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Chronik und Quellen
1941
Dezember 1941

Deportation von Köln nach Riga

Karl Schneider aus Euskirchen in der Eifel war einer jener 1.000 Menschen, die am 7. Dezember 1941 von Köln aus ins lettische Riga deportiert wurden. Er überlebte das Getto und mehrere KZ-Aufenthalte und brachte später folgende Erinnerungen zu Papier:

„Ich gehörte dem ersten Kölner Transport an, der am 7. Dezember 1941 von Köln aus nach Riga deportiert worden ist. Aus diesem Grunde und als reges Mitglied der Kölner Gruppe ist es mir geläufiger, speziell über diese Gruppe bezüglich des jüdischen Lebens zu berichten.

Schon bei unserer Ankunft in Riga bestand das Ghetto. Es war der schlechteste Teil eines Altstadtviertels von Riga, der vorwiegend von Russen bewohnt worden war. Beim Einmarsch der Deutschen wurde dieses Viertel geräumt und als Ghetto für die lettischen Juden hergerichtet. Das ganze Ghetto war mit Draht umspannt und außerhalb der Umzäunung standen lettische SS-Männer. Verschieden große Aktionen hatten schon vor unserer Ankunft innerhalb des Ghettos stattgefunden.

Das Ghetto zerfiel in drei Teile: Das lettische Männerghetto, das lettische Frauenghetto sowie den größten Teil, der für die Juden aus dem Reichsgebiet vorgesehen war. Zu den Reichsjuden zählten all diejenigen, die aus Deutschland, Prag und Wien auf dem Wege der Deportation in Riga landeten. Im Gegensatz zu den lettischen Juden, wo Männer und Frauen getrennt leben mussten, wohnten wir Reichsjuden mit unseren Familien, solange das Ghetto bestand, zusammen.

Im Abstand von einzelnen Tagen trafen nach unserer Ankunft am 10. Dezember 1941 immer neue Transporte aus dem Reich ein. Jeder Transport war ungefähr 1.000 bis 1.200 Personen stark, bestehend aus Männern, Frauen und Kindern.

Jeder angekommenen Gruppe wurde ein Viertel zum Bewohnen angewiesen, worauf die Straße gleich den Namen der Gruppe bekam. So entstanden auf diesem Wege die Kölner Straße, aber auch andere, die nach den Transporten aus Kassel, Dortmund, Leipzig, Berlin u.a. benannt wurden. Jede Gruppe hatte ihre eigene Verwaltung, und der jeweilige Transportleiter wurde zum Gruppen-Ältesten ernannt. Diese bildeten dann den Al-testen-Rat, und über diesem stand der Vorsitzende.

Alle Verfügungen ergingen vom Ghetto-Kommandanten an den Leiter der Ältesten, die dann wieder ihre Gruppen informieren mussten. Die allgemeine Verwaltung lag beim Zentral-Arbeitsamt und der Zentral-Verwaltung.

Es war ein großes Bedürfnis für Schulen und Kindergärten. Fast alle arbeitsfähigen Männer und Frauen mussten täglich außerhalb des Ghettos zur Arbeit, so dass die Kinder versorgt werden mussten.

Als Vorsitzenden des Ältesten-Rates hatte man unseren Gruppen-Ältesten Max Leiser gewählt. Herr Leiser war in Köln beim Jüdischen Wohlfahrtsamt als Leiter. Schon aufgrund dieser gehabten Position war er sehr für jüdische Dinge interessiert, und es gelang ihm, beim Kommandanten die Genehmigung zur Gründung von Kindergärten und Schulen für das ganze Ghetto zu erwirken. Obwohl am Anfang viel Durcheinander zu verzeichnen war, was besonders durch die große Wohnungsnot hervorgerufen wurde, ordnete sich das langsam alles. So fanden sich dann auch Räume für Schulen und Kindergärten.

Die Leitung des Kindergartens unserer Gruppe lag in den Händen von Frau Manfred Levi. Sie war die Ehefrau des ehemaligen Synagogenangestellten Levi an der Synagoge Köln-Deutz. Worte können nicht sagen, in welch hervorragender Weise diese Frau ihres Amtes waltete. Man darf sie als Engel der Gruppe betrachten. Nicht nur als Leiterin des Kindergartens hatte sie sich große Verdienste geschaffen, sondern auch später als Fürsorgerin der Gruppe.

Im Kindergarten sowie der Schule gab es später mittags einen Teller Suppe, wofür die Eltern einen Teil ihrer Ration an der Küche abgeben mussten: Frau Levi standen noch einige junge Mädchen zur Verfügung.

