet mehr zu erteilen sind.

Eine nennenswerte Auswanderung ist nicht zu verzeichnen. Auch die Meldung zahlreicher ausländischer Zeitungen, 5000 Juden hätten in den letzten Wochen Danzig verlassen, entspricht nicht den Tatsachen.

Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde durch die einheitliche Kennzeichnung der deutschen Geschäfte durch das Abzeichen der deutschen Arbeitsfront ein neuer Schlag gegen den starken Anteil der Juden am Danziger Wirtschaftsleben geführt.

Das Judentum im Ausland

Aus Anlaß der Arbeitsaufnahme der neuen Palästina-Kommission, die die Möglichkeiten zur Grenzziehung gemäß den Vorschlägen der Peel-Kommission in Palästina überprüfen soll, wurde die Frage der Gründung des Judenstaates erneut in den Vordergrund aller Betrachtungen des Judentums im Ausland gerückt. Im Zusammenhang hiermit wurden auf der am 21.5.38 in London stattfgefundenen Zionistenkonferenz mehrere Resolutionen angenommen, in denen es u. a. heißt, daß „die englischen Zionisten eine Lösung (in Palästina) willkommen heißen würden, die schließlich dem jüdischen Staat einen Platz innerhalb des Britischen Weltreiches verschaffen würde“. Chaim Weizmann fordert in einem Schreiben an den High Commissioner für Palästina die Wiederaufnahme der Politik der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit.

Nicht nachgeprüfte Meldungen berichten den endgültigen Beschluß zur Gründung des Judenstaates. Wichtig für die innenpolitische Lage Palästinas sind die Meldungen, die besagen, daß es zu einer Einigung zwischen dem englischen Militäroberkommando und der jüdischen Wehr- und Nachrichtenorganisation Hagana gekommen sei. Dabei soll man übereingekommen sein, die Hagana von einer Einwohnerwehr auf eine felddienstfähige Truppe bis zu einer Stärke von 30 000 Mann zu bringen, die einmal die Aufgabe bekommen soll, den Schutz des kommenden Judenstaates zu übernehmen, die andererseits aber die Sicherung am Ostufer des Suezkanals vornehmen soll.

Ebenso bedeutungsvoll wie diese Entwicklung in Palästina für die Erhöhung der Auswanderungsmöglichkeiten ist die für den 6. Juli in Evian zusammentretende Konferenz zur Behandlung des Problems der Emigranten. Da die Anregung zu dieser Konferenz vom Präsidenten Roosevelt ausging, hat er Byron C. Taylor, dem früheren Präsidenten der United Steel Corporation, in der geplanten Emigrantenkommission zum amerikanischen Vertreter ernannt. Gleichzeitig hat Roosevelt unter den früheren High Commissioner für Emigranten aus Deutschland, James MacDonald, ein amerikanisches Komitee für die Angelegenheiten der Emigranten gebildet. Zu den Mitgliedern des Komitees gehört u.a. auch der bekannte Deutschenhetzer Stephen Wise.

Im allgemeinen beweist aber die Entwicklung im übrigen Ausland, daß mit Ausnahmen die Judenfeindlichkeit überall im Zunehmen begriffen ist und daß automatisch die Auswanderungsmöglichkeiten für die Juden aus Deutschland werden.

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