Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Wie schon der Juli war auch der August von der im Frühjahr 1935 einsetzenden Welle antijüdischer Gewalttätigkeit geprägt, die in diesen beiden Monaten zugleich ihren Höhepunkt erreichte. Das zunehmend unkontrollierbare Ausmaß dieser Unruhen erschien selbst dem NS-Regime aus wirtschaftlichen und Prestigegründen zu gefährlich zu werden, so dass gleich mehrere Anordnungen zur Eindämmung der antisemitischen Aktionen ergehen: Am 2. August eine durch Rudolf Heß als Stellvertreter des „Führers“, am 8. August ein Befehl Hitlers und am 20. August schließlich aufgrund dieses Führerbefehls ein Erlass von Reichsinnenminister Frick.
Am 18. August äußerte auch Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister Schacht in einer Rede auf der Königsberger Ostmesse deutliche Kritik an den radikalen Methoden der NS-Judenpolitik. Niemand in Deutschland sei rechtlos, so betonte er. Die Gesetzgebung zur Regelung der „Judenfrage“ sei in Vorbereitung und müsse abgewartet werden. Bis dahin aber seien die bestehenden Gesetze unbedingt zu achten. Jede Störung der Wirtschaft, von welcher Seite sie auch immer erfolgen möge, wirke wie Sand in der Maschine des wirtschaftlichen Aufbaus. Es sei für diesen Prozess unerlässlich, dass das Vertrauen in Deutschland als Rechtsstaat unerschüttert bleibe.
Am 20. August schließlich wurde im Rahmen einer interministeriellen Chefbesprechung von verschiedenen Seiten ebenfalls Kritik an den antijüdischen „Einzelaktionen“ einiger Parteistellen geübt. Als Konsens der Besprechung wurde festgehalten, dass einerseits die „uferlose Ausdehnung antisemitischer Betätigung unverantwortlicher Organisationen bzw. Privater auf alle möglichen Lebensgebiete“ durch gesetzliche Maßnahmen unterbunden werden solle. Andererseits aber sollte die Sondergesetzgebung gegen die Juden, vor allem auf wirtschaftlichen Gebieten, weiter ausgebaut werden.
Auch die Reichsvertretung der deutschen Juden reagierte auf die eskalierende Lage und verfasste am 6. August ein „Trostwort“, das als öffentliche Protestaktion in allen Synagogen verlesen wurde.
Zugleich nahm die Kontrolle jüdischen Lebens durch das NS-Regime und der Ausbau einer allumfassenden Überwachung ihren ungehinderten Fortgang. So ordnete der von Goebbels Ende Mai ernannte Sonderbeauftragte für die Überwachung der geistigen und kulturellen Tätigkeiten der deutschen Juden, Hinkel, am 6. August an, dass sich sämtliche jüdischen Kulturorganisationen sich umgehend dem „Reichsverband jüdischer Kulturbünde“ anzuschließen hätten, dessen Leitung ihm unterstellt war. Nur Mitglieder des Reichsverbands durften künftig aktiv oder als Zuschauer an jüdischen kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, für die nur noch ausschließlich in jüdischen Zeitungen geworben werden durfte.
Am 17. August verordnete das Berliner Gestapa, dass sämtliche jüdische Organisationen ihre Mitgliederlisten auszuhändigen hätten, auf deren Grundlage eine „Judenkartei“ für das gesamte Reichsgebiet angelegt werden sollte. Diese umfassende Aufgabe wurde alsbald in Angriff genommen. So veröffentliche die Gestapo Karlsruhe am 6. September einen entsprechenden Erlass über die Erfassung aller Mitglieder jüdischer Organisationen in Deutschland in einer solchen „Judenkartei“, die der polizeilichen Überwachung dienen sollte.
Weitere Ausgrenzungen und Verbote folgten. Am 16. August bestimmte das Badische Kultusministerium, dass jüdische Schülerinnen und Schüler in Zeugnissen künftig nicht mehr charakterlich beurteilt werden durften. Zwei Tage später kam das Ende aller Freimaurerlogen, die bis dahin ihre Auflösung noch nicht selbst beschlossen hatten. Sie wurden bei Beschlagnahmung ihres gesamten Vermögens verboten.
Ansonsten steuerte alles auf eine endgültige gesetzliche Regelung der „Rassenfrage“ hin. So ordnete das Reichspropagandaministerium am 30. August an, jegliche diskriminierende antisemitische Maßnahmen bei der Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu unterlassen, bis eine entsprechende Gesetzgebung veröffentlicht sei. Wann das zu erwarten war, ging aus einem Schreiben hervor, das Reichsorganisationsleiters Ley am 23. August an die Dienststellen der Deutschen Arbeitsfront richtete: „Der Stürmer gibt zum Reichsparteitag eine Sondernummer heraus, betitelt: ‚Menschenmörder von Anfang an‘. - In dieser Ausgabe sind die jüdischen Revolutionen vom Altertum bis zur Jetztzeit und insbesondere der Marxismus von Karl Marx bis zur ‚Komintern‘ erschöpfend behandelt. Diese Sondernummer ist möglichst jedem Angehörigen der Deutschen Arbeitsfront in die Hand zu geben. Die Dienststellen der Deutschen Arbeitsfront werden deshalb angewiesen, für weitgehendste Verbreitung der betreffenden Stürmer-Sondernummer in den Betrieben usw. Sorge zu tragen.“ - Im Rahmen des Reichsparteitages im September war also Entsprechendes zu erwarten.