Die Schule hatte zwei Lehrer, die mit uns kamen, und zwar Dr. Oppenheimer und Lehrer Hirschfeld. Beide waren von der jüdischen Schule Lützowstraße.82 Dr. Oppenheimer mag ein tüchtiger Pädagoge gewesen sein, aber das, was Lehrer Hirschfeld für seine Schüler war, ist über jedes Lob erhaben. Noch bevor die Schulen bestanden, ging er zu den Familien, wo schulpflichtige Kinder waren, in die Wohnräume und gab Privatunterricht. Er war stets von dem Gedanken beseelt, seine pädagogische Pflicht zu tun und den Kindern Unterricht zu geben.

Nachdem die Schulen bereits bestanden, wurde das Bedürfnis nach Gottesdienst immer aktueller. Im Falle, dass jemand Jahrzeit hatte oder sonst aus einem bestimmten Anlass ‚Minjan‘ sein musste, sorgte man sich um diese Männer innerhalb des Wohnblocks, was nie schwer war. Das aber allein sollte nicht genügen. Richtiger Gottesdienst sollte sein! Wieder war es Herr Leiser, der sich mit allen Ältestenräten beim Kommandanten dafür ins Zeug legte - mit Erfolg! Mit der Genehmigung begann ein förmliches Rennen um den geeigneten Platz. Später entstand dann die schönste Synagoge. Zwar darf von einer richtigen Synagoge oder einem Tempel nicht die Rede sein; nennen wir es einfach Betsäle. Jede Gruppe, die an einem Betsaal interessiert war, fand auch den passenden Raum.

Nachdem Herr Leiser aufgrund der Tatsache, dass er der Leiter des gesamten Ältestenrates war, nicht mehr Gruppenältester sein konnte, kam an seine Stelle Herr Behrendt, der Mann der Zahnärztin Behrendt aus Köln. Herr Behrendt war ein sehr korrekter Herr, der sich immer für jüdische Dinge einsetzte. Unterdessen hatten die Handwerker der Gruppe mit der Renovierung unseres Betsaales begonnen, und man darf hier sagen, dass richtige Künstler am Werke waren. [...]

Folgender Spruch zierte die Stirnwand unseres Betsaales: „LCHU BO-NIM SCHIMU LI, JIRAS ADA USCHEM ALAMEDCHEM“ [zu Deutsch: Kommt her, Kinder, hört mir zu, die Furcht des Herrn will ich euch lehren (Ps 34,12).]

Auch ein Toraschrank war da, ein Vorlesepult und alle Ritualien, die erforderlich waren. Eine Torarolle hatten wir von Köln mitgebracht, die später durch mehrere andere aus dem Lettenghetto ergänzt wurde. Nachdem der Betsaal fertig war, wurde er feierlich der Gruppe bei einer entsprechenden Feier übergeben.

Die Stützen unserer Gemeinde sollen auch genannt werden. Als geistiges Oberhaupt hatten wir Rabbiner Ungar, der in Köln an der Talmud-Thoraschule von Rabbiner Dr. Wolf am Hohenstaufenring, später in der St.-Apern-Str., eifrig studiert hatte.

Ich glaube, dass es nicht im Sinne des leider Verstorbenen ist, wenn ich ihm ein besonderes Gedenken widme. Worte können es nicht ausdrücken, wie sich Rabbiner Ungar für die heilige Sache einsetzte. Immer wieder verstand er es, durch seine Predigten und Gespräche uns die Schwere der Zeit vergessen zu machen. Stets war seine größte Hoffnung, dass er uns alle wieder in die Freiheit zurückführen werde. (...)

Einen offiziellen Vorstand gab es nicht; nur einzelne Personen, von denen wir wussten, daß sie sich für die große Sache besonders interessierten, wurden unsere Vorstände. Der Parnaß [Vorsteher] der Gemeinde hieß H. Bloch, ein älterer Herr, den ich vorher nicht kannte. Er war immer zur Stelle. Sein Vertreter war Berthold Simons, der Bruder von Rabbiner Dr. Julius Simons aus Köln-Deutz. Der Tradition gemäß war er dazu berufen, mit an erster Stelle zu stehen, wenn es sich um jüdische Dinge handelte. Als Kantor wirkte der frühere Oberkantor Schallamach von der Synagoge Roonstraße. Über die Qualitäten seiner Stimme brauche ich nichts zu sagen. Herr Schallamach hatte es sehr schwer, sich mit dem Ghettoleben abzufinden, und litt an dem schweren Los, das wir alle in Riga hatten. Bald war seine Stimme nicht wiederzuerkennen. Besonders muss ich die drei Gebrüder Schwarz hervorheben. Sie waren später erst nach Köln gekommen und stammten aus der Dürener Gegend. Karl Schwarz hatte eine herrliche Stimme und trug viel zur Verschönerung des Gottesdienstes bei. Zeitweilig hatte er auch schon in Köln vorgebetet. Die beiden älteren Brüder waren die Gelegenheitsvorbeter bei den Morgengottesdiensten, worüber ich später berichten werde. Sie zählten zu den besten Stützen unserer Ghettogemeinde.

