Artikel in der Jüdischen Rundschau
Die Jüdische Rundschau vom 4. April 1933 fordert, als Antwort auf den Boykott ein neues jüdisches Selbstbewusstsein zu entwickeln:
[Robert Weltsch]
Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!
Der 1. April 1933 wird ein wichtiger Tag in der Geschichte der deutschen Juden, ja in der Geschichte des ganzen jüdischen Volkes bleiben. Die Ereignisse dieses Tages haben nicht nur eine politische und eine wirtschaftliche, sondern auch eine moralische und seelische Seite. Ueber die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge ist in den Zeitungen viel gesprochen worden, wobei freilich häufig agitatorische Bedürfnisse die sachliche Erkenntnis verdunkeln. Ueber die moralische Seite zu sprechen, ist unsere Sache. Denn so viel auch die Judenfrage jetzt erörtert wird, was in der Seele der deutschen Juden vorgeht, was vom jüdischen Standpunkt zu den Vorgängen zu sagen ist, kann niemand aussprechen als wir selbst. Die Juden können heute nicht anders als als Juden sprechen. Alles andere ist völlig sinnlos. Der Spuk der sogenannten „Judenpresse“ ist weggeblasen. Der verhängnisvolle Irrtum vieler Juden, man könne jüdische Interessen unter anderem Deckmantel vertreten, ist beseitigt. Das deutsche Judentum hat am 1. April eine Lehre empfangen, die viel tiefer geht, als selbst seine erbitterten und heute triumphierenden Gegner annehmen.
Es ist nicht unsere Art zu lamentieren. Auf Ereignisse von dieser Wucht mit sentimentalen Salbadereien zu reagieren, überlassen wir jenen Juden einer vergangenen Generation, die nichts gelernt und alles vergessen haben. Es bedarf heute eines neuen Tones in der Diskussion jüdischer Angelegenheiten. Wir leben in einer neuen Zeit, die nationale Revolution des deutschen Volkes ist ein weithin sichtbares Signal, daß die alte Begriffswelt zusammengestürzt ist. Das mag für viele schmerzlich sein, aber in dieser Welt sich behaupten kann nur, wer den Realitäten ins Auge sieht. Wir stehen mitten in einer gewaltigen Umwandlung des geistigen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Unsere Sorge ist: Wie reagiert das Judentum?
Der 1. April 1933 kann ein Tag des jüdischen Erwachens und der jüdischen Wiedergeburt sein. Wenn die Juden wollen. Wenn die Juden reif sind und innere Größe besitzen. Wenn die Juden nicht so sind, wie sie von ihren Gegnern dargestellt werden.
Das angegriffene Judentum muß sich zu sich selbst bekennen.
Auch an diesem Tage stärkster Erregung, wo im Angesicht des beispiellosen Schauspiels der universalen Verfemung der gesamten jüdischen Bevölkerung eines großen Kulturlandes die stürmischsten Empfindungen unser Herz durchzogen, haben wir vor allem Eines zu wahren: Besonnenheit. Stehen wir fassungslos vor dem Geschehen dieser Tage, so dürfen wir doch nicht verzagen und müssen uns ohne Selbsttäuschung Rechenschaft able-gen. Man müßte in diesen Tagen empfehlen: daß die Schrift, die an der Wiege des Zionismus stand, Theodor Herzls „Judenstaat“ in hunderttausenden Exemplaren unter Juden und Nichtjuden verbreitet wird. Wenn es noch Gefühl für Größe und Adel, für Ritterlichkeit und Gerechtigkeit gibt, müßte jeder Nationalsozialist, der dieses Buch zu Gesicht bekommt, vor seinem eigenen blinden Tun erstarren. Aber auch jeder Jude, der es liest, würde beginnen zu verstehen; und würde daraus Trost und Erhebung schöpfen.
Theodor Herzl, dessen reiner Name in diesen Tagen durch ein Zitat aus einer Fälschung vor der gesamten deutschen Oeffentlichkeit befleckt wurde, schrieb in der Einleitung der genannten Schrift:
„Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten. Den großmütigen Willen zeigten sie ja, als sie uns emanzipierten. Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher Anzahl leben ...
