Pogromm in Hessen-Nassau und Franken
Nach 10. November 1938 verfasste ein Unbekannter folgenden Vermerk über die Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik seit 1937, die propagandistische und organisatorische Vorbereitung des Pogroms und dessen Beginn in Hessen-Nassau und Franken:
Zur angeblichen Spontaneität der Pogrome vom 10. November 1938
Die Maßnahmen des 10. November und der darauf folgenden Wochen gehen letztlich zurück auf interne Parteitagsbeschlüsse, die im September 1937 gefasst worden sind. Damals wurde beschlossen, die Judenfrage radikal zu lösen. Seit August 1937 war der tatsächliche Einfluss Schachts, der sich gegen die Zerschlagung der jüdischen Wirtschaft stets gewehrt hatte, beseitigt. Schacht hat das Reichswirtschaftsministerium seit August 1937 nicht mehr betreten. Als Beleg für die Kursänderung in der Wirtschaftspolitik gegenüber den Juden ist nachzulesen der programmatische Artikel des »Schwarzen Korps«, der nach dem Nürnberger Parteitag 1937 etwa im Oktober 1937 erschienen ist und die Ungleichstellung der Juden in der Wirtschaft programmatisch statuierte, nachdem bis dahin wenigstens offiziös der Grundsatz galt, dass das Arierprinzip in der Wirtschaft nicht angewandt werden sollte. Es folgten offizielle Anordnungen, Juden als Handelsvertreter abzubauen, es folgten vor allem Kontingentierungs-Anordnungen, nach denen jüdische Betriebe nicht mehr in der gleichen Art mit Kontingenten zu versehen seien wie arische. Damit wurde der Zwang zum Verkaufjüdischer Betriebe eingeleitet.
Im Februar 1938 hielt Hitler vor den alten Parteigenossen im Münchner Bürgerbräukeller eine Rede, die im »Völkischen Beobachter« von Ende Februar (etwa 21.2.1938) nachgelesen werden kann. Völlig unmotiviert sprach er hier die Geiseltheorie aus und erklärte, dass die Juden der Welt Feinde des nationalsozialistischen Regimes seien, dass die Juden in Deutschland Teile des Weltjudentums wären und entsprechend behandelt werden würden. Damals wurde zum ersten Male die Geiseltheorie offiziell gemacht. Schon in den ersten Märztagen 1938 sickerten Nachrichten durch, dass mit einer Massenverhaftung von Juden gespielt würde. Diesem Plan habe sich angeblich Hess widersetzt. Um die gleiche Zeit hielt Gauleiter Streicher vor der ausländischen Presse in Berlin einen Vortrag über die Judenfrage. Er hatte keine Scheu zu erklären, dass so lange keine Ruhe in der Welt eintreten würde, »bis die Juden mit ihrer ganzen Brut vernichtet seien«. (Die Wendung ist wörtlich!) Das offene Bekenntnis zur Vernichtung der Frauen und Kinder (es ist von einem ausländischen Journalisten ausdrücklich gefragt worden, ob unter Vernichtung die physische Vernichtung zu verstehen sei, was nicht beantwortet wurde) hat damals Erstaunen erregt. Im April folgten die ersten Maßnahmen, die einen Eingriff in das Vermögen andeuteten (Vermögensanmeldung). Im Juni folgte die furchtbare Verhaftungsaktion gegen die so genannten vorbestraften Juden, von denen mindestens 10% verstorben sind. Die im Juni verhafteten Juden und anderen »Asozialen« hatten sowohl im Konzentrationslager Sachsenhausen wie in Buchenwald die Aufgabe, das Lager zu erweitern. In Sachsenhausen wurde das so genannte »neue« Lager gebaut, das heißt, es wurden Baracken für viele Tausende geschaffen. Schon damals ging im Lager das Gerücht, dass im Herbst diese Baracken mit Juden aus einer kommenden Massenaktion belegtwerdenwürden. Die Häftlinge des 10. November wurden von ihren Kameraden aus dem Juni 1938 und von ihren arischen Leidensgenossen durchweg mit der Formel begrüßt: »Wir haben euch seit August erwartet.«
Im Oktober 1938, also vier Wochen vor dem Attentat auf den Legationsrat vom Rath, veröffentlichte das »Schwarze Korps« zwei Leitartikel, die absolut programmatisch die Radikallösung der Judenfrage in Aussicht stellten. In dem einen ist mit einem brutalen Zynismus davon die Rede, dass die aus der Wirtschaft ausgeschalteten Juden »zu internieren« seien, da man sich gegen die bei wirtschaftlicher Verelendung notwendigerweise auftretende Kriminalität schützen müsse.
Man beachte die in einer Sonder-Notiz niedergelegten Versuche, die Synagoge in Kassel zu attackieren, und zwar in der gleichen Art, in der fünf Tage später sämtliche Synagogen Deutschlands vernichtet wurden. Bei den zwei Demolierungsversuchen in Kassel handelt es sich um ein Vorprellen zu einer Zeit, zu der das Attentat zu Paris noch nicht geschehen war. In der mit dem 5. November endigenden Woche sind im Übrigen im Kassler Bezirk, aber auch anderwärts, zahlreiche völlig unmotivierte Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte, Amtsgebäude usw. erfolgt; insbesondere in Franken, wo die Bevölkerung in kleinen Orten wie Burgsinn pp. aus ihren Wohnungen gejagt wurde. Die damals schon sich täglich steigernde Pressehetze war die Begleitmusik für interne In-Aussichtstellung einer Radikalaktion, die dann durch den Tod des Herrn vom Rath motiviert wurde. »Dieser Mortimer starb Euch sehr gelegen.«