Mai 1939
Der Monat brachte hinsichtlich des bis dahin geltenden Freund-/Feinddenkens eine große Überraschung: Am 5. Mai wurde seitens des Propagandaministeriums in der täglichen Pressekonferenz die vertrauliche Anweisung erteilt, in Zeitungen und Zeitschriften Polemiken gegen „Russland und den Bolschewismus“ umgehend einzustellen. Damit sollte der Weg zu einem etwaigen Abkommen zwischen beiden Staaten begehbar gemacht werden. Drei Tage später folgte eine weitere Anweisung zur „Polenfrage“: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, als stünden wir schon kurz vor entscheidenden Ereignissen.“
Hierfür wurde aber weiterhin Vorsorge getroffen, indem am 22. Mai in Berlin ein als „Stahlpakt“ bezeichnetes Freundschafts- und Bündnisabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Italien unterzeichnet wurde. Durch diesen Vertrag wurde die im Oktober 1936 ins Leben gerufene „Achse Berlin-Rom“ erneuert, indem beide Regierungen versicherten, „Seite an Seite und mit vereinten Kräften für dich Sicherung ihrer Lebensräume“ eintreten zu wollen. Damit hatte sich Italien eng an die deutschen Expansionspläne gebunden.
Hinsichtlich der prekären Rohstofffrage wurde der Bevölkerung Hoffnung gemacht. Am 14. Mai veröffentlichte die deutsche Sonntagspresse große und euphorische Berichte über kurz zuvor durchgeführte Inbetriebnahme des ersten deutschen Buna-Werks in Schkopau. Hier sollte künftig in – sehr kostspieligem – großtechnischen Verfahren künstlicher Kautschuk hergestellt und so die Rüstungswirtschaft hemmende Rohstoffengpässe auf diesem Gebiet beseitigt werden.
Ansonsten war man regimeseitig bemüht, einer möglichst entspannten öffentlichen Stimmung Vorschub zu leisten. Das kam besonders am 1, Mai zum Ausdruck, als mit Kundgebungen und Betriebsappellen „Tag der nationalen Arbeit“ begangen wurde. Die Höhepunkte stellten dabei der Aufmarsch von rund 130.000 Angehörigen von HJ und BDM im Berliner Olympiastadion sowie der zentrale Staatsakt im Lustgarten dar. Gefeiert wurde aber im gesamten Reichsgebiet, wobei weniger die politische Dimension, sondern weit mehr der Versuch im Vordergrund stand, den Tag als eine Art fröhliches Beisammensein erfahrbar zu machen.
Die immer wieder bemühte „Volksgemeinschaft“ sollte nun aber auch auf einem anderen Gebiet manifestiert werden. Zur Eröffnung des Hauses des Deutschen Rechts in München kündigte Reichsminister Hans Frank am 13. April nämlich die Schaffung eines „Deutschen Volksgesetzbuches“ an, das das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 ersetzen sollte. Es sei, so begründete Frank diesen Schritt, nach sechs Jahren NS-Herrschaft an der Zeit, das neue NS-„Recht“ auch schriftlich zu fixieren. Das „Volksgesetzbuch“ sollte demnach in „volksnaher“ Sprache verfasst werden und die von NS-Seite propagierte „völkische Gemeinschaft“ zum neuen Rechtsideal erheben. Das bedeutete für Frank zugleich die Abkehr von der „Selbstherrlichkeit des Individuums“. Individuelle Interessen sollten künftig nur dann juristisch geschützt werden, sofern sie „dem allgemeinen Besten“ dienen würden.
Und für dessen Definition und Gewährleistung sollten ausschließlich die Vorgaben des NS-Regimes relevant sein. Unter solchen Prämissen ordnete Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten am 15. Mai an, dass künftig jede Gründung einer deutschen Turn-und Sportgruppe seiner Genehmigung bedurfte.
Dass ein Krieg drohte, wurde der Bevölkerung erneut am 23. Mai vor Augen geführt, als durch neue Durchführungsverordnungen zum Luftschutzgesetz Hausbesitzer zum Kauf von Selbstschutzgerät und zur Vorbereitung der Verdunkelung verpflichtet wurden.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Laut der Ergebnisse der im Mai durchgeführten Volkszählung belief sich die aktuelle Zahl der im „Altreiche“ lebenden „Rassejuden“ auf 233.973. Etwa 20.000 von ihnen gehörten nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Die Zählung trug dazu bei, die jüdische Bevölkerung für die NS-Machthaber ein Stück weit „transparenter“ zu machen, denn sie erfasste auch die „Halb-“ und „Vierteljuden“ mitsamt ihren Familienangehörigen, listete sämtliche Haushaltsmitglieder auf und lieferte exakte Wohnadressen und weitere personenbezogene Angaben.
Laut der Ergebnisse der im Mai durchgeführten Volkszählung waren noch nur knapp 16 Prozent der im Reichsgebiet lebenden Juden erwerbstätig; 1933 hatte dieser Anteil 48 Prozent betragen. Mehr als 70 Prozent aller Juden über 14 Jahren galten laut der Zählung mittlerweile als „berufslose Selbständige“, waren also ohne feste Beschäftigung.
Im Mai konnte die Weltöffentlichkeit ein Spektakel verfolgen, das in aller Deutlichkeit die Unwägbarkeiten und Gefahren der Emigration vor Augen führte. Von Hamburg aus war das Passagierschiff „St. Louis“ der Reederei HAPAG mit 937 Jüdinnen und Juden Richtung Kuba in See gestochen – fast alle von ihnen mit gültigen Papieren in Form von kubanischen Touristenvisa und Genehmigungen der US-Einwanderungsbehörde ausgestattet. Nachdem die „St. Louis“ nirgends Anlegeerlaubnis erhielt, ging sie am 27. Mai in der Bucht von Havanna vor Anker. Trotz aller Bemühungen und Verhandlungen mit der kubanischen Regierung erkannte diese die Touristenvisa nicht an. Nachdem lediglich 29 Passagiere mit gültigen Dokumenten das Schiff verlassen hatte, musste es am 2. Juni die Anker lichten und in Form einer regelrechten Irrfahrt schließlich nach Europa zurückkehren, wo die belgische Regierung eine Landung in Antwerpen gestattete. – Diese dramatische Reise wird den Mut und die Zuversicht all jener, die verzweifelt auf ihre eigene Ausreise warteten, nicht eben gefördert haben.