Ich glaube den Antisemitismus, der eine vielfach komplizierte Bewegung ist, zu verstehen. Ich betrachte diese Bewegung als Jude, aber ohne Haß und Furcht. Ich glaube zu erkennen, was im Antisemitismus roher Scherz, gemeiner Brotneid, angeerbtes Vorurteil, religiöse Unduldsamkeit - aber auch, was darin vermeintliche Notwehr ist. Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse, wenn sie sich auch noch so und anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird.“
Man müßte Seite um Seite dieser 1896 erschienenen Schrift abschreiben, um zu zeigen: Theodor Herzl war der erste Jude, der unbefangen genug war, den Antisemitismus im Zusammenhang mit der Judenfrage zu betrachten. Und er erkannte, daß nicht durch Vogel-Strauß-Politik, sondern nur durch offene Behandlung der Tatsachen vor aller Welt eine Besserung erzielt werden kann. Gegen nichts hat er so leidenschaftlich Stellung genommen als gegen das, was ihm jetzt unterschoben wird, nämlich gegen den Gedanken, die Juden könnten eine nichtöffentliche Weltverbindung herstellen oder irgend etwas tun, was bei den anderen Völkern irrtümlicherweise solche Vorstellungen erwecken könnte. In seinem Aufsatz „Leroy-Beaulieu über den Antisemitismus“ schreibt er:
„Wir Zionisten sind auf das deutlichste und entschiedenste gegen jede internationale Vereinigung von Juden, die, wenn sie wirksam wäre, den mit Recht verpönten Staat im Staate vorstellte und, da sie machtlos und nichtssagend ist, nur Nachteile bietet... Nur das sei gesagt, daß wir zur Lösung der Judenfrage nicht einen internationalen Verein, sondern eine internationale Diskussion wünschen, das heißt: nicht Bündeleien, geheime Interventionen, Schleichwege, sondern die freimütige Erörterung unter der beständigen und vollständigen Kontrolle der öffentlichen Meinung.“
Wir im Geiste Theodor Herzls erzogenen Juden wollen auch heute nicht anklagen, sondern verstehen. Und uns fragen, was unsere eigene Schuld ist, was wir selbst gesündigt haben. Immer hat das jüdische Volk in kritischen Tagen seines Schicksals sich zunächst die Frage vorgelegt, was seine eigene Schuld ist. In unserem wichtigsten Gebete heißt es: „Um unserer Sünden willen wurden wir aus unserem Lande vertrieben.“ Nur wenn wir kritisch gegen uns sind, werden wir gerecht auch gegen andere sein.
Die Judenheit trägt eine schwere Schuld, weil sie den Ruf Theodor Herzls nicht gehört, ja, teilweise verspottet hat. Die Juden wollten nichts davon wissen, daß „eine Judenfrage besteht“. Sie glaubten, es komme nur darauf an, als Jude nicht erkannt zu werden. Man wirft uns heute vor, wir hätten das deutsche Volk verraten; die nationalsozialistische Presse nennt uns, und wir sind dagegen wehrlos, den „Feind der Nation“.
Es ist nicht wahr, daß die Juden Deutschland verraten haben. Wenn sie etwas verraten haben, so haben sie sich selbst, das Judentum verraten.