Eine Person spielte innerhalb unserer Gemeinde im Ghetto eine besondere Rolle. Es war dies Juda Monek, der als Hilfsvorbeter und Gemeindediener amtierte. Monek war fast allen Kölner Juden bekannt aus seiner Zeit als Gärtner und Laborant im Jüdischen Asyl Köln-Ehrenfeld. Schon in Köln hatte er ein Buch verfasst, das sich auf den Meschiach bezog, worin er nachwies, dass der Meschiach seinen Antritt zur Befreiung der Juden von Köln-Ehrenfeld nähme. Über 20 Jahre hatte er an diesem Buch gearbeitet, und tatsächlich hatte er sogar ein Exemplar dieses Buches mit nach Riga gebracht. Genau wie in Köln sah man ihn täglich am Abend - mit seinem Buche unter dem Arm - durchs Ghetto laufen, um die nötige Propaganda zu machen. Selbst im Lettenghetto war er anzutreffen. Es dauerte nicht lange, so war er innerhalb des Ghettos nur noch unter dem Namen ‚Meschiach‘ bekannt. Nach seinen Angaben hatte er ein weiteres Exemplar dieses Buches in Köln vor der Deportation bei der Kölner Polizei deponiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich jemand finden wird, der sich bei der Polizei in Köln nach diesem Buch erkundigen wird, denn es stellt ein sehr interessant zusammengestelltes Werk dar. Monek war in jeder Beziehung der Freund und Helfer von Rabbiner Ungar und stand ihm an Eifer für unsere Sache wenig nach. Abschließend will ich dann den Stamm unserer Männer nicht vergessen, die immer zur Stelle waren, wenn es notwendig war.

Wenn auch der Kommandant seine Genehmigung zum Abhalten von Gottesdiensten gegeben hatte, so waren doch Bedingungen daran geknüpft. Die wesentlichste war, dass sich während der Arbeitszeit keine Menschen versammeln durften, weil dies als Sabotage angesehen wurde. Damit stand also von Anfang an fest, dass es unmöglich war, einen direkten Morgengottesdienst abzuhalten. Ein weiterer Faktor war, dass alle arbeitsfähigen Menschen zur Arbeit gehen mussten. Schon frühmorgens 3.30 Uhr begann der Ausmarsch aus dem Ghetto. Nur alte und arbeitsunfähige Männer und Frauen waren von der Außenarbeit befreit und mussten dafür Ghetto-Innendienst machen. So hatten sie die Straßen sauber zu halten, die Müllgruben zu leeren etc. Innenarbeit war nicht so schwer wie die Arbeit außerhalb des Ghettos. Trotzdem war jeder, ob Mann oder Frau, bestrebt herauszukommen. Die Gefahr war groß, und der Kommandant mit seinen Gehilfen war zu jeder Zeit da, wenn man ihn nicht erwartete.

Diese älteren Männer, die man zur Arbeit im Ghetto behielt, versuchten trotzdem, jeden Morgen ihr Minjan abzuhalten, was auch meistens gelang. Zehn Männer fanden sich immer ein.

Dieser Gottesdienst wurde von einem der Brüder Schwarz geleitet. Beim Abendgottesdienst war immer ein Minjan vorhanden, besonders im Sommer. Doch wenn es schon früh dunkel war, verließ man ungerne die Wohnung, denn man wollte nicht Gefahr laufen, dem Kommandanten zu begegnen. Im Falle einer Jahrzeit oder Trauerzeit hatte man schnell zehn Männer im Hause zusammen.

Rabbiner Ungar ging mit uns außerhalb des Ghettos zur Arbeit, aber am Samstag wurde er durch den Gruppenarbeitsleiter, dies war Berthold Simons, von der Arbeit befreit und musste schön zu Hause bleiben, bis einzelne Arbeitskolonnen nach Hause kamen. Freitags abends war der Betsaal immer überfüllt. Wegen der bekannten Melodien und der uns vertrauten Vorbeter vergaß man, dass man sich im Ghetto von Riga befand.

Der eigentliche Schabbes-Gottesdienst begann erst am Samstagnachmittag. Im Allgemeinen kamen samstags die Arbeitskolonnen schon gleich nach Mittag zurück, weil auf ihren Arbeitsplätzen die Arbeit gegen 1-2 Uhr beendet war. Wenn auch nicht Schachariß gebetet wurde, so wurde doch zu Mincha die Männerzahl zur Thora aufgerufen, wie es sonst nur zu Schachariß der Fall ist.“

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