Artikel in der „Jüdischen Rundschau“
Jüdische Rundschau: Leitartikel vom 31. Januar 1933 zur Ernennung Adolf Hitlers:
Regierung Hitler
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und die Bildung einer Regierung, in welcher die Nationalsozialisten die wichtigsten Machtpositionen inne haben, beendet einen Zustand der Unklarheit und sich immer erneuernden Verwirrungen, der die letzte Epoche innerer deutscher Geschichte charakterisiert. Wir stehen als Juden vor der Tatsache, daß eine uns feindliche Macht die Regierungsgewalt in Deutschland übernommen hat. Wer ein Gefühl für Realität hatte und sich nicht durch die Beschwichtigungen der liberalen Presse, die immer wieder einen Zerfall der nationalsozialistischen Bewegung zu sehen glaubte, beirren ließ, konnte sich freilich keiner Täuschung darüber hingeben, daß die in den großen nationalsozialistischen Wahlerfolgen zutage getretene politische Umgruppierung und geistige Umstellung des deutschen Volkes früher oder später auch in der Zusammensetzung der Regierung ihr Widerspiel finden müsse.
Der Nationalsozialismus ist eine judenfeindliche Bewegung, er ist programmatisch in einem Maße antisemitisch, wie es noch keine Partei war, er verdankt der skrupellosen Judenhetze einen großen Teil seiner agitatorischen Erfolge. Dies konnte uns aber niemals verhindern, die Tatsache anzuerkennen, daß der Nationalsozialismus eine entscheidende Kraft im deutschen Volke geworden ist, die geringzuschätzen irrig wäre. Darum haben wir uns auch, als Hitler am 13. August und am 25. November vom Reichspräsidenten abgewiesen wurde, keineswegs so erleichtert und befriedigt gezeigt, wie ein Teil der Judenschaft, der Gesamtzusammenhänge nicht sehen will und an den politischen Einzelerscheinungen des Tages haftet. Hitler fand Gegner und Widerstände, aber wenn ihm im letzten halben Jahr der Weg zur Macht versperrt war, so gewiß nicht wegen seines antisemitischen Programms. Eher kann man sagen, daß unter dem Drucke der Hitlerpartei auch ohne Machtergreifung Hitlers die Ausschaltung der Juden bereits betrieben wurde. Die „Jüdische Rundschau“ hat anläßlich der ersten Abweisung Hitlers auf die augenfällige Parallele mit dem Schöpfer der christlich-sozialen Partei in Wien, Dr. Lueger, hingewiesen. Lueger, der zu seiner Zeit für die ganze Welt ebenso die Symbolgestalt des Antisemitismus war wie Hitler heute, wurde nach seiner Wahl zum Wiener Bürgermeister zweimal von Kaiser Franz Josef abgewiesen. Das dritte Mal mußte er bestätigt werden und errang so einen Triumph über den alten Kaiser. Unsere Vermutung, daß Hitler denselben Weg gehen wird, hat sich bestätigt. Noch vor 24 Stunden war man über die Lösung der Regierungskrise durchaus im Unklaren. Noch schien zwischen den einzelnen Gruppen der Rechten, die sich vor kurzem erbittert untereinander bekämpft haben, keine Einigung möglich. Auch die Rolle der einzelnen Persönlichkeiten in diesem Endspiel ist schwer zu durchschauen, aber es ist nicht unsere Sache, sie zu beurteilen. Die rechtsstehende „D. A.Z.“ stellte in ihrer Sonntagsausgabe fest, daß Hindenburg sich bisher stets entschieden geweigert hat, Hitler als Führer eines Präsidial-Kabinetts zu akzeptieren, und da Hitlers Chancen auf eine parlamentarische Mehrheit gering sind, stellte die „D.A.Z.“ die Frage: „Hofft der Reichspräsident, daß die Hitler-Bewegung nachgeben wird oder hat er sich entschlossen, selbst nachzugeben?“ Die Zeitung will damit wohl sagen, daß beide Möglichkeiten ausscheiden.
Während diese Zeilen in Druck gehen, sind die Grundlagen, auf denen das neue Kabinett gebildet wurde, noch nicht bekannt. Unklar ist vor allem, ob das Zentrum eine parlamentarische Lebensform des Kabinetts ermöglicht. Die Regierung scheint auf die Unterstützung von Gruppen angewiesen zu sein, die durch ihre Grundsätze und durch das Gebot politischer Klugheit gebunden sind, über die Wahrung der verfassungsmäßigen Grundrechte der Staatsbürger zu wachen. Den Reichspräsidenten, der Hitler ernannt hat, bindet sein Verfassungseid, seine moralische Autorität und seine internationale Reputation. Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der deutschen Juden ist aber in der Reichsverfassung verankert. Wir können nur wiederholen, was wir am 12. August an dieser Stelle schrieben: „Wird Hitler Reichskanzler, dann darf doch nicht das Programm der nationalsozialistischen Partei mit seinen bekannten antijüdischen Satzungen das Programm des Deutschen Reiches werden. Als Parteiführer konnte Hitler sich auf die von ihm fanatisierten Massen stützen, als Reichskanzler muß er wissen, daß Deutschland aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist, die Anspruch auf Respektierung ihrer Eigenart haben.“ Die deutschen Juden, von der Partei des Reichskanzlers dauernd bedroht und beleidigt, herabgewürdigt und verleumdet, fordern von jeder Regierung, welche es auch sei, die Respektierung ihrer Existenz, ihrer Ehre und Art. Die ganze Welt blickt heute auf Deutschland, insbesondere das jüdische Volk. Trotz der numerischen Geringfügigkeit des deutschen Judentums steht für alle Juden der Welt das Schicksal der deutschen Juden im Mittelpunkt des Interesses. Wir sind überzeugt, daß auch im deutschen Volk die Kräfte noch wach sind, die sich gegen eine barbarische antijüdische Politik wenden würden. Darüber hinaus aber ist Deutschlands Stellung innerhalb der gesamten Kulturnationen abhängig von seinem Verhalten in der Judenfrage. Auch ein nationalsozialistisch regiertes Deutschland kann die Verschlungenheit der internationalen Beziehungen nicht ignorieren.
Die deutschen Juden, denen die neue Wendung nicht unerwartet kommen kann, haben ihre innere Ruhe und Würde zu wahren. Es ist selbstverständlich, daß das deutsche Judentum sich gegen jeden Versuch der formalen und tatsächlichen Entrechtung und Depossedierung mit allen Mitteln und aller Energie zur Wehr setzen wird. Diesen Kampf kann nur ein Judentum führen, das von unbeugsamem Stolz auf sein Volkstum erfüllt ist. Mit Versuchen der Anpassung und Selbstverleugnung ist es vorbei. Die deutschen Juden, die den falschen Parolen ihrer Führer von gestern vertraut haben und sich dem Glauben an fortschreitende Besserung durch „Aufklärung“ hingaben, verlieren den Boden unter den Füßen. Angesichts der geschaffenen Bedingungen muß das deutsche Judentum mehr als bisher sich zur Selbsthilfe zusammenschließen. Den Geist des Judentums lebendig und aktiv zu erhalten - das ist die Aufgabe. Niemals war es so wichtig wie jetzt, den Glauben an das Judentum und seine Zukunft fest und unerschütterlich zu machen. Das jüdische Volk ist der Träger unvergänglicher Werte, der Fortsetzer einer unvergleichlichen Geschichte. In Zeiten der Gefahr und in Zeiten der Not gilt es, sich diese Tatsache mit aller Kraft ins Bewußtsein zu rufen.