Weil der Jude sein Judentum nicht stolz zur Schau trug, weil er sich um die Judenfrage herumdrücken wollte, hat er sich mitschuldig gemacht an der Erniedrigung des Judentums. Bei aller Bitterkeit, die uns beim Lesen der nationalsozialistischen Boykottaufrufe und der ungerechten Beschuldigungen erfüllen muß, für eines können wir dem Boykottausschuß dankbar sein. In den Richtlinien heißt es in § 3:
„Es handelt sich ... selbstverständlich um Geschäfte, die sich in den Händen von Angehörigen der jüdischen Rasse befinden. Die Religion spielt keine Rolle. Katholisch oder protestantisch getaufte Geschäftsleute oder Dissidenten jüdischer Rasse sind im Sinne dieser Anordnung ebenfalls Juden.“
Dies ist ein Denkzettel für alle Verräter am Judentum. Wer sich von der Gemeinschaft wegstiehlt, um seine persönliche Lage zu verbessern, soll den Lohn dieses Verrats nicht ernten. In dieser Stellungnahme gegen das Renegatentum ist ein Ansatz zur Klärung enthalten. Der Jude, der sein Judentum verleugnet, ist kein besserer Mitbürger als der, der sich aufrecht dazu bekennt. Renegatentum ist eine Schmach, aber solange die Umwelt Prämien darauf setzte, schien es ein Vorteil. Nun ist es auch kein Vorteil mehr. Der Jude wird als solcher kenntlich gemacht. Er bekommt den gelben Fleck.
Daß die Boykottleitung anordnete, an die boykottierten Geschäfte Schilder „mit gelbem Fleck auf schwarzem Grund“ zu heften, ist ein gewaltiges Symbol. Diese Maßregel ist als Brandmarkung, als Verächtlichmachung gedacht. Wir nehmen sie auf, und wollen daraus ein Ehrenzeichen machen.
Viele Juden hatten am Sonnabend ein schweres Erlebnis. Nicht aus innerem Bekenntnis, nicht aus Treue zur eigenen Gemeinschaft, nicht aus Stolz auf eine großartige Vergangenheit und Menschheitsleistung, sondern durch den Aufdruck des roten Zettels und des gelben Flecks standen sie plötzlich als Juden da. Von Haus zu Haus gingen die Trupps, beklebten Geschäfte und Schilder, bemalten die Fensterscheiben, 24 Stunden lang waren die deutschen Juden gewissermaßen an den Pranger gestellt. Neben anderen Zeichen und Inschriften sah man auf den Scheiben der Schaufenster vielfach einen großen Magen David, den Schild König Davids. Dies sollte eine Entehrung sein. Juden, nehmt ihn auf den Davidsschild, und tragt ihn in Ehren!
Denn - und hier beginnt die Pflicht unserer Selbstbesinnung -, wenn dieser Schild heute befleckt ist, so sind es nicht unsere Feinde allein, die dies bewirkt haben. Viele Juden gab es, die sich nicht genug tun konnten in würdeloser Selbstverhöhnung. Das Judentum galt als überlebte Sache, man betrachtete es ohne Ernst, man wollte sich durch Lächeln von seiner Tragik befreien.
Aber es gibt heute bereits den Typus des neuen, freien Juden, den die nichtjüdische Welt noch nicht kennt.
Wenn heute in der nationalsozialistischen und deutschnationalen Presse häufig auf einen Typus des jüdischen Literaten und auf die sogenannte Judenpresse hingewiesen wird, wenn das Judentum für diese Faktoren verantwortlich gemacht wird, so muß immer wieder gesagt werden, daß diese keine Repräsentanten des Judentums sind, sondern höchstens geschäftlich von den Juden zu profitieren versucht haben. In einer Zeit bourgeoiser Selbstgerechtigkeit konnten diese Elemente auf Beifall auch bei jüdischen Zuhörern rechnen, wenn sie Juden und Judentum verhöhnten und bagatellisierten. Wie oft wurden uns Nationaljuden von dieser Seite die Ideale eines abstrakten Weltbürgertums gepredigt, um alle tieferen Werte des Judentums zu vernichten. Aufrechte Juden waren stets entrüstet über die Witzeleien und Karikaturen, die von jüdischen Possenreißern genau so oder in noch höherem Maß gegen das Judentum wie gegen Deutsche oder andere gerichtet wurden. Das jüdische Publikum beklatschte seine eigene Erniedrigung, und viele versuchten, dadurch ein Alibi für sich zu schaffen, daß sie in den Spott miteinstimmten. Auch jetzt, in diesen schweren Tagen, glauben manche sich durch Fahnenflucht oder Anschmeißerei retten zu können. Der „Völkische Beobachter“ vom 2. April berichtet schmunzelnd, daß die Boykottleitung von jüdischen Geschäftsleuten überlaufen wurde, die für sich eine Ausnahmebehandlung wünschten. Viele, so behauptet der „V. B.“ hätten sich schnell taufen lassen, um sagen zu können, sie seien Christen.9 Glücklicherweise geht selbst aus der Darstellung des „V. B.“ hervor, daß solche Fälle vereinzelt waren. Aber die Zeit des Druckes ist noch nicht vorüber, wir stehen am Anfang, und darum muß von dieser Gefahr die Rede sein.
