Menü
Chronik und Quellen
1938
November 1938

Erinnerungen an das Pogrom in Köln

Gary G. Menkel erinnerte sich 1988 an den Tag des Pogroms in Köln und dessen Folgen:

„Zur Zeit dieses schicksalsreichen Tages war ich Schüler, in der Prima der Oberrealschule am Hansaring. Ich war der einzige ‚Nichtarier‘, das heißt, ich war ein ‚Mischling ersten Grades‘. Als ich an diesem Morgen zur Schule kam, hatte ich keine Ahnung, was während der Nacht passiert war und sich immer noch hinzog. Meine Klassenkameraden schauten mich seltsam an, und ich merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Bevor der Unterricht anfing, sagte mir der ‚Klassenführer‘ G. O., der auch irgendein Amtsträger in der Hitler-Jugend war, ich möchte den Raum verlassen, da die Klasse etwas ohne meine Anwesenheit zu besprechen habe. Ich ging weg und suchte nach meinem katholischen Geistlichen Lehrer, Studienrat Uedelhofen. Zur damaligen Zeit pflegte ich beim Schulgottesdienst bei St. Ursula die Orgel zu spielen und hatte daher ein besonders freundliches Verhältnis mit Dr. Uedelhofen. Er erklärte mir dann, was in Köln vorging. Er brachte mich in ein kleines Zimmer und bat mich zu warten, bis all die Aufregung vorbei wäre. Ich blieb dort einige Stunden allein. Zwischendurch kam einer der Studienräte, ein Dr. Muhs, der niemals mein Lehrer war, in das Zimmer und sagte mir mit Tränen im Auge: ‚Menkel, heute schäme ich mich, Deutscher zu sein.‘ Augenscheinlich hatten manche der Lehrer über meine Situation unter sich gesprochen. Bei Schulende kam jemand und sagte mir, ich solle meine Sachen aus dem Klassenzimmer abholen, nach Hause gehen und dort auf absehbare Zeit bleiben. Auf dem Weg nach Hause ging ich über die nahe Ritterstraße und sah, daß alle Schaufenster des ostjüdischen Gebrauchtkleiderladens zertrümmert waren und die Waren auf die Straße geschmissen waren. Weiter auf dem Heimweg, an der Neuen Maastrichter Straße, sah ich andere Läden zerstört. Als ich nach Hause kam, fühlten sich meine Eltern erleichtert, da sie sich Sorgen um mich gemacht hatten. Während des Nachmittages beobachteten wir von hinter den Vorhängen, wie eine Gruppe von SA eine jüdische Wohnung gegenüber betrat und, nachdem sie die unmittelbare Straße freigemacht hatten, ein Klavier vom 5. oder 6. Stock aus dem Fenster warfen. Abends, nachdem es dunkel wurde, besuchte ich zusammen mit meinem Vetter Ernst Menkel einige von unseren jüdischen Nachbarn, um zu sehen, wie es diesen ergangen war. Einer unserer Freunde, Arnold Meier, der unlängst von Trier/Bitburg nach Köln gezogen war, hatte von der SA ‚Besuch bekommen‘. Die hatten alle Möbel zertrümmert und Arnolds Vater verhaftet. Zum Schluss landete der in Dachau. Arnolds Eltern starben im Konzentrationslager. Arnold brachte es fertig, nach Amerika auszuwandern. Im Laufe des Abends standen wir auch vor der Roonstraßen-Synagoge und sahen zu, wie die Kölner Feuerwehr das Abbrennen dieses Gebäudes überwachte. Später hörten wir natürlich, dass auch andere Synagogen den Flammen preisgegeben wurden. Danach blieben wir einige Tage zu Hause und irgendwie kam es, dass wir keinen ‚Besuch‘ erhielten. Einige Tage darauf, als die Lage sich etwas zu beruhigen schien, ging mein Vater - gegen meinen Willen - zu meiner Schule und sprach zu dem Direktor, Dr. B., der ein ‚Alter Kämpfer Nazi‘ mit einem ‚goldenen Parteiabzeichen‘ war. Mein Vater überzeugte ihn, dass ich als ‚Halbarier‘ gemäß den Nürnberger Gesetzen das Recht hatte, weiter zur Schule zu gehen!

Danach verbrachte ich weitere drei Monate in der Schule und machte mein Abitur im März 1939. Diese drei Monate waren natürlich die schlimmsten meines Lebens, und für viele Jahre danach hatte ich noch Angstträume über Schule. Außerdem fand ich heraus, dass an dem bestimmten ‚Tag‘ G. O. meine Klassenkameraden dazu gezwungen hatte, für mein Ausscheiden aus der Schule zu wählen. Nur ganz wenige von meinen Freunden hatten die Courage, zu meinen Gunsten zu stimmen. Im Rückblick scheint meine Geschichte trivial, besonders im Vergleich zu dem, was später geschah. Nichtsdestoweniger, die furchtbare Schmach, die wir erlitten, hat Wunden für den Rest unseres Lebens hinterlassen.“

M.H. - ein Klassenkamerad von Gary Menkel - ergänzte ebenfalls 1983:

"Auf der damaligen „Oberrealschule am Hansaring", auf der ich im März 1939 mein Abitur machte, habe ich mit meinem Klassenkameraden Günter Menkel die Ereignisse um die sogenannte Reichskristallnacht erlebt. Ich bewunderte als Mitschüler vorher manchmal die hebräischen Zeichen, die mir Menkel in Grundzügen erklärte. Ich bin nicht sicher, ob er oder Mitglieder der Familie zum katholischen Glauben konvertiert waren, jedenfalls ist mir das gute Verhältnis von Menkel zu unserem Religionslehrer Herrn Dr. Uedelhofen in Erinnerung. Ich hatte an dem Tage um die Kristallnacht, soviel ich weiß, in der 2. Stunde Religionsunterricht bei Dr. Uedelhofen, bei dem ich auch Kommunionsunterricht und später die Kommunion in St. Ursula hatte. Menkel war, soviel ich mich erinnere, noch in der ersten Unterrichtsstunde da und dann verschwunden. Nach der Religionsstunde rief mich Dr. Uedelhofen zu sich und sagte mir unter vier Augen, es täten sich schreckliche Dinge und Menkel sei in Gefahr. Er glaube, daß ich helfen könnte. Er bat mich, ob ich von Menkel die Schultasche von seinem Platz und den Mantel, der an einem Haken in der Klasse ging, unauffällig an mich nehmen würde. Ich habe sofort zugestimmt. Nun bin ich nicht ganz sicher, ob ich die beiden Sachen im Lehrerzimmer Herrn Dr. Uedelhofen oder Angehörigen oder Freunden der Familie Menkel ausgehändigt habe. An besondere Aktionen mit Provokationen oder Nötigungen an diesem Tage in seinem weiteren Verlauf kann ich mich nicht erinnern. Ich bin jedenfalls unbehelligt geblieben. Trotz vieler schrecklicher Erlebnisse im Kriege muß ich auch heute immer noch feststellen, daß dieser Tag mir in ganz besonderer Weise im Gedächtnis geblieben ist. Es war das erste Mal, daß ich als damals unbedarfter Schüler ein Zeichen gesetzt bekam, daß an dem System, welches uns regierte, etwas nicht stimmen konnte."

Baum wird geladen...