Denn die Gefahr, die größte Gefahr, die dem Judentum droht, ist die einer Verderbnis und Verkrüppelung des Charakters. Die Nationalsozialisten erklären in ihren Reden und in ihren Kundgebungen, daß sie Charakterlosigkeit mehr verachten als alles. Dr. Goebbels hat sich in seiner letzten Rede über die Wandlung der „jüdischen Presse“ lustig gemacht, die so schnell umgelernt habe, daß die Redakteure des „Angriff“ vor Neid erblassen müßten.
Wenn der Nationalsozialismus diese Sachlage erkennt, dann müßte er sich als jüdischen Partner ein Judentum wünschen, das seine Ehre hoch hält.
Er dürfte nicht jüdische Charakterlosigkeit fördern, um sie dann brandmarken zu können. Er dürfte dem Juden, der sich offen als Jude bekennt und der nichts verbrochen hat, seine Ehre nicht bestreiten. Ob dem so ist, wird sich bald erweisen: Man hat jetzt eine Prozentnorm für gewisse Berufe angekündigt oder kurzerhand bereits eingeführt. Wir werden noch davon zu sprechen haben, wie schwer diese Maßregel die deutschen Juden moralisch und wirtschaftlich trifft; aber wenn die Liste derer zusammengestellt wird, denen als Juden - denn als solche sind sie ja hier ausgewählt - innerhalb der Prozentnorm die Ausübung des Berufes gestattet wird, dann darf nicht derjenige benachteiligt sein, der offen und klar zum Judentum steht. Das ist die logische Konsequenz, die sich für die Nationalsozialisten aus ihrer eigenen Anschauung ergeben müßte.
Über die Judenfrage zu reden, galt noch vor dreißig Jahren in gebildeten Kreisen als anstößig. Man betrachtete damals die Zionisten als Störenfriede mit einer idee fixe. Jetzt ist die Judenfrage so aktuell, daß jedes kleine Kind, jeder Schuljunge und der einfache Mann auf der Straße kein anderes Gesprächsthema hat. Allen Juden in ganz Deutschland wurde am 1. April der Stempel „Jude“ aufgedrückt. Nach den neuen Anweisungen des Boykottkomitees soll, falls der Boykott erneuert wird, nur noch eine einheitliche Bezeichnung aller Geschäfte stattfinden: bei Nichtjuden der Vermerk „Deutsches Geschäft“, bei Juden einfach das Wort „Jude“. Man weiß, wer Jude ist. Ein Ausweichen oder Verstecken gibt es nicht mehr. Die jüdische Antwort ist klar. Es ist der kurze Satz, den Moses zum Ägypter sprach: Iwri anochi. Ja, Jude. Zum Jude-Sein Ja sagen. Das ist der moralische Sinn des gegenwärtigen Geschehens. Die Zeit ist zu aufgeregt, um mit Argumenten zu diskutieren. Hoffen wir, daß eine ruhigere Zeit kommt, und daß eine Bewegung, die ihren Stolz dareinsetzt, als Schrittmacherin der nationalen Erhebung gewürdigt zu werden, nicht ihr Gefallen daran finden wird, andere zu entwürdigen, selbst wenn sie meint, sie bekämpfen zu müssen. Aber wir Juden, - unsere Ehre können wir verteidigen. Wir gedenken aller derer, die seit fünftausend Jahren Juden genannt, als Juden stigmatisiert wurden. Man erinnert uns, daß wir Juden sind. Wir sagen Ja, und tragen es mit Stolz.